Zur Oper am 30. Juli 1964 in Salzburg

Salzburger Nachrichten, 1. August 1964

Brief und Siegel für eine Hochzeit?

Ja und Nein zu: "Le Nozze di Figaro" als Reprise in der Fasson Sellner-Maazel

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Nach Heinz Wallberg, der 1962 für den todkranken Mozart-Dirigenten Ferenc Fricsay angetreten war, wurde im vorigen Sommer Lorin Maazel verpflichtet. Dieses junge musikalische Vollblut hat seit seinem ersten Salzburger "Figaro" mit den Wiener Philharmonikern, dem schon Interesse und Respekt gebührten, viel dazugewonnen. Kein Zweifel. In eine kurze Formel gebracht: Lorin Maazel dirigiert den "Figaro" heute mit derselben blitzwachen Bewußtheit, mit derselben Verve und Glätte, jedoch er überzieht nicht mehr eine Drahtpuppe – comme il faut – mit Musik, er überspannt nicht mehr; es ist kein solches Super-Pulsieren in der Agogik, wie man es hörte, sondern, siehe da, es fließt, es schwingt; man erlebt schon auf lange Strecken hin den natürlichen Aufbau mit einheitlichen Tempi und die weit vorausdenkenden Übergänge Mozartscher Prägung. So liefen wahrhaftig drei Akte gleichsam wie von selbst: der zweite, der dritte und der vierte. Schliff und Ausgewogenheit der Begleitung in Ensembles nicht minder als in den Arien. Das Finale III, mit dem Festmarsch, in schönen plastischen Steigerungen musiziert ... All dies löschte zuletzt wohl den Eindruck des ersten Aktes aus, der den Abend mit einer beunruhigenden Enttäuschung eingeleitet hatte. Denn hier, im Anfang, geriet alles zu schnell; schon die Ouvertüre, die nicht erlaubte, sich an den lachenden Fagottfiguren und an dem Rumoren der Streicherläufe zu erfreuen; die letzten Takte müssen Zeit dazu lassen, den Hut in die Luft zu werfen, sonst stimmt etwas nicht. Und dann das erste Duettino (Cinque, dieci...) verhetzt, so wie die meisten der folgenden Nummern (mit Ausnahme jener des Pagen und des Grafen), so daß es zu vielen Ungenauigkeiten kommen mußte, die den Mozart-Gesang, statt mit durchakzentuierter Phrasierung, mit Schärfen und allzu gehörnten Stakkati ausstattete. – Indes sei diesem ersten Akt in der Erinnerung Pardon gegeben, da ihn das Folgende eindeutig mit großem, sicherem Talent überbot. Lorin Maazel ist zur Höhe der Mozart-Interpretation unterwegs. Auch dafür Brief und Siegel? – Das kann niemand, außer der Strebende sich selbst verschaffen. Genie ist Fleiß, liest man bei Voltaire. "Eßt mehr Obst, das heißt, hört mehr Mozart, dann seid ihr gesund!", riet Erich Kleiber in seiner letzten Ansprache ganz schlicht den Musikern des Kölner Orchesters. So kann man’s auch sagen. Und es ist ein gutes Wort für die Jungen!

Die Besetzung der Reprise ist gegenüber dem Vorjahr nur unwesentlich verändert. Ihre große Stärke liegt nicht beim schwachen Geschlecht. Wenngleich Hilde Güdens Gräfin sehr stilvoll, mit aller musikalischen Kultur und diskreter Disposition ihrer Mittel sich in das Fluidum dieser wunderbaren Figur zu kleiden weiß, wenn neben ihr die reizvolle Susanna von Graziella Sciutti der hohen lyrischen Qualität ihrer Partie auch das Beste gab, ohne den unerfüllten Anspruch vergessen zu machen, die neu besetzte Marzelline Dorothea von Steins, eine in der Haltung zu preziöse Partnerin Doktor Bartolos, hat für ihr Charakterfach erst recht nicht so viel Plus mitgebracht, daß die Waage sich auf seiten der Damen senken könnte. Einzig die Hosenrolle des Pagen wird mit vollgültigem Format und darüber hinaus mit dem ganzen gelösten Temperament einer glücklichen Wahl dargestellt, das auch den Mut zur Komik entfaltet; sie verdient deshalb ein eigenes Podest, um mit Lob geschmückt zu werden – Evelyn Lear. Ein Cherubin von trefflichstem Zuschnitt, nicht in lauter rosa Süßigkeit bandagiert, vielmehr ein Minnesänger, der doch ein rechter Malefizkerl ist (garzon malnato nennt ihn der Graf mit dem Hirschfänger vor der Tür), ein Spieler und wahrer Don Juan steckt in diesem Pagen! Evelyn Lear spielt köstlich und sie singt die Partie mit raffiniertem Geschmack, den Wohlklang ihres Soprans geschmeidig artikulierend, so daß man immer neue Seiten daran zu entdecken meint, in der ersten jubelnden "kleinen Champagnerarie" des Frauenhelden, in der schmelzenden Kanzonette, in den fliegend leichten Rezitativen ... In dieser Leichtigkeit trifft sie sich mit dem Grafen auf einer Linie. Dietrich Fischer-Dieskau ist das Beispiel eines Almaviva: federnd, souverän, spielerisch und leidenschaftlich zugleich; ein Elegant mit Geist, der sich den Luxus verliebter Dummheiten leisten kann, weil sie dem Herrentum anstehn. Und dem Luxus ist ein musikalisches Element, ein Singen und Parlieren zu Gebot, wie es geistreicher, glänzender nicht gedacht werden kann. Immer noch schöner im Sinne der Wahrheit der Rolle, immer noch um eine letzte Feinheit richtiger: dies ist das Erlebnis der Interpretation seit im Mozart-Jahr 1956 Fischer-Dieskau mit seinem ersten Salzburger Almaviva eine ganze steife Ahnengalerie von gräflichen Schwerenötern hinwegbedeutet hat. Seither boten sich an seiner Form Facetten über Facetten, neu gewendet, dar. Die wir nun erblicken, scheinen dem Gestirn Mozart am nächsten. Sie sind reine, durchgängige Spiegelungen der Musik.

Geraint Evans’ Figaro hat Charakter und Kraft; von dem letzten mitunter zuviel, wenn er die gesangliche Deklamation im Schwung übertriebener Rubati (wie bei der Arie im 4. Akt) hintansetzt. Dennoch, im ganzen eine überzeugende, intelligent gezeichnete Figur und eine Leistung, die der festlichen Salzburger Mozart-Oper etwas von jenem Salz hinzufügt, das Salvador de Madariaga zur klassischen Würze seiner Rede gemacht hat. Wir möchten den Künstler hier nicht mehr missen. Ähnliches gilt für John van Kesteren als Basilio. Seine Gestaltung hat kreative Qualitäten, sein Mozart-Stil ist gepflegt.

Peter Lagger legte für unseren Geschmack die Sevilla-Arie des Doktor Bartolo zu dick an; ihre Buffonerie ist im Grund mehr aufgeblasen, also gespannt und nicht klobig. Eine gescheite, auch im Gesang fein geschulte Barbarina lernte man neu in Barbara Bardy kennen. Genau treffend wieder die Gärtnerfigur von S. R. Frese, der Don Curzio Martin Vantins; wohlgeartet die Brautjungfern der Margaret Nessel und Evelyn La Bruce; ein kleines Fest für sich der Fandango der Wiener Tänzer; eine Freude für Ohr und Auge der Chor.

"Hai già finta la causa?" – Der Figaro-Prozeß gewonnen? In der Summe – ja. Für fast alle Beteiligten. Um etlicher schwächerer Punkte in der Besetzung willen sollte man ihn übers Jahr wieder aufrollen. Mit höflicher Berufung gegen das schwache Geschlecht. Und mit neuer Chance für einen um ein Jahr älter gewordenen hochbegabten Mozart-Dirigenten – Evviva!

Max Kaindl-Hönig


    

     Die Presse, Wien, 1. August 1964     

    

Zum drittenmal im Repertoire

"Die Hochzeit des Figaro" unter Lorin Maazel

    

"Figaros Hochzeit" mit Lorin Maazel als musikalischem Leiter und in der Inszenierung von Gustav Rudolf Sellner steht nun zum drittenmal im Repertoire der Festspiele. Die Wiederholungen haben der reizenden Aufführung keinen Schaden zugefügt. Nichts wirkt abgespielt, nichts ist müde geworden, ja, Musik und Szene treten womöglich noch um etliche Grade intensiver und selbstsicherer auf. Auch die Besetzung verzeichnet in den Hauptpartien durchwegs hervorragende Kräfte. Gäbe es nicht die Bühnenbilder von Michael Raffaelli, die mit ihrem an und für sich sehr hübsch und amüsant bemalten Drahtgitterwerk just das Gegenteil von dem bieten, was eine Komödie verlangt, die sich auf reale und greifbare Theaterbehelfe stützt, die mit Versatzstücken, versperrten Türen, Kabinetten und verführerischen Gartenhäuschen operiert, gäbe es nicht diese offenbar notwendige Konzession an den Snobismus unserer Tage, das Gesamtbild der Aufführung wäre perfekt.

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Die Besetzung hat keine wesentliche Änderung erfahren. Da ist wieder Dietrich Fischer-Dieskau als Almaviva, kein Signor Contino, sondern ein Graf von kraftstrotzender Männlichkeit, der im Bewußtsein des Vollbesitzes seiner geistigen und sinnlichen Kunstmittel singt und agiert; neben ihm Hilde Güden, Contessa mit Leib und Seele, Noblesse ausstrahlend und Spenderin hoher, edler, kunstgemäß ausgefeilter Gesangskunst. Da ist Geraint Evans, der mit seiner Singbegabung und seinem Spieltalent die gerade richtige und feine Charaktermischung für einen Figaro findet, der gern ein wenig rebelliert, aber noch lieber mit seiner angeborenen Pfiffigkeit nach höfischem Brauch Intrigen spinnt. In voller Übereinstimmung mit ihm assistiert Graziella Sciutti als Susanna, eine charmante Komödiantin von girrender Vitalität, die in der Garten-Arie auch zu einer kostbaren und fein geführten Gesangskulmination gelangt. Persönlichkeit und Eigenart entfaltet Evelyn Lear als Cherubino, allerdings keinen naiven, sondern einen sehr kundigen und wissenden Amoroso darstellend. Sehr beherzt und effektvoll tritt Peter Lagger als Bartolo auf und stellt mit seinem kernigen Opernbaß und seiner entschiedenen Theaterbegabung die Figur in den Vordergrund. Eine profilierte Erscheinung ist auch John van Kesteren als Basilio, der in der servilen, den Rücken bückenden Intrigantenhaltung seine zweite Natur gefunden hat. Zur bewährten Garde gehört weiters Siegfried Rudolf Frese in der Episodenrolle des Gärtners. Tapfer singen die zwei Brautjungfern ihr Liedchen: Margaret Nessel und Evelyn La Bruce. Mehr im Dämmerlicht stehen Dorothea von Stein als Marzelline, Barbara Bardy als Barbarina und Martin Vantin als Don Curzio. Aber wo immer sie stehen oder sich bewegen, alles fügt sich so hübsch, so reizvoll ineinander, daß man sich auch durch das preziöse Gitterwerk des Bühnenbilds die Laune nicht verderben läßt.

Heinrich Kralik

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