Zur Oper am 14. März 1966 in Wien


Oper und Konzert , München, April 1966

Staatsoper Wien

Falstaff

Premiere

"Tutti gabbati": bei der an der Opernrampe ad spectatores gesungenen Finalfuge weisen die Sänger auf das illustre Publikum. Verdis Altersweisheit blitzt in neuer Ironie: wenn dieser glückgesegnete Abend einen nicht "foppte", dann das Publikum, Wiens neuer "Falstaff" ist das Ereignis der Saison, für Stunden strahlt das Haus am Ring wieder den monarchischen Glanz der Ära Karajan aus.

Ein neuer Hexenmeister steht am Pult, auf dem dunkelrote Rosen statt einer Partitur liegen: Leonard Bernstein. Er interpretiert Verdis heiteres Testament mit einer schier unglaublichen Rasanz, ohne zu hetzen - seine brillanten Tempi erwachsen aus innerer Spannung, aus Leidenschaft und Temperament, nicht aus künstlich aufgeputschtem Brio. Mit der weit verbreiteten Meinung, diese weise Partitur sei nur ein in witzigem piano dahinhuschendes Alterswerk (Thomas Mann sprach einmal von "Greisen-Avantgardismus"), räumte das amerikanische Taktstockgenie gründlich auf. Wohl dreht ein über den Dingen Stehender mit dem Fugen-Septimesprung ("Tutto nel mondo è burla") der Welt eine Nase; aber er ist noch immer der Bauer von Roncole. Die extremen, oft taktweise wechselnden Lautstärkebezeichnungen vom ff zum ppp beachtet Bernstein unerbittlich genau und die phänomenalen Wiener Philharmoniker - sie sind trotz aller Krisen noch immer das beste Opernorchester der Welt - setzen sie in Klang um; von einem fortissimo-Akzent kommen sie sofort wieder in kammermusikalisch subtile Feinheit. In dieser Kontraste voll ausmusizierenden Gestaltung lachen in vivacissimo die Geister, die orchestralen Aphorismen leuchten, das secco des Buffastils sprüht, aber die Geigen "singen" auch amabile, den Menuett-Gruß an Mozart, die keusche Süße der Nanetta-Fenton-Gesänge. Das Publikum feierte Bernstein als einen der Großen der Zeit - und er feierte seine achtzig Virtuosen, vor denen er sich tief verbeugte, denen er mehr als einmal Kußhändchen zuwarf.

Der orchestralen Galavorstellung entsprach (mit zwei Einschränkungen: Juan Oncinas Fenton ermangelte der leichten piano-Höhe, Grazielle Sciuttis Nanetta war mehr lyrischer Schmelz zu wünschen) die Sängerelite. Voran Dietrich Fischer-Dieskau in farbensatter Daseinsfülle, der phantasievolle Fürst der Schelmen, liebenswert auch in seiner souverän amoralischen Lebenshaltung. Die Anmut des Geistes ist im immensen Speck nicht verkümmert, die Grazie des einstigen Pagen des Herzogs von Norfolk lebt in der Grandezza des Rohkost verschmähenden Ritters fort. Jede Nuance dieser Gestalt, jedes tönende Epigramm - die Partitur scheint oft wie im Stenogramm komponiert, die "Wendung" ersetzt den "Satz" - findet die gemäße gesangliche, gestische und mimische Darstellung. Sein flexibler Bariton schwelgt in merkurischer Verschmitztheit, behandelt geistvoll das rezitativische Parlando. Rolando Panerai gibt Ford als bürgerlichen Othello, imponiert durch den vehementen Einsatz seiner noblen warm timbrierten Stimme. Die Damen Ilva Ligabue (Alice), Regina Resnik (Mrs. Quickly) und Hilde Rössel-Majdan (Meg) lassen dank ihres attraktiven Äußeren, ihres Belcanto und der stupenden Meisterung der Ensembles Fallstaffs Werben begreiflich erscheinen. Zwei köstliche Galgenstricke stellt das verlotterte Dienerpaar Bardolf (Murray Dickie) und Pistol (Erich Kunz) auf die Bühne. Mächtig preisen sie zu gestochen klar schmetternden Blechtriolen den "Immenso". Gerhard Stolze fügt seinen Charakterrollen den verbittert krähenden erfolglosen Liebhaber Dr. Cajus hinzu.

Luchino Visconti inszenierte klar, einfach, diskret, nicht so gagreich wie sein Schüler Franco Zeffirelli, der das Werk (ebenfalls mit Bernstein) in der Met zur New Yorker Weltausstellung 1964 herausgebracht hat. Wie es schon Verdi-Boito gelang, die Typenfiguren der romanischen Buffa (etwa den getäuschten Ehemann, den lüsternen alten Mann, die kluge Frau, den linkischen Liebhaber) mit den individuell ausgeprägten Charakteren aus des Stratforders Kosmos zu verschmelzen, so vereinte auch Visconti Shakespeare und Verdi. Alle Figuren sind präzise gezeichnet, eine typische Eigenschaft zur Verdeutlichung unterstrichen. Sehr komisch etwa die Reaktion der beiden Spitzbuben bei Falstaffs hintergründigem Privatissimum über die Ehre - grundsätzlich geben sie die falsche Antwort, da sie den unermeßlichen Horizont ihres Herrn nicht einmal ahnen.

Visconti wollte, auch im Arrangement der Ensembles, der Oper dienen; so mißriet das Finale. Nach einer an filmische Überblendung gemahnenden Verwandlung - zauberhaft wie die nächtlichen Hornrufe - wurde im Park ein lahmer Schabernack mit Sir John getrieben; der Chor stand statuarisch wie eine königliche Garde herum. Die Fuge ließ Visconti nicht als burleske Apotheose spielen, übertrug sie nicht ins Optische, wie es Rennert in Stuttgart so einzigartig gelang. "Konzertant" gesungen wirkte sie wie ein Anhängsel, was sie durchaus nicht sein muß. Auch Viscontis bühnenbildnerische Phantasie - er zeichnet mit Ferdinando Scarfiotti für Szenerie und Kostüme verantwortlich - ließ im letzten Bild nach. Schon die erleuchtete Häuserzeile, die den allzu lichten Park begrenzte, beeinträchtigte die "Sommernachtstraum"-Stimmung. Gott Pan wohnt weiter als eine Steinwurfweite von den Menschen. Bei den übrigen fünf Bildern stand Vermeer Pate; aber über eine etwas konventionell geschmackvolle Postkartenserie "Windsor zur Zeit Heinrich IV." kamen sie kaum hinaus.

Das Publikum brachte Leonard Bernstein, der sich wie ein großer Junge freute und in seinem Glück alle Mitwirkenden umarmte, halbstündige Ovationen dar. An diesem Abend - und bei den vier ausverkauften Reprisen - darf sich Wien wieder einmal der "besten Oper von der Welt" rühmen.

Dr. Klaus Adam


   

     Die Presse, Wien, 16. März 1966     

    

"Alles ist Spaß auf Erden"

Verdis "Falstaff", geleitet von Bernstein und Visconti in der Staatsoper

   

Leonard Bernstein und Luchino Visconti interpretierten Giuseppe Verdis "Falstaff", dieses einmalige Ergebnis eines Greisen-Avantgardismus – so die Definition Thomas Manns. Höchster Sorgsamkeit bedürftig, erhebt es sich weit über die anderen Hervorbringungen seines Genres, aber auch über die meisten anderen Werke seines Autors. Es markiert kaum das Ende einer Epoche und initiiert keineswegs eine neue Periode des musikalischen Theaters, es steht einfach auf einsamer Höhe. Ein Meisterwerk.

Die Erfahrungen eines klug gelebten Lebens und die olympische Heiterkeit eines Italieners, der Sinn für Formen und Maß und Ziel hatte, spricht ebenso aus ihm wie der selbstverständliche Theatergriff, die Pranke sagt man da wohl, des Komponisten eines "Rigoletto" oder einer "Aida". So aufrichtig der vielzitierte Satz Verdis klingt, er hätte bei "Falstaff" weder an Theater noch an die Sänger gedacht, sondern einfach zu seinem Vergnügen komponiert, so selbstverständlich bleibt auch, daß er deshalb auf keine einzige theatralische Pointe verzichtete...

Und obgleich "Falstaff" bis in unsere Tage an Popularität weit hinter Otto Nicolais "Lustigen Weibern von Windsor" zurückbleibt, darf die Kenntnis und das Verständnis dieses Werkes angenommen werden. Wo sie während der allzulangen Wiener Opernzeit ohne "Falstaff" etwas nachgelassen hatten, dort halfen Bernstein und Visconti nach. Dieser mit den einfachsten und wunderbarsten szenischen Mitteln, jener mit einer Intensität und musikalischen Präsenz, wie man sie hier schon lange nicht mehr miterleben durfte.

Beiden ist nachzusagen, daß sie hielten, was sie versprachen. Bernstein machte tatsächlich Kammermusik mit dreifachem Holz, vier Hörnern, drei Trompeten und vier Posaunen, mit einem großen Orchesterapparat also. Obgleich keineswegs diskret und im Tempo meist an der Grenze des eben noch deutlich Unterscheidbaren, ließ er dem Wort seine Verständlichkeit und der Poesie ihr Recht. Kein Sänger, der vom Orchester zugedeckt worden wäre, keine Wendung in der Partitur, die nicht plausibel hörbar wurde. Visconti wiederum hielt sich an sein Wort. Fröhlichkeit sei die Dominante des Werkes und dies müsse man zum Ausdruck bringen. Er brachte sie tatsächlich zum Ausdruck, und zwar mit den nobelsten, sichersten Mitteln.

Sollten in nächster Zeit wieder einmal Diskussionen über Stil, Bühnenbild und Geschmack anheben, ist uns ein neues Argument gegeben: Visconti schuf gemeinsam mit seinem Assistenten Ferdinando Scarfiotti Bühnenbilder und Kostüme frei nach Vermeer, weiträumig und einfach, realistisch und gleichzeitig wieder überhöht. Dreimal zwei Szenen, die den gleichen Grundriß haben und schnellste Verwandlung gestatten, im letzten Drittel des Werkes sogar eine überaus wunderbare Situation schaffen: Die Straße vor der Herberge Falstaffs wird beim Hornruf transparent, Schleier heben sich und langsam erwacht der Garten von Windsor zu zauberträchtiger Mitternacht. Daß den "schwarzen Jäger" dann zum erquicklichen Ende nicht kitschige Elflein und operettige Stechmücken plagen, sondern die Kinder von Windsor in ihren übergeworfenen Nachthemden und phantastischen selbstgebastelten Verkleidungen, macht die Komödie wieder menschlich. Zuletzt erhellt sich der Zuschauerraum und die "fuga buffa" wird dem Publikum ins Gesicht gesungen, sehr direkt, sehr anzüglich, sehr weise. "Alles ist Spaß auf Erden, der Mensch ein geborener Thor!" wie es in Kalbecks Übersetzung heißt.

Daß Visconti den ganzen Abend über nicht Musiktheater, sondern Oper spielen läßt, sichert ihm den Erfolg. Die Typen sind klar und überzeugend gezeichnet, der Spaß kommt zu seinem Recht und das Publikum hat ihn einmal wirklich, die manchmal leicht überspitzte, unwirkliche, opernhafte Situation ist nicht mit viel Schweiß glaubhaft gemacht, sondern einfach als Opernsituation gezeigt und also viel natürlicher und überzeugender als in jeder deutschen Inszene. Visconti, Zeffirelli und Strehler – denen wir die erhebendsten Opernabende der letzten Zeit verdanken – sind Italiener und nicht nur imstande, Opern zu erklären, sondern auch an Opern zu glauben.

Nur einige Anmerkungen zu den Mitwirkenden: Dietrich Fischer-Dieskau war der ideale Falstaff, komisch, phantastisch, liebenswert, würdig, ein guter Verlierer zuletzt. Und stimmlich tatsächlich seiner Flexibilität wegen ideal und in jeder Nuance glaubhaft. Nur Rolando Panerai konnte als Ford ihm einigermaßen Paroli bieten, war voll guter Laune und herrlicher Stimme und gleichfalls einfach ideal zu nennen. Juan Oncina – weil wir schon bei den Herren sind – hatte als Fenton einen eben nur guten Abend, Gerhard Stolze charakterisierte den Dr. Cajus blendend und schrie seinen Part eindrucksvoll. Murray Dickie und Erich Kunz waren treffliche Chargen, diskret und doch überaus munter. Regina Resnik als Mrs. Quickly war die lustigste der Frauen. Gegen ihr Temperament gehalten blieben die angenehme, aber keineswegs außerordentliche Ilva Ligabue als Mrs. Alice Ford und Hilde Rössel-Majdan als Mrs. Meg Page recht bleich, und auch Graziella Sciutti war nur Staffage – dies alles freilich auf dem hohen Niveau der Aufführung verstanden. Angenehm der Chor; ohne jede Einschränkung und besser als je zuvor das in allererster Besetzung spielende Orchester, dem Bernstein viel vom Beifall zukommen ließ. Erwähnenswert auch die technische Einrichtung Hans Felkels diesmal und die Beleuchtung unter der Aufsicht Albin Rotters.

Sie alle konnten den beispiellosen Beifall auch auf sich beziehen.

Franz Endler


   

     Kurier, Wien, 16. März 1966     

   

Sie alle haben Spaß am Spaß

Verdis "Falstaff" Montag am Ring mit Bernstein am Pult und Fischer-Dieskau

    

Die Wiener Staatsoper hat mit Verdis "Falstaff"-Neuinszenierung eine achtbare Vorstellung ins Repertoire eingebracht, als Ernte guter, sorgsamer Disposition, aber auch als Frucht ernster künstlerischer Arbeit. Im Musikalischen darf die Aufführung gut und gerne exemplarisch genannt werden – vom Dirigenten Leonard Bernstein, aber auch vom Orchester und den Sängern her, Dietrich Fischer-Dieskau an der Spitze. Dieser wiederum ist ein wahrhaft beispielhafter Titelheld, wie ihn die italienische Opernbühne in ähnlich zwingender darstellerischer und gesanglicher Gestaltung schon seit Jahren nicht mehr anzubieten hat. Und Luchino Viscontis Inszenierung in seinen und Ferdinando Scarfiottis Bildern und Kostümen hat Qualität, Poesie und Humor, ohne, bis zur zauberhaften Verwandlung zum Schlußbild hin, mit Überraschungen oder gar Verstößen gegen die Konvention aufzuwarten. Man sah gerne auf die Bühne, und man hatte sich des zu Sehenden nicht zu schämen, ehe der "schwarze Jäger" im Park von Windsor von Kobolden in Zuckerlrosa gepeinigt wird. Doch ist solcher Pratergschnas für den eitlen Weiberhelden vielleicht als zusätzliche Strafe gedacht. Was schäkert der Kerl nicht auch einmal mit seinem Diener!

Bernstein hatte das Kleinod des Abends zu verwalten: Die geniale Musik des 80jährigen Verdi, der mit dieser geist- und kunstvollen Partitur, einem Staccato von Kapriolen, einem Stenogramm von verschlüsselten psychologischen Pointen, nicht bloß von der Bühne, sondern auch vom Leben Abschied nimmt. Solche Leichtigkeit des Wechselns von grimmigem Ernst zu versöhnlichem Humor, von wildem Aufgebrachtsein zum ironischen Schnörkel entspringt einer Weisheit, die schon "von drüben" ist. Einer Weisheit, die "alles auf Erden Spaß" und "die Menschen geborene Toren" sein läßt. Solch lächelndes Darüberstehen macht den eigentlichen, undefinierbaren und unvergleichlichen Charme des Werkes aus. Daß sich diese Verzauberung in launigster Manier mitteilt, in der Grazie des knappen melodischen Einfalls, im wendigen Rezitativ, im flüssigen Sprechgesang, aus dem unverhörens ein Arioso wächst, in der klaren, kammermusikalischen Orchestrierung: All das sind überlegen gehandhabte, in ihrer Wirkung unfehlbare Mittel, über denen der Geist, der sie schuf, allzuleicht in Vergessenheit gerät.

Bernstein läßt das nicht zu. Seine technisch perfekte Einstudierung rollt in idealem Einvernehmen zwischen Bühne und Orchester ohne alle Angestrengtheit ab. Die Akzente werden präzise und zugleich mit Lust gesetzt, die Lyrismen schwelgen in schlanker Süße, das Donnerwetter des Ärgers ist nicht ohne heimliches Kichern des Humors. Sänger und Instrumentalisten bilden eine wahrhaft philharmonische Einheit. Sie alle haben Spaß am Spaß, den sie durchaus ernst nehmen, doch so überlegen ausspielen, daß von des Komponisten Heiterkeit, wie sie sich an Shakespeares Komik entzündet hat, nichts verloren geht. Sehr zu Recht warf der Dirigent, der statt einer Partitur einen Rosenstrauß auf dem Pult liegen hatte, dem Orchester mehrfach Kußhände zu. Man hörte einen "Falstaff" von Extraklasse und somit allerbesten Verdi.

Die Bühne hat Visconti hübsch, zum Teil sogar sehr hübsch bebildert. Zumal die Interieurs erinnern an alte Niederländer. Auch die Kostüme der Solisten gefallen, sind reich und doch einfach, mit Geschmack entworfen und ausgeführt. An Falstaffs dicken Wanst werden, wie üblich, Späße nach Maß geschneidert, und seine Diener glänzen zudem noch durch Masken-Maskeraden. Im übrigen hält der Regisseur auf gute Konvention und Intimität, wie Verdi sie wünschte. Die Solisten werden ruhig, doch sicher geführt, in guter Pointierung und Steigerung. Der Chor wirkt eher sich selber überlassen.

So vergagt Zeffirellis "Falstaff" an der "Met" auch war: Ein bißchen von dem, was man hierzulande Musiktheater nennt, würde das Schlußbild schon vertragen. Rennert hat den "Falstaff" vor knapp zwei Jahren in Stuttgart mustergültig nachgeschaffen – er mußte mit der Finalfuge nicht in den erleuchteten Zuschauerraum flüchten (was an sich ein hübscher Einfall war). Und davor gab es (in Stuttgart) auch weniger Zuschauer, sondern Akteure im Park von Windsor. Die linke Flanke des Chores (vom Besucher aus) ist leider ein reines Mißvergnügen in ihrer Konfirmandenstandhaftigkeit. Doch das Finale reißt den Abend wieder hoch, und Conte Visconti durfte zu Recht für reichen Applaus danken.

Dieskau, wie gesagt, ist ein grandioser Falstaff schon seit etlichen Jahren, er spielt ihn satt und saftig aus und parodiert mit Vergnügen und Diskretion die Eitelkeit – des Sir John, für den er alle gebotenen zarten und wilden, säuselnden und brüllenden Töne zur Verfügung hat. Und eine eminent musikalische Präsenz, die ihn unauffällig Mittelpunkt sein läßt. Schon nach den Bildschlüssen war der Titelheld Ziel großer Ovationen.

Als Falstaffs Gegenspieler Ford imponiert Rolando Panerai durch den vehementen Einsatz seines edlen, dunklen Baritons und eine bezwingende vis comica. Alice Ford erhält von Ilva Ligabue Attraktivität und Humor und Belcanto mit Qualitätstimbre, Mrs. Page gewinnt durch Hilde Rössel-Majdan optisch und akustisch Sympathien.

Regina Resnik weiß die Chancen der Mrs. Quickly erquickend zu nutzen ("Reverenza!"), Gerhard Stolze, als Dr. Cajus beinah in der Maske des Staatsoperndirektors, sang und spielte verbissen. Bleibt noch das verlotterte Dienerpaar Bardolf und Pistol, von Murray Dickie und Erich Kunz richtig gesungen und köstlich gespielt, bleiben noch die beiden Liebenden, denen Verdi die meiste Zeit und Ruhe zum Singen läßt, das Ännchen der reizenden, immer jünger werdenden Graziella Sciutti und der Fenton von Juan Oncina. Sie nutzten die Gelegenheit mit Schmelz und Gefühl. Ein prächtiges Ensemble insgesamt.

Die geglückte Premiere stand im Zeichen eines großen Abends. Prominenz- und Toilettenreichtum im Publikum bezeugten es. Erwartungsvolle Stimmung tat sich schon im lebhaften Begrüßungsbeifall für Bernstein kund. Er wurde gleich mit dem ersten Bild honoriert. Die Laune steigerte sich von Bild zu Bild, der Applaus ebenfalls. Am Ende erhob sich viele Minuten lang niemand von seinem Sitz. Bernstein und Visconti umarmten einander an der Rampe, und der Dirigent machte vor der Zehnermannschaft seines Ensembles eine Verbeugungstour mit Knixen, Handküssen und einem Kuß für seinen Falstaff Fischer-Dieskau.

Das Publikum raste. Direktor Hilbert dürfte zufrieden sein.

Herbert Schneiber


   

     Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. März 1966     

    

Falstaff zweier Welten

Wiener Premiere mit Fischer-Dieskau, Visconti und Bernstein

    

Als Institution und Gattung ist Oper heute ebenso beflissen, die Nichtfachleute an sich zu binden, wie diese keine Mühsal scheuen, für die Singbühne zu arbeiten. Beide Tendenzen führen zwar zum gleichen Endeffekt, sind aber in sich feindlich. Aus einem Mißverständnis des antiken Dramas entstanden, ist die Oper als Kunstform ein Schauspiel mit mehr oder minder gesungenem Text; das legitimiert ihre immer wiederkehrenden Ausflüge zum Sprechtheater, neuerdings zum Film. Die Verirrte will so heimgeholt werden. Hingegen suchen die Männer des Schauspiels nach der strengeren formalen Bindung, die alles musikalisch festgelegte Theater vom nur gesprochenen scheidet. Carl Ebert, Günther Rennert, Gustav Rudolf Sellner und Walter Felsenstein, von Haus aus Opernlaien, sind diesen Weg gegangen. Ohne ihre Anregungen ist die moderne Singbühne kaum noch denkbar. Und doch haben sie die viel verachtete Tradition des "gelernten" Opernregisseurs, wie sie einst Hörth und Heinz Tietjen, später Otto Erhardt und Rudolf Hartmann, auf ihre besondere Weise auch Wieland Wagner und Herbert von Karajan repräsentieren, nicht über Bord werfen können.

Verdis "Falstaff" ist ein Sonderfall des Musiktheaters, weil in ihm das vollkommene Gleichgewicht von Drama und Musik erreicht ist, das vorher nur ein paarmal bei Mozart herrscht. Trotz uneingeschränkter Hegemonie der Titelfigur hat das Stück keine Nebenrollen. Was bei Shakespeare episodisch ist, Staffage zur Belebung einer szenischen Situation oder Landschaft, hat der erstaunliche Musikdramatiker Arrigo Boito schon in seinem Libretto jeweils zum Mittelpunkt einer kleinen oder größeren histrionischen Welt gemacht. Verdis Genie tat das übrige. Noch in Duetten, Quartetten und Ensembles bleibt der schauspielmäßige Dialog, bleibt das Gespräch mehrerer, ungleich engagierter Partner erhalten. Noch die schlüssigsten melodischen Gestalten, Arien, Cavatinen sind getragen vom Fluß des gesprochenen Worts. Falstaffs moralische Exkurse, im ersten Bild über die Ehre, im fünften über Tugend und Rittertum ("Non c’è più virtù") hätten sogar Voltaires höhnische Skepsis gegen gesungene Texte besiegt. Selbst das strengste Formwesen, das etwa in der Schlußfuge "Tutto nel mondo è burla" herrscht, bleibt sozusagen subkutan, vom Hörer mehr unbewußt wahrgenommen oder meinethalben auch gar nicht bemerkt – ganz wie es Alban Berg in "Wozzeck" und "Lulu" wollte.

Die neue Wiener Inszenierung ist zwei berühmten Outsidern der Oper anvertraut: Luchino Visconti und Leonard Bernstein. Von Film und Schauspiel ausgegangen, hat Visconti seinen analytischen und differenzierenden Geist seit langem, doch nur fallweise an Opernaufgaben erprobt. Spontinis "Vestalin" in Mailand, Bellinis "Somnambula" mit der Callas, ausgewählter Verdi, Gluck und Donizetti in London, Rom und beim Fest zweier Welten in Spoleto waren seine oft umstrittenen Kreationen. Mit Hans Werner Henze kam es zu gemeinsamer Arbeit in einem Jazzballett "Maratona di danza". Der Rahmen seines "Falstaff", von Ferdinando Scarfiotti mit entworfen, ist traditionell: englische Interieurs, Fassaden und Gärten, wie man sie notfalls im Fundus besserer Bühnen auftreiben kann. Darin allerdings Kostüme und Masken von großer realistischer Schönheit und Charakteristik. Schon im diagonal gestreckten Kneipenbild setzt die Allbewegtheit der Figuren ein, die zur Regiegrundlage des ganzen Abends wird: der dicke John links am Tisch mit Siegel und Suff befaßt, dahinter Pistol einen Degen ölend, rechts Dr. Cajus mit aufgeregtem Gefuchtel eindringend, vorm Faß wie ein glotzender Orgelpunkt hingefläzt der langnasige Bardolf. Das Prinzip, jede Figur ohne Kontakt mit den anderen zu beschäftigen, bis die musikalische Situation sie zusammenführt, tritt im Frauenquartett des zweiten Bildes am reinsten zutage, wird dann gleich an den fünf Männern demonstriert, vor Wandschirm und Wäschekorb des zweiten Akts mit etwas zu hochpolierter Virtuosität aufgetragen und im Finale zu einer nur quantitativen Steigerung gebracht. Visconti brennt seine Feuerwerke gleich zu Anfang so vehement und gehäuft ab, daß die Klimax vor der des Stücks erreicht ist. Da hilft dann nur noch Optik, Farbenzauber, Lichteffekte. Die Verblüffung, wenn vorhanglos das Bild mit der Wirtshausbank durch Beleuchtung und Schiebebühne in den mondbestrahlten Park verwandelt wird, hält ein paar Szenenminuten durch.

Im übrigen besticht Visconti durch eine Gebärdenverkettung der Einzelgestalten, die an die Perfektion eines Uhren- und Zahnradmechanismus erinnert, weit über ähnliche Prozeduren bei Felsenstein und Strehler hinaus. Bravourstück ist Falstaffs Heimsuchung durch die phantastisch kostümierten Feen, Geisterchen und Kobolde, bevor die Masken fallen und der Mummenschanz sich als Sommernachtstraum der allgemeinen Revanche erweist.

Den Falstaff in der italienischen Aufführung sang Dietrich Fischer-Dieskau. Die Figur ist seit der unvergeßlichen Berliner Premiere ganz sein Eigentum geworden, etwas nicht Vergleichbares, das auch da überzeugt und hinreißt, wo die Entfernung von der italienischen Konzeption offenkundig ist. Dieser überdimensionierte, bäuchig, aus listigen kleinen Äuglein lachende Sir John, der von der Prahlerei bis zur Zerknirschung alle Stufen darstellerischer Zwischentöne durchläuft, kommt sängerisch aus einer deutschen Welt. Das gibt seinem Parlando, seinem Trällern, seinem schelmischen Falsett einen Nachdruck und eine Art von Tiefgang, den z.B. Baccaloni nicht aufbrachte. Aber auch ein gewisses Übervolumen des Vortragstons, eine bisweilen auf hohem Niveau polternde Manier stellt sich neben das Ideal des dramatisch gestuften Belcantos. Auf dem Glatzkopf sitzt vorn ein kokettes Löckchen; der Bart, da hilft alles Kämmen nicht, wirkt wie ein hoher Grad von Unrasiertheit. Mit komischem Frauencharme spielt er Alice Fords Verliebtsein, souverän beschimpft er seine dienenden "Ladri", während die Hände seitlich an den Hüften hochwandern. Überhaupt die Hände! Keine Nuance, die sie nicht mitformen, wenn Mrs. Quickly ihn aufsucht, wenn er bei Fords Erzählung beiseite kichert und nach vorn bedauernd teilnimmt.

Rolando Panerai spart sich als Ford seine Hauptwirkung für die Raserei am Schluß des zweiten Akts. Mit unsäglich komischer Mimik und schnappendem Fischmund stattet Gerhard Stolze den Dr. Cajus aus. Für den Fenton hat Juan Oncina einen sanften, hochlyrischen Tenor bereit. Possierlichstes Teamwork verbindet Murray Dickie als langnasigen Bardolf mit Erich Kunz als rotbärtigen Pistol.

Von den Frauen kommt Liva Ligabue (Alice) dem Ideal beseelten Schöngesangs am nächsten, während Grazielle Sciutti, physisch bezauberndes Ännchen, ihre Schwierigkeiten mit der (gar nicht so hohen) Höhe kaum überwindet. Eine glänzende Mrs. Quickly singt und spielt Regina Resnik, die dem stimmlichen Transvestitentum des Fischer-Dieskau-schen Falsetts baritonale Farben konfrontiert. Hilde Rössel-Majdan vervollständigt sehr wirksam den Frauen-Vierklang als Meg Page.

Auf so farbenreichem Ensemble und so glänzendem Orchester zu spielen, ist für den Dirigenten eine Lust. Leonard Bernstein, das spürt man beim ersten genauen und feurigen Einsatz, ist gewohnt, Theaterluft zu atmen. Da fließen die buffonesken Zeitmaße ohne Zwang und Klügelei. Da paßt sich der Musikstrom den Sängern auf der Bühne an wie ein vollkommen sitzendes Kleid. Nur in den Doppelensembles des zweiten Bildes gibt es momentweise Asynchronitäten. Aber der sanft treibende Wille dieses beherrschten, nervösen Musikers bleibt spürbar durch den ganzen Abend.

Allerdings ist es gar kein sparsames, dünnes Pianissimo-Dirigieren, wie man erwartet hatte. Bernstein legt das Stück in kräftigen Akzenten an, setzt auch dem Blech mitunter Jazzfarben auf und rückt die Lautstärke höher, als man es von Bruno Walter oder Toscanini kennt. Offenbar will er weg von der Kammermusiküberlieferung, die im "Falstaff"-Bereich landläufig ist. Dabei gerät er in merkwürdige Extreme, wenn ein Flötensolo, eine hohe Fagottstelle, eine Hornmelodie, völlig aus dem Bild des Zusammenklangs herausgehoben, sozusagen mit akustischen Scheinwerfern angestrahlt werden. Im ganzen ist seine Dynamik hier auf Gegensatz gerichtet, mehr Terrasse als Crescendo und Diminuendo, den huschenden Pianissimostrecken minder zugetan als den Kraftstellen.

So ergibt sich, bei hohem Niveau beider, zwischen Viscontis Regie und Bernsteins Direktion, ein Mißverhältnis der Werte. Darin lag die Schwäche des Abends, der dennoch mit seinen Höhepunkten und mit den Persönlichkeiten, die ihn trugen, zum theatralischen Ereignis wurde. Der Beifall erreichte ungewöhnliche Lautstärke und Dauer. Man mag darin Vorschüsse für weitere Aufgaben Bernsteins sehen. Ihn als Dirigenten für Wien und vielleicht auch für die deutschen Bühnen gewonnen zu haben, ist wichtig. Das Theater gibt seiner Persönlichkeit mehr Raum als der Konzertsaal, wo er als faszinierender Stabführer, Pianist und Kommentator Höheres nicht erreichen kann, als er schon erreicht hat.

H. H. Stuckenschmidt


   

     Die Welt, Datum unbekannt     

   

Viscontis Triumph mit Verdi

"Falstaff" in der Wiener Staatsoper – Leonard Bernstein dirigierte

    

Schon Wochen vor der Staatsopern-Premiere von Verdis "Falstaff" flüsterten die "Eingeweihten" (schätzungsweise 1 550 000 Wiener), daß es eine "Sensation" geben würde. Die Wiener Philharmoniker hätten ihr orchestrales Herz, vielleicht noch mehr, an Leonard Bernstein verloren, den sie bereits "Lennie" ansprachen; Bernstein und Luchino Visconti, der Regisseur, seien die neuen Geheimwaffen, die Egon Hilbert "eingesetzt" hätte, und so weiter.

Das Erstaunlichste ist, daß eine so vorbelastete Neuinszenierung nun wirklich die einzige Sensation wurde, die es legitim im Opernhaus gibt – eine künstlerische Sensation. Die Premierensnobs und Cliquentiger, die bereits vor der ersten Synkope wußten, "wie es war", und die aus verschiedenen Gründen kaum verhülltes Mißtrauen zeigten, wurden allmählich von dem Genius Verdis und seiner treuen Diener, Bernstein und Visconti, mitgerissen. Sie ergaben sich dem Zauber des Werkes. Als Opernregisseur hat Visconti bisher nur gelegentlich gearbeitet. Etwas Verdi, Spontinis "Vestalin", Bellinis "Somnambula", Donizetti und Gluck – seine Inszenierungen waren immer umstritten, wurden freilich auch stark besucht.

Nach Wochen angestrengtester Probenarbeit spielten die Philharmoniker mit amerikanischer Präzision und Wiener Schönheit eine unnachahmliche Mischung. Kein Wunder, daß sie Bernstein verfielen, der schon optisch die herrliche Musik von Anfang bis zu Ende zwischen Erde und Himmel hielt.

Alles war da, was die Partitur enthält: Ironie und zarte Liebe, Witz und Verstand. Zum Schluß, im dritten Akt, den ich noch niemals so durchsichtig gehört habe, auch nicht von Toscanini, klang es in der grandiosen Einfachheit nach Mozart – ein Mozartscher Verdi.

Aber diese Schwerelosigkeit war mit eiserner Disziplin geschaffen worden, und Disziplin ist ein Wort, das in Wien nicht gern gehört wird. Hier wird oft künstlerisch improvisiert (lies: gehudelt). Davon diesmal keine Spur. Die Chöre waren großartig, der Kontakt zwischen Orchester und Bühne förmlich elektrisch dank Bernsteins Dynamik. Der Übergang von kammermusikalischen zu Belcanto-Elementen war niemals abrupt, und das Werk, das so viele Höhepunkte hat, wurde mit der herrlich dirigierten, gesungenen und gespielten Fuge zu seinem Abschluß gebracht.

Viscontis Inszenierung hat den Mut, jeder Übertreibung aus dem Wege zu gehen. Sie ist absolut normal. Sie will nicht auf Psychoanalyse hinaus, sondern auf Verdis Musik. Sie ist hell und froh. Wie schön, einen ganzen Abend lang auf eine Bühne zu schauen, auf der es nie dunkel wird. Visconti hat es nicht nötig, Visconti zu inszenieren: er macht Verdi.

Die Fröhlichkeit ist da, die Wäschestücke fliegen wie bei einem Sturm in den Gassen von Neapel. Die Bühnenbilder wirken so echt, zeitlos Windsor, daß man nicht merkt, wie raffiniert sie sind, und das letzte Bild atmet Poesie, nicht nur Bühnenpoesie. Bravo, Maestro! Die Kostüme sind originell und niemals auffallend (Ferdinando Scarfiotti war am Bild und an den Kostümen beteiligt, Grundentwurf: Visconti). Ein Sonderlob für Roberto Benaglio, der die Chöre einstudierte.

"Falstaff" ist eine Ensemble-Oper und die besten Mitglieder des Ensembles waren Rolando Panerai als Ford und Regina Resnik als Mrs. Quickly.

Den Falstaff überspielte und übersang Dietrich Fischer-Dieskau, der große Künstler und Liedersänger, der die Titelpartie hier erstmals auf italienisch sang. Aber er war kein Verdi-Falstaff, nicht einmal ein Shakespeare-Falstaff. Von Subtilität und Selbstironie, von innerem Humor und leichtem Witz, von abgeklärter Traurigkeit und Lebenskunst – von allem also, was in der Partitur ist, hatte Fischer-Dieskau nichts. Er war laut und tölpelhaft, er stampfte auf und benahm sich nie wie ein Landedelmann. Sir John, so geht es nicht; das war mehr Münchner Hofbräu als der Gasthof "Zum Hosenbande" in Windsor. Schade, denn Fischer-Dieskau kann alles ausdrücken mit seiner Stimme, ist ein Meister akustischer Nuancen. Vielleicht später einmal, wenn sein Falstaff älter, stiller, weiser und humorvoller wird.

Ovationen, wie man sie seit Karajans besten Tagen nicht mehr gehört hat. Große Hoffnung in Wien, daß man jetzt vielleicht einen neuen König gefunden hat, der Wien im internationalen Opernleben hinaufbringt. Aber Bernstein ist ein schaffender Musiker, der vor allem komponieren, nicht dirigieren will.

Er wird fünf weitere Vorstellungen der Oper dirigieren. Die Aufführung wird auch in einer Schallplattenaufnahme festgehalten. Bernstein, Chefdirigent des New York Philharmonic Orchestra, wird in Wien außerdem zwei Konzerte der Wiener Philharmoniker dirigieren. Obgleich die Operndirektion bemüht ist, ihn für weitere Aufgaben zu gewinnen, kann der Dirigent eigenen Angaben zufolge wegen seines vollausgebuchten Terminkalenders frühestens 1968 wieder nach Wien kommen.

Joseph Wechsberg


   

     Christ und Welt, 25. März 1966     

   

Im Orchester lachen die Geister

Triumphaler "Falstaff" in Wien: Bernstein – Visconti – Fischer-Dieskau

    

Bei der an der Opernrampe gesungenen Finalfuge weisen die Sänger auf das illustre Publikum. Verdis Altersweisheit blitzt in neuer Ironie: Wenn dieser glückgesegnete Abend einen nicht "foppte", dann das Publikum. Wiens neuer "Falstaff" ist das Ereignis der Saison, für Stunden strahlt das Haus am Ring wieder den monarchischen Glanz der Ära Karajan aus.

Ein neuer Hexenmeister steht am Pult, auf dem dunkelrote Rosen statt einer Partitur liegen: Leonard Bernstein. Er interpretiert Verdis heiteres Testament mit einer schier unglaublichen Rasanz, ohne zu hetzen – seine brillanten Tempi erwachsen aus innerer Spannung, aus Leidenschaft und Temperament, nicht aus künstlich aufgeputschtem Brio. Mit der weit verbreiteten Meinung, diese Partitur sei nur ein in witzigem piano dahinhuschendes Alterswerk (Thomas Mann sprach einmal von "Greisen-Avantgardismus"), räumte das amerikanische Taktstockgenie gründlich auf. Wohl dreht ein über den Dingen Stehender mit dem Fugen-Septimesprung ("Tutto nel mondo è burla") der Welt eine Nase; aber er ist noch immer der Bauer von Roncole.

*

Die extremen, oft taktweise wechselnden Lautstärkebezeichnungen vom fff bis zum ppp beachtet Bernstein unerbittlich genau, und die phänomenalen Wiener Philharmoniker – sie sind trotz aller Krisen noch immer das beste Opernorchester der Welt – setzen sie in Klang um; von einem Fortissimoakzent kommen sie sofort wieder in kammermusikalisch subtile Feinheit. In dieser Kontraste voll ausmusizierenden Gestaltung lachen die Geister, die orchestralen Aphorismen leuchten. Das Publikum feierte Bernstein als einen der Großen der Zeit – und er feierte seine achtzig Virtuosen, vor denen er sich tief verbeugte.

Der orchestralen Galavorstellung entsprach (mit zwei Einschränkungen: Juan Oncinas Fenton ermangelte der leichten piano-Höhe, Grazielle Sciuttis Nanetta war mehr lyrischer Schmelz zu wünschen) die Sängerelite. Voran Dietrich Fischer-Dieskau in farbensatter Daseinsfülle, der phantasievolle Fürst der Schelmen, liebenswert auch in seiner souverän amoralischen Lebenshaltung. Die Anmut des Geistes ist im immensen Speck nicht verkümmert, die Grazie des einstigen Pagen des Herzogs von Norfolk lebt in der Grandezza des Rohkost verschmähenden Ritters fort. Jede Nuance dieser Gestalt, jedes tönende Epigramm – die Partitur scheint oft wie im Stenogramm komponiert, die "Wendung" ersetzt den "Satz" – findet die gemäße gesangliche, gestische und mimische Darstellung.

Rolando Panerai gibt Ford als bürgerlichen Othello, imponiert durch den vehementen Einsatz seiner noblen, warm timbrierten Stimme. Die Damen Ilva Ligabue (Alice), Regina Resnik (Mrs. Quickly) und Hilde Rössel-Majdan (Meg) lassen dank ihres attraktiven Äußeren, ihres Belcanto und der stupenden Meisterung der Ensembles Falstaffs Werben begreiflich erscheinen. Zwei köstliche Galgenstricke stellt das verlotterte Dienerpaar Bardolf (Murray Dickie) und Pistol (Erich Kunz) auf die Bühne. Mächtig preisen sie zu gestochen klar schmetternden Blechtriolen den "Immenso". Gerhard Stolze fügt seinen Charakterrollen den verbittert krähenden erfolglosen Liebhaber Dr. Cajus hinzu.

*

Luchino Visconti inszenierte klar, einfach, diskret, nicht so gagreich wie sein Schüler Franco Zeffirelli, der das Werk (ebenfalls mit Bernstein) in der Met zur New Yorker Weltausstellung 1964 herausgebracht hatte. Wie es schon Verdi – Boito gelang, die Typenfiguren der romanischen Buffa (etwa den getäuschten Ehemann, den lüsternen alten Mann, die kluge Frau, den linkischen Liebhaber) mit den individuell ausgeprägten Charakteren aus dem Stratforder Kosmos zu verschmelzen, so vereinte auch Visconti Shakespeare und Verdi. Alle Figuren sind präzise gezeichnet, typische Eigenschaften zur Verdeutlichung unterstrichen. Sehr komisch war etwa die Reaktion der beiden Spitzbuben bei Falstaffs hintergründigem Privatissimum über die Ehre – grundsätzlich geben sie die falsche Antwort, da sie den unermeßlichen Horizont ihres Herrn nicht einmal ahnen.

Visconti wollte, auch im Arrangement der Ensembles, der Oper dienen; so mißriet das Finale. Nach einer an filmische Überblendung gemahnenden Verwandlung – zauberhaft wie die nächtlichen Hornrufe – wurde im Park ein lahmer Schabernack mit Sir John getrieben; der Chor stand statuarisch wie die königliche Garde herum. Die Fuge ließ Visconti nicht als burleske Apotheose spielen, übertrug sie nicht ins Optische, wie es Rennert in Stuttgart so einzigartig gelang. "Konzertant" gesungen, wirkte sie wie ein Anhängsel, was sie durchaus nicht sein muß. Auch Viscontis bühnenbildnerische Phantasie – er zeichnet mit Ferdinando Scarfiotti für Szenerie und Kostüme verantwortlich – ließ im letzten Bild nach. Schon die erleuchtete Häuserzeile, die den allzu lichten Park begrenzte, beeinträchtigte die "Sommernachtstraum"-Stimmung. Gott Pan wohnt weiter als eine Steinwurfweite von den Menschen. Bei den übrigen fünf Bildern stand Vermeer Pate; aber über eine etwas konventionell geschmackvolle Postkartenserie "Windsor zur Zeit Heinrichs IV." kamen sie kaum hinaus.

Das Publikum brachte Leonard Bernstein, der sich wie ein großer Junge freute und in seinem Glück alle Mitwirkenden umarmte, halbstündige Ovationen dar. An diesem Abend – und bei den vier ausverkauften Reprisen – darf sich Wien wieder einmal als "beste Oper der Welt" rühmen.

Klaus Adam


    

     Süddeutsche Zeitung, 16. März 1966     

    

Bernstein - und Verdis Erz

Visconti inszeniert "Falstaff" an der Wiener Staatsoper

   

Mit dem Verlust der Monarchie hat man sich in Österreich halbwegs abgefunden. Doch daß der Herr von Karajan nun nicht mehr am Pult der Wiener Staatsoper erscheint, läßt sich nicht auch noch verschmerzen. Warum ist man schließlich das beste Opernpublikum der Welt: bereit, die Bühne als höhere Wirklichkeit zu verehren und die Proporz-Realität im eigenen Safte schmoren zu lassen; bereit, jeden Star kundig und mißmutig mit seinem Vorgänger zu vergleichen, dem einst ebenso kundig und mißmutig das Leben schwer gemacht wurde? Warum das alles, wenn nun kein Zentrum mehr da ist für soviel Kundigkeit, Grantelsucht und Begeisterungsfähigkeit?

In der karajanlosen, der schrecklichen Zeit kam Leonard Bernstein aus New York und dirigierte den "Falstaff". (Sämtliche Vorstellungen, die er leiten wird, sind ausverkauft. Sein Nachfolger ist nicht zu beneiden.) Luchino Visconti, mit dessen ehemaligem Schüler Franco Zeffirelli Bernstein den "Falstaff" bereits in Amerika produziert hat, führt in Wien Regie. Ob Bernstein nun auch noch beispielsweise mit dem Lehrer Viscontis eine weitere "Falstaff"-Aufführung plant? Weil aber die Namen Bernstein und Visconti schon Traumgrenzen des Kunstreichs bezeichnen, hatte man gleich noch Fischer-Dieskau, Rolando Panerai, Ilva Ligabue, Gerhard Stolze und Regina Resnik verpflichtet. Reiner Zufall, daß nicht Laurence Olivier als Souffleur und Picasso als Beleuchter fungierten.

Selbst in Bayreuth gehört der Nerz nicht so selbstverständlich zur weiblichen Ausgehuniform, die Sachkunde nicht so unmittelbar zum Pausengespräch. Im Parkett hörte Christa Ludwig zu, Rennert lauschte, Otto Schenk ließ es sich nicht nehmen, der vom Spiegel überflüssigerweise wegen seiner vermeintlichen Armut bemitleidete Hochadel saß da, die Kritik war vollzählig. Und wer gar nichts war, war doch wenigstens Professor.

Leonard Bernstein hatte die Pausenbemerkung eines lieben Wieners ("Also, wenn der weiter in dem Tempo dirigiert, sind wir schon um 9 im Sacher") nicht verdient. Für den in Amerika längst zum Idol gewordenen, in Europa ob seiner genialischen Vielseitigkeit ein wenig beargwöhnten Dirigenten bedeutete der Wiener "Falstaff" zweifellos sein triumphales europäisches Bühnen-Austerlitz. Bernstein ließ sich vom Gespenst-Begriff "Spätwerk" nicht paralysieren. Verdis "Falstaff" wird oft als rezitativische, gebrochene Pianissimo-Huldigung eines alten Herrn verstanden, der die Narrheit des menschlichen Treibens als schelmisches Spiel durchschaut. Keine Arien, feine Instrumentation... So langweilig ist "Falstaff" nicht. Er ist nur fast unspielbar schwer und stellt an den Zuhörer außerordentliche Konzentrationsansprüche. Wenn da nur Buffoneskes hingetupft wird, gibt es keinen musikalischen Sinnzusammenhang mehr.

Dabei ist der "Falstaff" ein Forte-Stück. (Man zähle nur einmal nach, wie oft Verdi beispielsweise in der ersten Szene Forte und Fortissimo vorschreibt!) Der Aufwand und die Stärke einer großen Oper müssen gewiß nicht deshalb weniger aufwendig oder stark gemeint sein, weil die musikalischen Ereignisse durchweg kurz bleiben. Beim Dramatiker Verdi dürfen die Gesten sich nicht zu Nuancen verdünnen. Die Brillanz, mit der Bernstein diesen Grand-Opera-Kern in Buffo-Verschalung darlegte, ohne die Oper in einen derben Klamauk zu verwandeln, war ein Ereignis. Der Dirigent sorgte für äußerste Spannung. Ohne pedantisch zu werden, artikulierte er jeden Triller des Orchesters samt den Schlußnoten mit. Er unterstrich die punktuellen Ereignisse, aber er verlor sich nie in sie. Eine leichte Manier, eine winzige Affekt-Überdrehtheit der Fuge störten hier nicht. Selbst wo Verdi Wagners Klingsor zitiert, sprach die Musik in Bernsteins Artikulation nie von sehrender Sehnsucht, sondern immer von dramatischer Neugier. Im Hinblick aufs Niveau und auf die musikalische Prägnanz kam Bernsteins Interpretation durchaus dem Karajanschen "Falstaff" gleich. Doch da, wo Karajan sich in zärtliche Einzelheiten verliebt, beispielsweise bei einer schönen cis-Moll-Modulation, oder wo er eine Aida-Anspielung seidig ausspinnt, war Bernstein auf Größe und Fortgang bedacht. Er unterstrich den Ernst dieser großen Oper. Die Eleganz, darauf schien er mit Recht zu vertrauen, würde schon von selbst kommen, wenn der musikalische Leiter jeden falschen Affekt dämpft und jede Nachlässigkeit durch höchst ausdrucksvolle Zeichengebung unmöglich macht. Man hörte in Wien einen der größten Operndirigenten der Welt. Wenn Bayreuth oder Salzburg oder München ihn bezahlen könnten (und er Lust hätte), dann stünde also ein Retter mehr zur Verfügung.

Viscontis Inszenierung entsprach zunächst Bernsteins brillantem Ernst, dann verflüchtigte sie sich. Denn Visconti hatte offenbar - aus versnobter Angst vor Gags - sein Hauptaugenmerk auf die Typisierung der Figuren und die Stilisierung der Bildsphäre gerichtet. Gerhard Stolze, als stolz beleidigter Dr. Cajus (ohne jede Anbiederung beim sogenannten "Spieltheater") war grauenhaft komisch, Herr Ford als eifersüchtiger Ehemann ein stiller, verstimmter Provinz-Othello. Panerais kleine Stimme kam gegen Fischer-Dieskaus Volumen zwar nicht an, aber seine herrlich kultivierte dünne Ehrpusselei war Kaviar fürs Opernvolk.

Da die Damen im Recht und lustig zu sein haben, wirkten sie entsprechend langweiliger. Es gab nichts auf höchstem Niveau zu karikieren. Und Visconti entschied sich nicht zwischen einem Breughel-Realismus (wo in dingerfüllter Welt die Menschen ohne Schatten dastehen) und differenzierter Variation von Commedia dell’arte-Verfremdung. Alle Figuren besaßen höchsten Reiz, bewegten sich aber - vor allem in den Frauenbildern - teils konventionell, teils inkonsequent.

Die steife Würde der betroffenen Männer fand ihre Entsprechung in Bernsteins Tendenz zum Mollabgrund. Bei großen Ensembles hingegen kamen Visconti und Bernstein nicht ganz zusammen. Bernstein wählt relativ verhaltene Tempi - doch die einzige Kammermusikqualität des "Falstaff", nämlich die Verteilung einer musikalischen Phrase auf mehrere Personen, die Aufspaltung eines Arioso in zwei oder drei nacheinander singende Figuren: damit wurde der Regisseur nicht präzise fertig. Auch Bernstein nicht ganz, da Juan Oncina als Fenton zu ungleichmäßig blieb und Graziella Sciutti sogar einen (relativ zu verstehen, bitte) schwachen, glücklosen Abend hatte. Gerade weil Bernstein keinen "Traum", kein sentimentales Verweilen dulden mochte, war sogleich entscheidend, ob ein as tatsächlich als as, oder als g mit schlechtem Gewissen getroffen war. Fischer-Dieskau, machtvoll bei Stimme und dankbar für Viscontis Personenregie, war offenkundig froh, solchen Ansprüchen genügen zu dürfen. Ohne Drücker vermittelte er zwischen englischem Witz, italienischer Beweglichkeit und deutschem Lied.

Ausgerechnet den Zauberwald des letzten Aktes ließ Visconti virtuos aus dem realen fünften Bild herauswachsen. Zwischen gleichwertige Bilder senkte sich der Vorhang, die wesensverschiedenen Bilder aber verband Visconti, der Regisseur und Bühnenbildner. So demonstrierte er, daß die panische Fülle versöhnlicher Natur und der Vordergrund treuherziger Biedermeierei im "Falstaff" zusammengehören. Das war gewiß kein Gag, aber ein großer, wenn auch logisch unbegründeter Einfall, ein faszinierender Hinweis aufs Wunderbare im Kleinen. Wiens obere Dreitausend klatschten sich mit Recht die Hände wund, als die Heroen dieses denkwürdigen Opernabends sich verbeugten und umarmten.

Joachim Kaiser


    

     Kölner Rundschau, 18. März 1966     

    

Eine geniale Oper wurde genial erfaßt

"Falstaff" in Wien mit großen Namen

    

Seit Karajans Abgang erlebte man in der Wiener Staatsoper keine so frenetischen Beifallskundgebungen mehr wie die am Schluß der jüngsten Premiere, der Neuinszenierung von Verdis "Falstaff". Es war allerdings auch ein Abend auf schwindelerregenden künstlerischen Höhen.

Manchmal glaubte man unwillkürlich, einer Selbsttäuschung zu erliegen, hervorgerufen durch das Aufgebot klingender Namen: Dietrich Fischer-Dieskau, als Falstaff schon auf den Berliner Opernbrettern sensationell erprobt, sang (diesmal italienisch) die Titelpartie. Der legendäre Luchino Visconti inszenierte – und der nicht minder legendäre Leonard Bernstein dirigierte erstmals an der Wiener Oper. Aber es war keine Blendung, vielmehr wurden die kühnsten Erwartungen noch übertroffen.

Wie der musisch universelle Bernstein bei tiefer Auslotung der Partitur gleichsam nicht nur Verdi, sondern auch Shakespeare musiziert – das muß man erlebt haben!

Alle Falstaff-Züge waren da inbegriffen: die oberflächlichen der Lustspielebene, der "Lustigen Weiber", wie die ans Tragische rührenden, die Shakespeare weit gültiger in seiner Falstaff-Figur verwoben hat. Dazu die vom Librettisten Boito unter Heranziehung beider Charakterporträts ausgefeilten und die vom fast 80jährigen Verdi ins musikalische Gleichnis gegossenen.

Der Ernst hinter "allem Spaß auf Erden", die Tragik des Alterns schwangen in Bernsteins Wiedergabe herrlich mit, vom ersten Crescendo bis zu Falstaffs kurzen, aber erschütternden Klagetönen im Schlußbild.

Frappant erfaßte der Dirigent auch die minuziöse Mitte zwischen Oper und musikalischem Konversationstheater, die hier besonders delikaten Anforderungen der Sängerbegleitung und die Notwendigkeit, typische Wiener Orchesterfarben "italienisch" zu retuschieren. Man begegnete einem wahren musikalischen Genie.

Dazu hat Visconti eine altmeisterliche Inszenierung und Ausstattung in des Wortes doppelter Bedeutung geliefert, mit Interieurs und Kostümen im Stil zwischen Vermeer und Frans Hals. Anachronistisch vielleicht für Shakespeares Windsor, doch trefflich als Verpackung für die szenische Genremalerei.

Ein Hauch von Altengland wehte erst im vorletzten Bild, das seinerseits sanft hinüberglitt in einen gar nicht aufgedonnerten, fast ballettfreien Sommernachtstraum. Altmeisterlich war jedoch in ihrer Selbstbescheidung auch die Regie an sich, die brillant zu führen und zu fesseln verstand, ohne einen Tupfen Komödiantik zu viel zu geben.

Daß Fischer-Dieskau die Aufführung als Sänger krönte, setzte nicht weiter in Erstaunen, doch diesmal konnte man fast mehr noch seine von erlesenem Kunstverstand geprägte Darstellerleistung bewundern. Er war genau – und in bravouröser Vollendung – der Falstaff der Tragikomödie, den Verdi komponiert, Bernstein dirigiert und Visconti zu hinreißender, nie überspielter Theaterwirklichkeit erweckt hat.

Manfred Vogel


    

     Zeitung unbekannt, 16. März 1966     

    

"Falstaff"-Premiere in der Wiener Oper:

Spaß auf Erden

    

Daß "alles auf Erden Spaß" ist und "die Menschen geborene Toren" - diese in fast überirdisch schöne Musik sublimierte Lebensweisheit des 80jährigen Giuseppe Verdi -, demonstrierten Leonard Bernstein, Luchino Visconti und die Protagonisten der nahezu als perfekt zu bezeichnenden Aufführung des "Falstaff" an der Wiener Staatsoper.

*

Allen voran Leonard Bernstein. Statt der Partitur einen Strauß Rosen vor sich auf dem Pult, interpretierte Bernstein diese göttliche Komödie des Musiktheaters mit Dynamik, Rasanz, Leidenschaft - und Präzision. Unter seiner Führung entfalteten die Wiener Philharmoniker eine Klangfülle dramatischer Forte und zartester Piani.

Die Inszenierung und den Rahmen für dieses heiterste aller Dramen des Alterns schuf Luchino Visconti. Seine Bühnenbilder sind von jener Einfachheit, die vornehm ist, von jener Schlichtheit, in der Poesie steckt. Die Interieurs erinnern an den niederländischen Maler Vermeer, die Kostüme sind geschmackvoll und dezent in den Farben.

Visconti inszenierte ohne überflüssige Mätzchen: da sitzt jede Bewegung, da fliegen keine Stuhlbeine durch die Luft, da stört kein unnützes Klirren von Glas den musikalischen Ablauf. Verdi wird nie zur Posse erniedrigt, alles Geschehen auf der Bühne ordnete sich harmonisch der Musik unter.

Ärger mit Würde

Dietrich Fischer-Dieskau ist ein souveräner Falstaff. Er altert zwar nicht gerne, aber er tut es mit Anstand, Würde und jener Laune, die nie zur Derbheit ausartet. Selbst im Donnerwetter des Ärgers schwingt ein humorvoller Ton mit. Er ist in den dramatischen Passagen seiner Rolle ebenso überzeugend wie in den liedhaften. Fallstaff ebenbürtig ist sein Gegenspieler Ford. Rolando Panerais herrlicher dunkler Bariton, seine bezwingende natürliche Komik vermögen sich neben Fischer-Dieskau mühelos zu behaupten.

Die Lustigen Weiber von Windsor sind grazil, charmant, damenhaft. Ilva Ligabue ist eine schöne Alice mit warmem Timbre und merklich ausgeglichener Technik, Regina Resnik als Mrs. Quickly urkomisch und stimmlich glänzend disponiert. Nur Graziella Sciutti, jugendlich anmutig als Nanetta, fiel von ihrer Umgebung ab: in der Höhe klang ihre Stimme dünn und zuweilen unsicher,

"Eine echte Karajan-Premiere, wie in alten Zeiten", begeisterte sich das mit internationaler Prominenz aus Film und Politik durchsetzte Wiener Publikum und meinte damit Leonard Bernstein, dem es mit uneingeschränktem Jubel für die absolut philharmonische Einheit zwischen Sänger und Orchester dankte.

Erika Götz


   

     Oper der Welt, Heft 5, Mai 1966   
   Die deutsche Opernzeitschrift   

   

Wien

Dialog zwischen gleichwertigen Partnern

Leonard Bernstein dirigierte, Luchino Visconti inszenierte Verdis "Falstaff"

   

Ein heftiges, hörbares Aufstampfen des rechten Fußes markierte die Eins im Takt, und mit dem darauffolgenden C-Dur forte-Schlag war das Premierenpublikum in der Wiener Staatsoper von einem Musizieren gebannt, das in seiner unnachahmlichen Verbindung von Brisanz und Transparenz seinesgleichen sucht. Verdis "Falstaff" zu hören, von Leonard Bernstein an der Wiener Staatsoper dirigiert, kommt einer Neuentdeckung des amerikanischen Dirigenten gleich. [...]

Das Musizieren des Gastes aus Amerika bekennt Farbe: der tiefe Sinn der Parabel von Schwäche und heiterer Überlegenheit des Menschenherzens wird nicht tiefsinnig-philosophisch zelebriert, sondern zu gelassen-weiser Bestandsaufnahme des herrlich und so notwendig Unvollkommenen. Bernstein versetzt es in aufregendes Brio mit zauberhaft leichter Hand in eine Region schwerelosen Klanges, in der die Abenteuer und Nöte Sir Johns zu unser aller Abbild werden. Das Schlußwort der Fuge, daß alles Spaß auf Erden sei, ist Bernsteins Motto vom ersten Takt an, und nahtlos überträgt er seine Vorstellung auf die Wiener Philharmoniker, die sich in glänzender Spiellaune und in technischer und klanglicher Superform präsentieren. Wenn Joseph Wechsberg berichtet, daß das Orchester mit Bernstein "durch Wasser und Feuer zu gehen bereit sei", so wird daran etwas Wahres sein, denn aus jeder solistischen Phrase, aus jedem Tutti war das hervorragende Einvernehmen zwischen Dirigent und Orchester herauszuhören. Geben und Nehmen, Aufforderung und Aktion lösten sich in fast kammermusikalischer Selbstverständlichkeit ab. Kein Befehl und Gehorsam war diesem Musizieren abzuhören, sondern selbstverständliches Miteinander, Dialog zwischen gleichwertigen, voneinander inspirierten Partnern.

Die Verbindlichkeit, die Leonard Bernstein dem Spiel der Philharmoniker abgewann, dehnte er auf die Führung der Akteure aus, die von solcher behutsamen Unterstützung wie anfeuernden Besessenheit sich zu höchster Leistung herausgefordert fühlten. Wieviel auch immer die Regie zum Gesamtresultat beigetragen haben mag, Bernsteins suggestive Verführung der Sänger war zusammen mit der überaus sorgsamen Grundierung des instrumentalen Klangteppichs der einleuchtendste Grund für die Genauigkeit des musikalischen Ausdrucks. Von so homogener Verschmelzung profitierte das gesamte Ensemble, allen voran Dietrich Fischer-Dieskau in der Rolle des dicken Fasses John Falstaff, des Belächelten und Lächelnden. Diese herrliche, menschlichste aller Figuren ist eine seiner schönsten, rundesten und reifsten Leistungen geworden. Was auch immer hin und wieder kritisch zu seinem Gesang zu bemerken war, hier wichen alle Mängel einer erfüllten und durchgefeilten Darstellung. Kein penetrantes Pointieren des verbalen Details mehr, keine expressiven Drücker auf einzelne Silben, kein sinnloses - damit verbundenes - ins-Zentrum-spielen, wie es noch in der Berliner "Traviata" im Vorjahr auffiel. Fischer-Dieskau bringt für den Saufaus und Prahlhans, für seine Eskapaden, seine Pleiten und seinen souveränen Abschied das rechte Maß an uneitler Selbstironie mit, an Distanz, die ihn schon während seiner Ausflüge auf verbotenes Terrain sich selbst mit zwar heiterer Zufriedenheit, aber auch mit unernster Spielermiene zuschauen läßt.

Man hat dem Sänger lobend bescheinigt, daß er nunmehr zum italienischen Stil, zum Belkanto gefunden hätte. An anderer Stelle wieder hat man ihm angekreidet, daß er dieses Ideal noch nicht erreicht hätte. Es ist müßig, darüber zu streiten, weil es das Problem in dieser letzten Oper Verdis nicht gibt. Wer es zur Diskussion stellt, verwechselt "Falstaff" mit "Othello" oder mit der mittleren großen Trias "Rigoletto"-"Traviata"-"Troubadour", Opern, in denen noch triumphale Bögen, schmelzende Kantilenen und atemberaubende Fermaten Liebe und Tod, große und niedrige Gesinnung klangmächtig begleiten. Im "Falstaff" verfeinern, sublimieren sich die Linien so sehr, wird die psychologische Durchleuchtung vor allem der Zentralfigur bis in den letzten Winkel hinein so unbarmherzig vorgetrieben, daß die Aufspaltung der Melodie in die Floskel schon die Belebung kleinster Partikel, Intervalle, ja, des Einzeltons mit nuanciertem Klang, eben mit Ausdruck fordert. Satte Italianitá der Stimme ist weniger zu fordern, wohl aber leichteste, geschmeidige Führung und äußerst differenzierte Behandlung der Ausdrucksregister. Fischer-Dieskau erfüllte sie, und durch seine hohe Intelligenz, seinen Witz und seine Kunst der Verwandlung stand auf der Bühne zwei Stunden lang im Zentrum nicht der einseitig festgelegte Typ des jämmerlichen Schwadroneurs, sondern ein schwacher, im Grund liebenswerter Mensch mit seinem Widerspruch. Rolando Panerai war als eifersüchtiger Herr Ford dem Ritter aus dem Gasthof zum Hosenband ein profilierter Widerpart in Stimme und Darstellung, Gerhard Stolze sang und spielte mit virtuos gesetzten Akzenten einen zur Karikatur hin überzeichneten Dr. Cajus, ein trockenes, ausgedörrtes Häuflein Mensch, Tropf und Widerling zugleich. Herrlich Murray Dickie und Erich Kunz als Diener-Hallodris Bardolf und Pistol, ein wenig blaß - und zusammen mit den nicht sehr berückenden Ännchen-Kantilenen Graziella Sciuttis der sängerische Minuspunkt der Aufführung - der Fenton Joan Oncinas. Untadelig und das hohe Niveau der Einstudierung mühelos im Gesang wie auch im Spiel haltend, präsentierten sich Ilva Ligabue als Mrs. Ford und Hilde Rössel-Majdan als Meg Page. Krönend vermehrte Regina Resnik als Mrs. Quickly das Duett der von Falstaffs Liebe Betroffenen zum Verschwörertrio: sie gab die Impulse, ihr waren Höhepunkte an den Nahtstellen der Aktion zu danken.

Luchino Visconti führte Regie. Er erdachte zusammen mit Ferdinando Scarfiotti auch die Bühnenbilder und die Kostüme. Eine einfache, klare Szene hatte er aufgebaut, dem turbulenten Spiel dienlich, ohne mit Gags aufzuwarten. Windsor um die Zeit des vierten Heinrich ist in Wien anzusehen wie ein beliebiges niederländisches oder englisches Dorf, in dem der Meisterregisseur die Geschichte vom verliebten Sir John und seinen Widersachern spielen läßt. Visconti erwies sich als der ideale Partner für Bernstein und für das Ensemble. Welch eine Fähigkeit des großen Atems bei gleichzeitiger Akribie einer Detailarbeit bis in die kleinste Bewegung hinein! Zu bemerken an Bardolf und Pistol, deren brillante, makellos saubere Arbeit ein Kabinettstück für sich war. Visconti ließ die Duo-Kumpanei des vulgär-witzigen Kontrapunkts jede Pointe auskosten, ohne das Niveau seiner geistreichen Führung nur um den Millimeter zu senken.

Mit der Souveränität des Meisters auch die Andeutung der Zwischentöne in der Titelgestalt. Die Schattierungen vom Bramarbas zum Weltklugen waren mit solchem Raffinement gemischt und aufgetragen, daß das Resultat umschlug in die Demonstration einfachsten, prallsten Lebens. Dieselbe genaue Hand, das scharfe Auge für die anderen Solisten, für die Regie des Chores - bis zu dem Augenblick, da (nach einer zauberhaften Verwandlung des Herbergenvorplatzes in den nächtlichen Park von Windsor, der einen unvergeßlichen, magischen Akzent in Viscontis bewundernswerter Arbeit setzt) der Spuk bei Hernes Eiche beginnt, sich lösend in die befreiende Schlußfuge. Man kann weder annehmen, daß dem Zauberer Visconti hier der Atem noch die Lust ausging. Wenn er jedoch das Finale bewußt so "komponiert" hat, ist es ihm mißlungen: öde Opernschablone, steriles Klischee breiteten sich aus, drohten, im langweiligen Einerlei den originellen Zauber des Vorhergegangenen vergessen zu machen. Ohne solche Ernüchterung wäre die Sensation vollkommen gewesen. Aber auch so blieb der Gesamteindruck noch eine, die gebührend von den Wiener Opernfreunden quittiert wurde.

Das Staatsopernpublikum dosiert seine Sympathien mit genauester Abstufung der Lautstärke. Der Beifall steigerte sich bewußt, konzentrierte sich vor allem auf Bernstein, prasselte donnernd los bei seinem Erscheinen vor dem Vorhang, durchbrach Dämme und Schleusen, wollte nicht aufhören. Teils zu Recht: Wien hatte einen der bedeutendsten, der außergewöhnlichen Dirigenten unserer Zeit erlebt. Ein wenig aber auch ungerecht: die bruchlose Vereinigung von Dirigent, Orchester, Soli, Chor und Regie erst sollte Grund zum großen Jubel sein, denn nur sie, nicht der einzelne vermag letzten Endes der genialen Partitur Genüge zu tun. Bernstein wußte, was er tat, als er mit naiv-raffiniertem Show-Talent Dank und Begeisterung der Wiener mit Küssen und Umarmungen an Fischer-Dieskau, Visconti und das Ensemble weiterleitete.

Hans Otto Spingel

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