Zum Konzert am 11. und 12. November 1964 in Frankfurt

Die Welt, 17. November 1964

Tiefster Ton aller Oktaven

K. A. Hartmanns "Gesangsszene" aus dem Nachlaß uraufgeführt

Das Wasser der Sintflut – das sind die letzten Worte, die Karl Amadeus Hartmann für seine "Gesangsszene" komponierte. Ihnen folgen, in einem überwältigenden Crescendo auf dem Grundton "C", harmonisch kühn geschichtete, sich mehrfach wiederholende Akkorde. Auf dem beklemmenden Höhepunkt brechen sie ab. Sie sind die letzten Noten, die Karl Amadeus Hartmann geschrieben hat. Ein paar Worte wollte er noch vertonen, Worte vom Donner des Unerbittlichen, von den Tränen des Weltunterganges. Da der Tod ihm die Feder aus der Hand nahm, werden diese Sätze vom Sänger nur gesprochen.

Dieser Ausweg ist keine Notlösung, da Hartmann den Schluß ohnedies dem Wort überlassen wollte, aus Sorge, hier könnten Melodramatik oder Sentimentalität aufkommen. Das Stück endet, wie geplant, mit den musiklosen Worten: "Es ist ein Ende der Welt! Das Traurigste von allen!" Hartmann hatte den Text dem Gespräch zwischen dem Erzengel und dem Gärtner aus dem Vorspiel zu Giraudoux’ "Sodom und Gomorrha" entnommen und einige Stellen aus der zweiten Szene hineingeholt.

So, wie das fast 25minütige Stück vor uns steht, können wir es nicht als Torso betrachten: es wirkt in sich geschlossen wie kaum ein anderes von Hartmann – ja, gerade so, wie es hinterlassen ist, dünkt es uns die eindringlichste, erschütterndste Arbeit dieses Musikers überhaupt.

Das ganze Leid dieser Welt scheint sich hier aussingen zu wollen, ein vom "tiefsten Ton aller Oktaven" – dem des Todes – bestimmter Schmerz. Ihn suchte Hartmann durch sein ganzes Lebenswerk hindurch zu gestalten, von der frühen "Musik der Trauer" über die Oper "Simplicius Simplicissimus" bis zu dieser "Gesangsszene" hin, die er im Auftrag des Hessischen Rundfunks schrieb und an der er bereits drei Jahre gearbeitet hatte.

Ein langes Flötensolo leitet das Werk mit einer weitschwingenden Melodie ein. Ihre Chromatik deutet sogleich die Passion an, die von einer Ergebung in das Schicksal zu zeugen scheint. Diese Flötenstelle wird am Ende wiederaufgegriffen, nachdem unverkennbar Hartmannsche Entladungen eines kompakten Orchestersatzes auf den Hörer einstürzten, mit peinigenden Klängen eines vielseitig besetzten Schlagzeugs und beklemmenden Ballungen von Blechbläser-Akkorden. Die bohrende Kraft eines oft gleichbleibenden rhythmischen Gerüstes von Achtelwerten vereint sich mit der Wucht der Dissonanzhäufung. Auf kurze Strecken sind praktisch alle zwölf Töne der Skala immer wieder fast gleichzeitig verwendet. Die Vokalstimme zeigt deutlich Züge der Diktion Bergs.

Selten ist eine apokalyptische Vision so knapp und so packend musikalische Wirklichkeit geworden wie hier. Die schier übermenschliche Aufgabe, den Baritonpart zu singen, löste Dietrich Fischer-Dieskau, für den das Werk komponiert wurde, faszinierend. Er kam noch gegen die – allerdings oft unnötig forcierten – drei- bis vierfachen "forte"-Grade an. Die Ausdruckskraft seiner Stimme bannte. Aber fast noch stärker fesselten die gesprochenen Schlußsätze. Kein Schauspieler hätte sie so sinnvoll und genau sprechen können wie dieser Sänger, frei von Pathos, hart und heftig, aber nicht kalt, nicht nur sachlich. Es wird sehr schwer sein, ihm das so stichhaltig nachzumachen.

Dean Dixon dirigierte konzentriert und energisch das ausgezeichnet spielende Sinfonie-Orchester des Hessischen Rundfunks. Die Hörer waren spürbar stark angesprochen. In Münchens "Musica Viva" soll das Stück demnächst wiederholt werden. Es verdient weiteste Verbreitung.

W.-E. v. Lewinski


     Frankfurter Neue Presse, 16. November 1964     

"Es ist ein Ende der Welt"

Karl Amadeus Hartmanns letztes Werk im Rundfunk-Symphoniekonzert

    

Das jüngste Symphoniekonzert des Hessischen Rundfunks wurde mit Bachs "Brandenburgischem Konzert No. 3" eröffnet. [...]

Im Mittelpunkt des Konzertes stand Karl Amadeus Hartmanns letztes Werk, das im Auftrag des Hessischen Rundfunks entstanden ist. Am 5. Dezember 1963 starb Hartmann, einer der profilierten deutschen Komponisten, der vor allem berufen war, das Erbe der großen Symphonik, die Tradition Bruckners, Mahlers, fortzusetzen. So hinterließ der Verstorbene sein Hauptwerk von acht Symphonien, deren Grundzug vor allem expressives Pathos charakterisiert.

Das füllige Orchester war Hartmanns Domäne und er meisterte es von Werk zu Werk, machte es seinem so urtümlichen bajuwarischen Temperament fügsam, das zwischen Jauchzen und Betrübtsein, einen eigentümlichen Expressionismus hervorbrachte. Hartmanns Abschiedsgesang von dieser Welt also, der er sich so verbunden fühlte. Und es ist tatsächlich ein bedrückender Endgesang auf diese Welt und die mahnenden Zeichen. Ein apokalyptisches Lied, mit alttestamentarischer Prophetie und Kraft singt Hartmann es seiner Mitwelt: "Es ist ein Ende der Welt, das traurigste von allen", heißt es da am todtraurigen Schluß. Auf Jean Giraudoux’ Untergangstext aus "Sodom und Gomorrha" schrieb der Komponist seine musikalische Vision für Bariton und Orchester. Eine expansive, dramatische Gesangsszene, die das müdresignierende Wort des Dichters Giraudoux durch hochenergetische Tonverspannungen nochmals explosiv auflädt, das Wort wie durch Flammen verzehrt.

Es beginnt mit einem Flötensolo, einsam, unheilschwer beantwortet von schrillem Blech; Holzbläser, zarte Streicher, sinfonische Dukten, irisierendes Klanggewebe, brutale Klangblöcke, dunkle Regionen der Instrumente; Kammermusikalisches zwischendurch; Leuchtklänge, Rhythmisches, drohende Massierung des Orchesters. – Und dann hebt der Bariton an: "Das ist der schönste Spielbeginn, den die Zuschauer je erlebt haben, der Vorhang hebt sich..."

Erzählendes, theatralische Deklamation, Ankündigung, prophetisch Psalmodisches, Dramatisches vom Untergang der Reiche auf ihren Höhepunkten. Frei sich entfaltender Gesang von gespenstischer Deklamation und brockigen Orchestereinwürfen. Weite Gesangslinien, Rezitativisches im freien Zeitmaß, Parlandi, Arioses, Konvulsivik des Orchesters. Ein Orkan der Instrumente bricht zusammen, läßt die Soloflöte des Anbeginns wieder allein in ihrem seismographischen Filigran, sie entflieht in den ewigen Äther, den tiefsten Ton aller Oktaven, den Ton des Todes auf dieser Welt zurücklassend:

"Es ist ein Ende der Welt, das traurigste von allen!"

Nach einem grandiosen Aussingen einer menschlichen Stimme – ins Schweigen der Musik dies unpathetisch ausgesprochene Schlußwort, die sieben mit Tönen unversehenen Textzeilen der Dichtung (Hartmann konnte sie nicht mehr komponieren) – als solle es so sein.

Des Komponisten Botschaft-Schwanengesang -, gleichviel: hier sang einer sich aus und hier liegt ein deutlich schöpferisches Versprechen auf ein großes dramatisches Werk, eine Oper, vor. Aber der Tod beendete solch trächtige Zukunft.

Fischer-Dieskau war dem Werk der vollendete Anwalt, ob im Rezitativ, Parlando oder dem ausladenden Gesang: er gab die Erschütterung eindringlich, überwältigte im Verein mit dem ausdrucksstark spielenden Orchester unter Dean Dixon, der sich in das Werk mit überzeugender Intensität vertiefte.

[...]

PAIAN



Süddeutsche Zeitung November 1964


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