Zum Liederabend am 15. März 1965 in Wien

Die Presse, Wien, 17. März 1965

Liederabend Fischer-Dieskau

Das Publikum applaudierte zwar – doch in der Pause war es vom eben Gehörten nicht eben angetan, und im zweiten Teil blieben doch tatsächlich einige Sitze frei: Dietrich Fischer-Dieskau, der gefeiertste Liedsänger unserer Tage, versuchte zum erstenmal, auch in Wien seine Persönlichkeit in den Dienst der zeitgenössischen Musik zu stellen. Er sang Lieder von Fortner, Blacher und Reimann im ersten und Gesänge von Alban Berg und Ferruccio Busoni im zweiten Teil seines Abends im Großen Kozerthaussaal.

Ernst und klar vertont Fortner Hölderlin, grammatisch interpretiert Blacher drei Psalmen (142, 141, 121 – der letztere geweiht durch Franz Schuberts Chorfassung), gekonnt – aber leider nicht mehr – interessiert sich Aribert Reimann für fünf Gedichte von Paul Celan. Wahre Meisterschaft spricht dagegen aus den vier Liedern op. 2 von Alban Berg, die am Anfang eines Weges in die Unsterblichkeit stehen – und liebenswert sind, weil sie auch noch der diesseitigen Welt verpflichtet scheinen. Ferruccio Busoni schließlich, seine Phantastik, seine bis heute kaum richtig gewürdigte, verkauzte Weltweisheit, korrespondieren trefflich zu Goethe – mit vier seiner Goethe-Lieder schloß das Programm.

Die oft gerühmten Eigenschaften, aber auch die mitunter nicht zu verheimlichende Vorliebe für beinahe maschinelles, von augenblicklichen Regungen freies Singen Fischer-Dieskaus standen an diesem Abend an einer der wichtigsten Fronten: nur einem Künstler vom Ansehen und Format Fischer-Dieskaus gelingt es, das Publikum anzulocken und wenigstens teilweise zu überzeugen, wenn es sich um Neueres als Hugo Wolf handelt.

F. E.

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