Zum Liederabend am 27. April 1964 in München

    

     Süddeutsche  Zeitung, 29. April 1964     

    

Dietrich Fischer-Dieskaus Diskretion

Ein Richard-Strauss-Abend im Herkulessaal

     

Es war der kürzeste Liederabend, dessen ich mich erinnern kann. Obschon er mit der üblichen, wegen der störenden Nachzügler leider immer notwendigen Verzögerung begann, ging er schon einige Minuten nach neun zu Ende. Dann begann das Publikum, sich jene "Zugaben", jene populären, bekannten Strauss-Lieder zu erklatschen, die es während des regulären Programms fast völlig hatte entbehren müssen.

Nach wie vor ist Dietrich Fischer-Dieskau unbedrohter König im Reich der Lieder. Die an Perfektion reichende Vollkommenheit, mit der er zu charakterisieren und genau den Ausdrucks- oder Affekt-Ton zu treffen versteht, der ihm vorschwebt, verdient Bewunderung. Fischer-Dieskau weiß seine hohe künstlerische Gescheitheit doppelt fruchtbar zu machen: Er versteht die Lieder und die Nuancen mit heller rationaler Klarheit und er macht, weil Stimme und Technik ihm überallhin folgen, auch höchst verständlich. Bei einer solchen Gesangskunst kommt es gar nicht in erster Linie darauf an, ob der Sänger immer gleichmäßig bei Stimme ist. Wenn die Tiefe um eine Nuance schwächer klingt, wenn das melodische Blühen der Deklamation untergeordnet wird, dann leidet die Qualität der Interpretation kaum. Es ist nur möglich, daß man als Zuhörender ein wenig kühl bleibt, ohne recht zu wissen, warum.

Für seinen Strauss-Abend hatte sich Fischer-Dieskau wieder einer Tugend erinnert. die gefährdet schien, als er sich der Oper so leidenschaftlich zuneigte: der Diskretion. Der Künstler überließ in den ersten vier Liedern ("Gefunden", "Das Rosenband", "Einerlei", "Winterweihe") allen Jugendstilüberschwang dem Klavier und holte seinerseits das Element des Volkstonhaften, des Schlichten aus den Liedern heraus. Seine Zurückhaltung hatte manchmal etwas Hinreißendes. Wenn er etwa im "Rosenband" bei der Schlußstelle "und um uns ward's Elysium" das große Elysium-Melisma, im vorgeschriebenen Pianissimo ganz ohne jeden Drücker gestaltete und den abschließenden Mordent völlig ohne die Wagnerianische Inbrunst brachte, die sich bei dieser Lieblingsfigur aus Wagners Lohengrin-Zeit fast notwendig einstellt: dann kann dergleichen taktvoller nicht gesungen werden. Man spürte förmlich, daß Fischer-Dieskau lieber die Gefahr einer gewissen musikalischen Harmlosigkeit in Kauf nehmen als durch Aufdonnern und Brillieren Bedeutsamkeiten vortäuschen wollte.

Nach den ersten vier relativ schlichten, Liedern kamen dann sechs Nummern aus dem "Krämerspiegel" an die Reihe, in denen Strauss mittels harmlos-direkter, oft ärgerlich-alberner Texte von Alfred Kerr die Rechte des freien Künstlers gegen die Haifische aus den Musikverlagen geltend machte. Am auffallendsten sind die außerordentlich langen Musiknachspiele. In "0 Schröpferschwarm, o Händlerkreis" stehen beispielsweise 14 Gesangstakte mehr als 50 Klaviertakten gegenüber. Allerdings ist diese Nummer als Nachspiel gedacht, während Fischer-Dieskau sie an den Anfang seiner Zusammenstellung setzte, was eine noch größere Zerrissenheit mit sich brachte.

[...]

Nach der Pause sang der Künstler noch drei Goethelieder, dann schloß er mit einem halben Dutzend etwas bekannterer, übrigens fast durchweg früher Gesänge, bei denen das Deklamatorische oft über die Cantilene triumphierte. Günther Weissenborn demonstrierte, solange er zu begleiten hatte, musterhafte Zurückhaltung und Anpassungsfähigkeit. In den großen Vor- oder Nachspielen schien er anfangs noch ein wenig gehemmt und undeutlich. Doch je weiter der Abend voranschritt, desto mehr entfaltete er sich. Zum Schluß war er ein gleichwertiger Partner des großen Sängers.

Auch auf die Gefahr hin, ein Münchner Heiligtum zu verletzen, muß ich hier meinen Eindruck wiedergeben, daß ein reiner Richard-Strauss-Liederabend nicht nur die Genialität, sondern auch die Grenzen des Meisters erkennen läßt. Fischer-Dieskau hat nicht gemogelt, er hat mit hoher Kultur die Lieder referiert. Als er im "Traum durch die Dämmerung" die "schönste Frau" mit äußerster Leisheit erklingen ließ, da erreichte seine Stimme auch genau jene verliebte Belegtheit, die einst ein Heinrich Schlusnus in dem Augenblick hören ließ.

[...]

Mag eine Gruppe von vier, fünf Strauss-Gesängen einen gemischten Liederabend um Schwung, Ausdruck, männlich-verliebtes Hingerissensein und schöne Wendungen bereichern, ein Strauss-Abend, der überdies noch auf die berühmten Nummern verzichtet, wirkt trotz aller Freude am Detail doch erschreckend leer. So blieben denn auch, wenn mich mein Eindruck nicht täuschte, die Ovationen aus, mit denen Fischer-Dieskau sonst rechnen kann. Gewiß: begierig, den beliebtesten Sänger der Welt zu hören, erklatschte sich das Publikum Zugabe um Zugabe, aber es schien dabei weniger einen Strauss-, sondern einen Fischer-Dieskau-ErfoIg zu feiern. Nach den einzelnen Liedgruppen blieb der Beifall relativ gemäßigt. So kann man dem Künstler nur raten, zunächst in dieses Strauss-Programm noch einige große Lieder hineinzunehmen, und dann, wenn das Strauss-Jahr vorüber ist, auf reine Strauss-Abende zu verzichten.

Joachim Kaiser

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     Münchner Merkur, 28. April 1964     

   

Dietrich Fischer-Dieskau singt Strauss-Lieder

Ein Konzert zum hundertsten Geburtstag des Komponisten

    

Dietrich Fischer-Dieskau hat in den letzten fünfzehn Jahren einer musikalischen Welt wieder zum Bewußtsein gebracht, daß Lieder-Singen eine eigene, unverwechselbare und völlig selbständige Kunst ist, die mehr erfordert als das, was gemeinhin eine schöne Stimme genannt wird, auch mehr als Musikalität. Lieder-Singen ist ein Ausdruck des Charakters, seiner Unbedingtheit, Beständigkeit und Lauterkeit.

Wenn Fischer-Dieskau ein Liedprogramm zusammenstellt, so wird nicht nur er an dem Lied gemessen; auch das Lied, auch die Lieder, die er singt, müssen sich an dem Anspruch messen lassen, von ihm gesungen zu werden. Das birgt gerade bei einem so sich außerhalb des erprobten Repertoires bewegenden Künstler wie Fischer-Dieskau gewisse Gefährdungen für den Komponisten. Die vollendete Darstellung überdeckt zwar oft, gerade bei sehr artifiziellen Kompositionen, Unvollendetes der Konzeption; sie kann aber auch gerade durch ihre Klarheit kompositorische Schwächen aufdecken.

Nun ist es immer ein Wagnis, ein Konzert nur einem Komponisten zu widmen, ein Wagnis, das für den Komponisten weit größer ist als für den Interpreten. Fischer-Dieskau wird das gespürt haben, als er seinen Richard-Strauss-Liederabend zusammenstellte; mit einer Dauer von nicht ganz eineinhalb Stunden war das Konzert ganz ungewöhnlich kurz. Gleichwohl war es lang genug, um das Geheimnis der Straussschen Melodik, den instrumentalen Klavierstil und die – einzige – Beständigkeit Strauss’, die in seinem Drang zur Modulation liegt, ein wenig entschleiert zu sehen. Man möchte sagen: jedes einzelne Lied, das Strauss komponiert hat, ist ein großes, ein bewegendes Lied; hört man sie jedoch hintereinander, so drängt sich bei ihnen zu sehr der Blick in die Werkstatt auf.

Allerdings vermittelte Fischer-Dieskau auch einen beabsichtigten Blick in die Werkstatt von Strauss, indem er aus dem fast nie gehörten, doch gleichsam als Geheimtip berühmten "Krämerspiegel" sechs Lieder sang. Der "Krämerspiegel" ist die musikalische Antwort des Komponisten auf die Widerstände und Angriffe der Verleger gegen den GEMA-Gründer Strauss, eine Antwort, die die Verleger nicht eben gerne hörten (und Strauss und seinem Textdichter Alfred Kerr einige unangenehme juristische Auseinandersetzungen eintrugen).

Nun, nach fünfzig Jahren, hört man dergleichen vergnügt an, die neue Schelmenweis’ des Eulenspiegels Strauss, und ist entzückt, mit welcher Perfektion Fischer-Dieskau auf einen Schelmen einen anderen setzt. Aber: der Spaß ist letztlich nur recht kurz, denn alle Ironie, aller Angriffsgeist bleibt in den Texten Kerrs, die Musik selbst kann weder angreifen noch ironisch sein. Auch und gerade die Zitate sind es nicht, besonders dann nicht, wenn Strauss sich in diesen Liedern mit voller Absicht immer und beständig selbst zitiert. Nach einem Liederabend von der Dichte und Geschlossenheit, wie dies der Liederabend zum hundertsten Geburtstag Richard Strauss’ war, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß das Sich-selbst-zitieren bei Strauss auch dann vorherrschte, wenn es vom Text her nicht beabsichtigt war.

Fischer-Dieskau, dessen Wiederauftreten in München (Herkulessaal) man dankbar und voll Freude begrüßte, hatte seine Lied-Interpretationen noch durchdachter und überlegter gestaltet. Sein Blick und seine Stimme sind gleichsam nach innen gerichtet; er hört die Musik zunächst in sich und läßt dann den Hörer daran teilnehmen.

Günther Weißenborn war wie stets der Begleiter, der die dienende Rolle des Klaviers als zum Wesen des Lieds gehörend betrachtet.

Reinhold K. Peter


   

     Münchner Abendzeitung, 28. April 1964     

      

Strauss-Abend

   

Jedes Lied, das Dietrich Fischer-Dieskau singt, und sei es auch aus der sarkastischen Augenblickslaune eines Komponisten entstanden, und nur für einen kleinen, speziellen Kreis bestimmt, erhält durch ihn eine eminente künstlerische Wirkung. Wer anders als er könnte einen Strauss-Liederabend wagen, dessen Programm keines der bekannten Effektstücke, dafür aber eine Liedergruppe nach Texten von Alfred Kerr enthielt, die Strauss schonungslose Streitbarkeit gegen Musikverleger dokumentiert. Diese Chansons sind mit musikalischen Zitaten aus der Klassik und dem eigenen Schaffen reich gewürzt. Fischer-Dieskau vermied hier mit feinstem Takt alle Akzente der Anzüglichkeit und verlieh diesen Conzetti scharfe Geschliffenheit und nonchalante Distinktion. Vor einer Wiederholung dieses Experiments durch andere Sänger sei jedoch dringend gewarnt.

Drei Goethe-Lieder aus dem "West-Östlichen Divan" entsprachen durch die unerhörte Kraft der Deklamation der ersten Forderung im "Capriccio": Prima le parole, dopo la musica. Die einzigartige Kunst des Mezzavoce, das Sfumato der delikaten Portamenti machten Lieder wie "Die Nacht", "Heimkehr", "Freundliche Vision" oder "Morgen" zu impressionistischen Liedjuwelen. Den schlagendsten Beweis seines hohen Kunstverstandes und erlesenen Geschmacks gab Fischer-Dieskau mit der Wiedergabe des Lieds "Ach weh, mir unglückhaftem Mann". Hier pflegen fast alle Sänger den langen Bart des Barden Felix Dahn in lyrischer Unentwegtheit flattern zu lassen, wodurch dieses Lied eine unausstehliche Penetranz erhält. Nur Fischer-Dieskau versteht daraus eine, von leichter Melancholie umwölkte Szene zu gestalten.

An diesen Strauss-Liederabend im Herkules-Saal leuchtete des Sängers Kunst so hell, daß sie selbst manchem musikalischen Straßstein das Feuer echter Brillanten verlieh.

Mingotti

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