Zum Konzert am 11. Januar 1966 in Berlin


Der Tagesspiegel, 13. Januar 1966

Barocke Kantaten

Agnes Giebel und Dietrich Fischer-Dieskau

Der volkstümliche Bach, der esoterische Händel – eine Umkehrung vertrauter Charakteristika ergab sich im Programm eines Kantaten-Abends in der Musikhochschule. Zur Huldigung des Kammerherrn Carl Heinrich von Dieskau in Kleinzschocher bei Leipzig schrieb Johann Sebastian Bach 1742 seine Bauernkantate "Mer hahn en neue Oberkeet". Eine ziemlich derbe, rustikale Angelegenheit ist der Text Henricis, das Zwiegespräch zwischen einem jungen Mann und einem Mädchen über den neuen Kammerherrn (einen Vorfahren Dietrich Fischer-Dieskaus), eine Tanzbodengeschichte schon die einleitende Sinfonia mit ihrer Suite von Volksliedern. Der Mut zur Übertreibung, den Dietrich Fischer-Dieskau als Interpret der Baßpartie zeigte, ist hier am Platz. In den Anfangs- und Schlußduetten markierte er einen gleichsam instrumentalen Generalbaß wie von gerissenen Saiten. Die Sopranistin Agnes Giebel, der humoristische Talente wohl abgehen, reihte wunderschöne Töne. Der Dirigent Günther Weißenborn ließ das aus Philharmonikern und einigen Gästen bestehende Kammerorchester spielen.

Solches Spielenlassen mag in der einfacheren Bach-Komposition hingehen. Händels kunstvolle italienische Kantate "Apollo e Dafne" aber verlangt musikalische Partnerschaft der Sänger und Instrumentalisten, fordert einen elastischen und kraftvollen Generalbaß, ein Kammerorchester mit Elan; Barockmusik bedeutet Konzertieren. Dieser Aufgabe zeigten sich Dirigent und Spieler nicht ganz gewachsen.

Eine Art Opernszene um den nach einem Sieg den Liebesgott Amor herausfordernden und ihm schließlich unterliegenden Apoll ist das Stück, mit den Mitteln des dramatischen Rezitativs und der virtuosen, koloraturenreichen Da-capo-Arie mit obligaten Soloinstrumenten gearbeitet, mit wirkungsvollen Tempowechseln, schmeichelnden Flötentönen und eilenden Violinpassagen ausgestattet. Die Aggressivität des werbenden Apolls und die Siziliano-Ruhe der umworbenen Daphne, ihr Streit und die bleibende Trauer finden bei den Sängern wohlklingenden Ausdruck. Agnes Giebels Gesangskunst war der Fischer-Dieskaus ebenbürtig. Als Interpret ganz in der Rolle des Apoll zu leben und aufzugehen und dennoch aus genauester Kenntnis der Aufführungspraxis barocker Musik jede unangebrachte Naturalisierung zu meiden, war die überragende Leistung Dietrich Fischer-Dieskaus, die Intuition und Verstand in glücklichster Verbindung bewirkten.

S. M.


Telegraf, Berlin, 13. Januar 1966     

  

Humoriger Bach, empfindsamer Händel

   

Abende mit Dietrich Fischer-Dieskau, die der Barockmusik gewidmet sind, bilden eine schöne Tradition im Berliner Musikleben. Diesmal hatte er sich mit der Sopranistin Agnes Giebel zusammengetan, um zwei Raritäten aus dem Schaffen Bachs und Händels zu musizieren. Der erste Teil gehörte Bachs humoriger Bauernkantate. Sie wurde zu Ehren einer neuen "Oberkeet" geschaffen, eines Kammerherrn von Dieskau in Klein-Zschocher, der übrigens zu den Vorfahren des Sängers gehört.

Das zweite Werk, die in italienischer Sprache gehaltene Händel-Kantate "Apollo e Dafne", gestaltet in empfindsamen Rezitativen und Arien den bekannten mythologischen Stoff aus, das vergebliche Werben Apollos um die schöne Nymphe und ihre Verwandlung in einen Lorbeerbaum. Fischer-Dieskau kostete die Pointen in dem Werk Bachs launig aus und fand für die Charakterisierung Apollos vielfältige Ansätze. Ebenso sicher und wandlungsfähig nahm Agnes Giebel mit leuchtender Stimme ihre gegensätzlichen Rollen wahr. Günter Weißenborn, sonst am Flügel wirkend, leitete ein Kammerorchester, dessen Qualität durch die Beteiligung prominenter Philharmoniker garantiert war.

K. R.

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