Zum Liederabend am 17. Juni 1964 in Wien

Kurier, Wien, 20. Juni 1964

Von Krämern und Menschen

Musikverein: Dietrich Fischer-Dieskau sang Richard Strauss

Es ist schon ein schönes Kunststück, einen ganzen Abend Strauss-Lieder zu singen, von denen nur zwei einige Popularität besitzen (der "Unglückhafte Mann" und "Die Nacht") – das heißt also, sämtlichen "Schlagern" aus dem Weg zu gehen.

Dietrich Fischer-Dieskau kann sich das erlauben und als der große Künstler, der er ist, gerade mit diesen unbekannten, kaum ans Licht geförderten Schätzen die Zuhörerschaft eines großen Saales in den Zustand völliger Verzauberung versetzen. Was das Strauss-Melos vom Menschen und dessen Seele, von denen Goethe, Klopstock, Arnim, Dehmel und die anderen Dichter Kunde geben, tönend erzählt, das wird von diesem Sänger in denkbar höchster Vollendung wiedergegeben.

Ein Kuriosum die sechs Lieder aus dem "Krämerspiegel": Von Alfred Kerr in Worte gefaßte Erinnerungen und Dokumente des Kampfes von Richard Strauss gegen die Musikverleger. Es wimmelt hier von Anspielungen und Zitaten aus allen Werken des Komponisten, die dem Wortsinn entsprechend variiert und verwandelt werden.

Köstlich war hier das Zusammenwirken von Fischer-Dieskau und Jörg Demus, dem Begleiter. Wie die beiden mit ihren Pointen jonglierten, einander förmlich die Bälle zuwarfen, dem zuzuhören war ein Hochgenuß.

Nach vier Zugaben konnte der Abend nur durch die Schließung des Klaviers beendet werden.

Rudolf Weishappel


Die Presse, Wien, 19. Juni 1964     

    

Verschollenes im Licht

Fischer-Dieskau sang Richard Strauss’ "Krämerspiegel"

    

Eine Richard-Strauss-Feier von der Gründlichkeit der eben in Wien stattfindenden muß naturgemäß stellenweise zum kulturgeschichtlichen Seminar werden und in verblaßte, verschollene Teile eines nicht zuletzt zahlenmäßig imposanten Gesamtoeuvres hineinleuchten. Dietrich Fischer-Dieskau unterzog sich bei seinem Konzertabend im Großen Musikvereinssaal dieser nicht durchwegs dankbaren Aufgabe in der vollen Meisterschaft seiner erlesenen Qualitätsstimme, seiner vorbildlichen Diktion und einer Vortragsmanier, die gleichzeitig von hoher künstlerischer Intelligenz wie von perfekter Geschmackssicherheit Zeugnis ablegt.

Die erste Programmhälfte vermittelte die Bekanntschaft mit der meines Wissens in Wien unbekannten Liederreihe "Der Krämerspiegel" nach Texten Alfred Kerrs, des führenden Berliner Literaturkritikers der wilhelminischen Ära, der in beißenden Worten die kommerziellen Winkelzüge der großen Musikverlage geißelt. Richard Strauss, von dem ein bekanntes Scherzwort kündete, er könne auch eine Speisekarte in Musik setzen, stattet diese Kapuzinerpredigt gegen allzu intensiven Geschäftssinn mit witzigen Anspielungen, satirischen Floskeln und flüchtig aufblitzenden, eigenen Werken entnommenen Zitaten aus. Die allbekannte Neigung des Komponisten zu autobiographischer Mitteilsamkeit, die im Großformat der "Feuersnot" und des "Intermezzos", der "Sinfonia domestica" und des "Heldenlebens" Gestaltung fand, wurde hier auf das Skizzenhafte tagebuchartiger Eintragungen reduziert. Aber unversehens, als hätte es der Komponist satt, seine Phantasie mit den Plackereien von Alltagskontroversen zu belasten, erklingt jene herrliche Melodie, die im "Capriccio" als symphonisches Zwischenspiel aufscheint.

Jörg Demus, der kongeniale Klavierbegleiter des Sängers, trug dieses Stück dermaßen ausdrucksvoll und überzeugend vor, daß man glaubte, es im vollen Orchesterglanz zu vernehmen.

Diese "Novität" wurde von zahlreichen weniger populären Liedern umrahmt, deren gesamtkunstwerkliche Wiedergabe durch die beiden Künstler keinen Augenblick des Leerlaufes aufkommen ließ.

Mi

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