Zum Konzertabend am 22. September 1964 in Berlin


    

     Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. September 1964     

    

Große Berliner Orchesterabende

Strawinsky, Menuhin und Fischer-Dieskau bei den Festwochen

[...]

Nach vielen Bedenken hat Igor Strawinsky die Absage seines Berliner Gastspiels schließlich zurückgenommen. Er kam, sah und siegte über ein festlich-erwartungsvolles Publikum, das von der ersten Parkettreihe, wo der Bundespräsident saß, bis in die hohen Sitzblöcke der immer wieder erregend schönen Philharmonie sich drängte. Wie ein Souverän wurde er stehend empfangen, erwiderte er am Schluß den Händedruck Lübkes und Willy Brandts, winkte und lächelte er zu Hörern und Mitwirkenden hinauf, sichtlich beflügelt vom Erfolg und von dem phänomenalen Spiel Nikita Magaloffs, der mit dem "Capriccio" unter seiner Leitung das Programm beschlossen hatte. Es brachte Werke aus drei Epochen: die bukolisch-russischen der Ersten-Weltkriegs-Zeit, "Renard" und "Noces"; das neoklassizistische Konzertstück am Ende; dazwischen als jüngste Arbeit die biblische Ballade "Abraham und Isaak", die nach der Uraufführung in Israel nun ihre europäische Premiere erlebte. Als Text dienen 19 Verse aus dem 22. Kapitel des ersten Buches Moses, die Erzählung von der fürchterlichen Glaubensprobe, der Jehova den Abraham unterwirft, indem er ihm das Blutopfer seines Sohnes befiehlt. Strawinsky verwendet den hebräischen Urtext, den er nicht übersetzt wünscht.

Zwölf Minuten Musik wachsen aus einer Zwölftonreihe, die alle melodischen und harmonischen Gestalten bestimmt. Die Singstimme, von Dietrich Fischer-Dieskau mit hoher Intensität gesungen, ist teils arienhaft, teils in einer Art begleiteten Sprechgesanges geführt. Bei aller Sprödheit wirkt sie elastischer und melodischer als die im "Canticum sacrum", weniger urtümlich-einfach als die in der "Flut". Auffallend ist der Wechsel von kleinen Intervallen und plötzlichen hohen und tiefen Sprüngen. Das mittelgroße Orchester wird fast ausschließlich in kammermusikalischen Kombinationen beschäftigt. Ein Bratschenvorspiel, ein Fagottsolo eröffnen den Satz, die Solobratsche spricht den Epilog. Bizarre Duette von Posaune und Baßtuba, hohen Holzbläsern und Blech heben sich heraus. Tiefe Farben gaben dem Stück ein vielfach brummendes Kolorit, eine schwere Bewegung. Dann wieder setzen tremolierende Streicher und hohe Holztöne dramatische Akzente. Strawinsky wehrt sich gegen den Versuch, in seiner Musik Schilderndes oder Symbole zu finden. Sein englischer Kommentar, dem das Programm eine skandalös falsche deutsche Übersetzung beifügt, hindert nicht, daß man das klar fünfteilig gegliederte Werkchen als dramatische Szene empfindet. Der Erfolg der Aufführung, die, wie auch die der "Noces", von Robert Craft geleitet wurde, war lebhaft. Die Festwochen hatten einen großen Tag.

H. H. Stuckenschmidt


   

     Die Welt, 24. September 1964     

   

Von archaischer Schönheit

Strawinskys biblische Ballade "Abraham und Isaak" erstaufgeführt

   

Als "Biblische Ballade" bezeichnet Igor Strawinsky sein bisher letztes Werk, die Kantate für Bariton und kleines Orchester "Abraham und Isaak". 1963 vollendet, wurde sie vor wenigen Wochen in Israel uraufgeführt. Jetzt, während der Berliner Festwochen, erklang sie erstmals in Europa.

Das Werk gehört zu den stärksten und glücklichsten Eingebungen des 82jährigen aus jüngster Zeit. Es übertrifft etwa die Chorkantate "à Sermon, à narrative, and à prayer" und selbst das Fernsehspiel "Die Sintflut" (dessen szenische Wiedergabe auf dem Repertoire der Hamburger Staatsoper steht) an Frische der Inspiration.

Darüber hinaus gewinnt diese Ballade in Aufbau und Gehalt große innere Geschlossenheit. Diese ist im besonderen das Ergebnis einer hohen Identität zwischen Wort und Ton, zwischen Sprache und Musik.

Mit ungewöhnlicher Intensität versenkt sich der Komponist in die Eigenart und archaisch-herbe Schönheit der hebräischen Sprache, deren Duktus, deren Rhythmus und Klangfarbe er ganz bewußt zu wesentlichen, genau fixierten Elementen seiner Musik erhebt.

Aufs nachhaltigste, ja, man muß schon sagen: mit einer immer wieder elementar durchbrechenden Leidenschaftlichkeit, die hinter den stärksten Werken der Frühzeit nicht zurücksteht, ist der alte Strawinsky aber auch gepackt von der Größe des alttestamentlichen Stoffes, der fast übermenschlichen Gottesfurcht und Glaubenskraft Abrahams, von der das II. Kapitel der Genesis berichtet.

Strawinsky findet dafür eine musikalische Sprache von fast dramatischer Erregtheit, aber auch von tiefer Verinnerlichung in der Führung der Singstimme, die im Geiste (aber wahrlich nicht etwa als Stilkopie) alter synagogaler Gesänge stilisiert ist. Sie umkreist meist rezitativisch kleine Intervallschritte, wird aber zuweilen auch arios ausgeweitet.

Ihr antwortet das ausgesparte, solistisch behandelte Kammerorchester mit charakteristischen, oft hochgradig "expressiven" Klangfiguren, die aus der in den ersten Takten disponierten, im weiteren Verlauf vielfach aufgespaltenen, immer wieder aufs neue schöpferisch variierten Zwölftonreihe gewonnen sind. Strawinsky ist immer noch der große Meister, der bei aller Konzentration und Konsequenz nie karg oder abstrakt wird, sondern überaus lebendig und phantasievoll mit dem selbstgewählten Tonmaterial schaltet.

Dietrich Fischer-Dieskau sang seinen Part mit einer Wärme und Intensität, einer Kraft der Vergeistigung in Stimme und Vortrag, die dem Werk stärkste Resonanz verlieh. Der unermeßliche Beifall in der ausverkauften Philharmonie, der neben den Solisten den Dirigenten Robert Craft und die Musiker des Philharmonischen Orchesters feierte, steigerte sich in Ovationen für den greisen Komponisten, der es sich nicht nehmen ließ, zu Beginn und am Schluß trotz körperlicher Behinderung geistig erstaunlich frisch seine reizende Burleske "Renard" und das elegant-hintergründige "Capriccio" für Klavier (Solist: Nikita Magaloff) zu dirigieren. Eine rhythmisch recht frische Konzertaufführung des Tanzwerks "Les Noces" (unter Mitwirkung von Chor und Solisten der Deutschen Oper) rundete den denkwürdigen Festwochenabend.

Heinz Joachim


   

     Der Tagesspiegel, Berlin, 24. September 1964     

    

Berlin feiert Strawinsky

Festkonzert in der Philharmonie

   

Wenn die Festlichkeit der Festwochen auf musikalischem Gebiet zuweilen gedämpft blieb: das Strawinsky-Konzert in der Philharmonie steigerte sie geradezu zur Explosion. Das war ein wirklicher Festabend, an dem das Rauschen des Beifalls dem Klang der Musik die Waage hielt. Beifall begrüßte den zweiundachtzigjährigen, am Stock das Podium betretenden Komponisten. Beifall begrüßte auch die nacheinander auftretenden Gruppen des Chores, des Orchesters, die Solisten und den Dirigenten Robert Craft. Beifall schwoll stürmisch auf nach der eminenten Leistung des Sängers Dietrich Fischer-Dieskau, Beifall klang nach, als der Bundespräsident Lübke und der Regierende Bürgermeister Brandt dem Gast durch Handschlag dankten, und er verebbte erst, als der Festwochenleiter Nicolas Nabocov dem Publikum mitteilte, daß Strawinsky, durch eine Thrombose behindert, weiteren Hervorrufen nicht Folge leisten könne. Der Kontakt zwischen Schaffenden und Aufnehmenden war in der philharmonischen Runde geschlossen; Berlin feierte einen großen, repräsentativen Abend der zeitgenössischen Musik.

[...]

Die Novität des Abends war die biblische Ballade "Abraham und Isaak", von Dietrich Fischer-Dieskau in hebräischer Sprache als deutsche Erstaufführung gesungen. Strawinsky hat den biblischen Bericht von der Opferung Isaaks als Solokantate komponiert. Die Gesangstimme des Baritons, vom Melos jüdischer Tempelgesänge inspiriert, ist das Band des musikalischen Ablaufs; ein kleines, klanglich differenziertes Orchester gibt den instrumentalen Untergrund. Der dodekaphonische Spätstil des Meisters scheint in diesem Werk gelockert zu sein. Kurze, präzisierte Formtypen folgen einander, die beginnenden Streicher lassen bald den Bläsern das Wort, der gewichtige Baß der Tuba wird zur festen, schweren Basis. Der Sänger dramatisierte seinen Part zu packender Ausdrucksfülle und gab dem ritualen Bericht einen fast dominierenden Beiklang menschlicher Leidenschaft.

[...]

Oe.


   

     Telegraf, Berlin, 24. September 1964     

   

Strawinsky-Ehrung

    

Ein bedeutender Abend innerhalb der Festwochen, ein Ereignis im Berliner Musikleben, eine Ehrung für einen der größten Musiker unserer Zeit, für eine Persönlichkeit, die das kompositorische Antlitz unseres Jahrhunderts entscheidend mitgeprägt hat und dessen Oeuvre längst dem Streit der Meinungen entzogen ist – das war das Strawinsky-Konzert im ausverkauften Rund der Philharmonie. Das Publikum war sich des Ungewöhnlichen dieser Stunden bewußt; es empfing den Meister stehend mit langen Ovationen. Bundespräsident Lübke und Berlins Regierender Bürgermeister Willy Brandt nahmen an dem Abend teil und reichten am Schluß dem großen Komponisten dankend die Hand.

An einer Thrombose erkrankt, mußte sich Igor Strawinsky mit Hilfe des Stockes zum Dirigentenpult begeben: dann aber brachte er eine Straffheit, Lebendigkeit und Bestimmtheit auf, die man von einem Zweiundachtzigjährigen kaum erwartet hätte.

Strawinsky leitete zur Eröffnung des Konzerts zunächst seine humorige Tiergeschichte "Renard" (Reineke Fuchs) für vier Männerstimmen und kleines Orchester, diese frühe Partitur, die schon seinen Willen zu sparsamer, durchsichtiger Gestaltung erkennen läßt. Er beschloß den Abend mit dem geistvoll schillernden Capriccio für Klavier und Orchester, in dem sein Landsmann Nikita Magaloff den pianistischen Part exzellent, bravourös und mit überlegener Eleganz meisterte. Strawinskys Helfer Robert Craft dirigierte die beiden anderen Werke des Programms, die russischen Tanzszenen "Les Noces" (Die Heirat) für vier Solisten, Chor und Orchester, in denen die instrumentale Ergänzung vier Flügeln und einer Schlagzeuggruppe zugewiesen ist, und – als europäische Erstaufführung – die 1960 geschriebene biblische Ballade "Abraham und Isaak".

Strawinsky hat dieses Werk, ein ganz für sich stehendes Erzeugnis seines Altersstils, dem israelischen Volke gewidmet als Dank für die Gastfreundschaft, die es ihm erwiesen hat. Die Eigenart der hebräischen Sprache, von der sich Strawinsky inspirieren ließ, ist so genau ins Musikalische übertragen, daß eine Übersetzung verfehlt wäre. Die Singstimme geht teilweise in ein intervallisch fixiertes Rezitieren über; die Instrumente stützen mit einem asketischen Klangbild; eine frei gehandhabte Zwölftonreihe bildet die Substanz, aus der die Partitur entwickelt wurde. Mit seiner hohen künstlerischen Intelligenz und seinen intuitiven Fähigkeiten bestand Dietrich Fischer-Dieskau auch vor dieser ungewöhnlichen Aufgabe; er hatte sich Sprache und Melodik so zu eigen gemacht, daß er sie in gewohnter souveräner Weise übermitteln konnte.

In "Renard" und den Hochzeitsszenen "Les Noces", in denen auch der von Walter Hagen-Groll einstudierte Chor der Deutschen Oper in Aktion trat, waren die Damen Türke und Wagner sowie die Herren Krebs, Wohlfarth, Rehfuß und Carmeli beteiligt. Die Philharmoniker taten, was in ihren Kräften stand, um dem Abend das ihm zukommende Gewicht zu geben.

K. R.


   

     BS, 25. September 1964     

   

Strawinsky dirigierte in Berlin

Ovationen für den 82jährigen Komponisten

[...]

Strawinsky, der "große alte Mann" der Neuen Musik, war zu den Festwochen nach Berlin gekommen, um in diesem, ausschließlich seinen Werken gewidmeten Konzert einen Teil selber zu dirigieren. Dieses Erlebnis hatte nicht nur den Saal bis auf den letzten Sitz vollwerden lassen – viele mußten unverrichteterdinge an der Kasse wieder umkehren -, sondern auch eine Spannung sondergleichen erzeugt.

Nun weiß man, daß Strawinsky nie ein Dirigent der schönen Gesten und Gebärden war, und das Alter hat seine Zeichensprache wohl auch noch mehr vereinfacht, rationalisiert. Aber jedes seiner Zeichen hat seinen Sinn und sicheren Sitz. Die ständige Präsenz im Geistigen wie im musikalischen Handwerk ist bewundernswert, die Kraft der Mitteilung faszinierend. Mochte diese Faszination im ersten Werk des Abends, der eigenartigen Burleske "Renard" für je zwei Tenor- und Baßsoli und Orchester – besser gesagt: ein größeres Ensemble von Instrumentalsolisten - vielleicht noch nicht so spürbar werden: im Capriccio für Klavier und Orchester am Schluß des Programmes übte sie ihre volle, mitreißende Wirkung aus. Überraschend war vielleicht, daß die Tempi gemessener, die rhythmischen Konturen runder waren, als man es von früheren Aufnahmen kennt, und daß Tempowechsel und Übergänge manchmal mit nonchalanter Unvermitteltheit gefordert wurden.

Für die beiden mittleren Werke des Abends trat Robert Craft, seit Jahren Strawinskys Vertrauter und gleichsam autorisierter Interpret von dessen Werken, an seine Stelle am Dirigentenpult. Auch Craft, dessen Dirigierweise derjenigen des Meisters ähnelt, ist ein mehr sachlich disponierender, im Sinne Strawinskys auf "Richtigkeit" bedachter, als emotional gestaltender Dirigent. Mit sicherer Hand und aus völliger Vertrautheit mit der Partitur führte er zunächst Solisten, Chor und Instrumentalisten (vier Klaviere und eine reich besetzte Schlagzeuggruppe) durch die russischen Tanzszenen "Les Noces", wobei kleine rhythmische Unebenheiten nicht immer ganz vermieden waren. Als ein Werk höchster Eigenart präsentierte er dann in europäischer Erstaufführung eine der jüngsten Schöpfungen Strawinskys, die 1960 in hebräischer Sprache komponierte biblische Ballade "Abraham und Isaak" für Bariton und Orchester. Wie in den meisten Werken der letzten zehn, zwölf Jahre, verwendet der Komponist auch hier Elemente der dodekaphonischen und seriellen Kompositionsweise. Er gebraucht sie indessen ganz undogmatisch und legitimiert sie durch das, wodurch sich allein jede künstlerische Technik legitimiert: durch die Intensität und Kraft der künstlerischen Aussage sowie durch die Redlichkeit gegenüber der gesetzten Ordnung.

Für dieses Werk würde man das meiste von dem, was einem sonst an Zwölftönigem und Seriellem von den Anbetern des Dogmas angeboten wird, gern hingeben. Strukturell wird es gekennzeichnet durch den Wechsel von syllabischer Deklamation und weitgespannten, hier und da an geistliche Jubilationen erinnernden Melodiebögen im Vokalen, durch den kammermusikalisch raffiniert ausgesparten Orchestersatz im Instrumentalen. Dietrich Fischer-Dieskau war dem auf Hebräisch gesungenen Opus ein berufener Gestalter mit großartiger Kraft und Schönheit der Stimme und bezwingender Variabilität des Ausdrucks. Daß auch sonst ausgezeichnete künstlerische Kräfte eingesetzt waren, versteht sich bei der Bedeutung der Berliner Festwochen und im besonderen dieses Abends nahezu von selbst. Aber das war in diesem Falle vielleicht gar nicht einmal so ausschlaggebend. Das eigentliche Ereignis und Erlebnis war doch die Begegnung – eine ergreifende Begegnung – mit Igor Strawinsky, mit einem Mann also, der durch sein Wirken und auf seine Weise die Welt bewegt hat. Mag es auch zuweilen scheinen, als würde das Gesicht der Zeit nur von politischen, wirtschaftlichen und ähnlichen Geschehnissen geprägt – ohne die Hervorbringungen des Geistes in seinen verschiedenen Manifestationen ist es nicht zu denken. Zumindest wäre es ohne diese ein armseliges Gesicht. Das zu einem erheblichen Teil aus jugendlichen Besuchern bestehende Publikum brachte am Schluß Strawinsky endlose Ovationen dar. Bundespräsident Lübke und Berlins Regierender Bürgermeister Brandt begrüßten durch herzlichen Händedruck den Meister, der trotz aller Mühsal beim Gehen mehrere Male noch auf das Podium kam, um sichtlich bewegt zu danken.

Willi Wöhler


   

     Süddeutsche Zeitung, 24. September  1964     

    

Fürst Igor besucht Berlin

Strawinskijs "Abraham und Isaac" in Berlin erstaufgeführt

[...]

Diese Musik der biblischen Ballade ist Fleisch, ist durchblutet. Sie hat, vor allem in der Führung der Singstimme, eine Ausdruckskraft, der man sich nicht zu entziehen vermag. Zehn Minuten lang lauschte man fast atemlos, dem psalmodierenden Gesang. Und wie Dietrich Fischer-Dieskau die fremde, fast unverständliche Sprache aussang, wie er Abraham mit dem Engel singen ließ, das gehört zu den großen Unbegreiflichkeiten. Die Intelligenz wie Intensität, mit der dieser einzigartige Sänger den hebräischen Text durchdrang, sucht ihresgleichen.

[...]

Walter Panofsky

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