Zum Liederabend am 18. Mai 1966 in Kassel


Kasseler Post, 20. Mai 1966

Triumph eines großen Sängers

Dietrich Fischer-Dieskau sang Schumann-Lieder im ausverkauften Festsaal der Kasseler Stadthalle

Man mag eine Musikzeitschrift, ein Rundfunkprogrammheft aufschlagen oder irgend einen Festspielbericht durchblättern, man begegnet dem Namen Fischer-Dieskau. Es ist wohl nicht zuviel gesagt, ihn als den bekanntesten und beliebtesten Sänger unserer Zeit anzusprechen. Sein Name füllt jeden Konzertsaal, Wochen vor dem Auftrittstermin sind Karten Mangelware. In Kassel war es nicht anders.

Daß diese Stimme Menschen in aller Welt begeistert, anrührt und entflammt, liegt nächst der erlesenen Stimmkultur an ihrer Beseelung, an dem Sichtbarmachen eines Gefühlsbereichs, den der moderne Mensch und auch Interpret oft als abgetan betrachtet. Distanz, kühle Perfektion, das ist zeitgemäß. Aber das Publikum reagiert anders. Was es ersehnt, Fischer-Dieskau vermag es zu geben. In seinem künstlerischen Gestalten aus innerem natürlichen Erleben, diesem Einklang von Natur und Kunst, mag das Phänomen Fischer-Dieskau beschlossen liegen. Und eben diese Legierung von schlichter Volkstümlichkeit und höchstem handwerklichen Können findet sich auch bei Schumann. Daher erscheint es nicht verwunderlich, daß in den Programmen Schumanns Liedschaffen einen bevorzugten Platz einnimmt. Wir erinnern an den Zyklus "Dichterliebe", den der Sänger 1962 am gleichen Orte gestaltete.

Wenige können es sich leisten, an einem Abend nur Schumann zu singen und unter Verzicht auf erprobte Wirkungen und Effekte auch das Unpopuläre anzubieten. Nicht alle Liedgaben werden bekannt gewesen sein. Damit geschieht etwas, dem selbst große Interpreten aus dem Wege gehen: ein Publikum zu erziehen. Und hier muß bedauert werden, daß der Künstler sein sängerisches Können und seine Erfahrung nicht lehrend weitergibt, er hat keine Schüler.

Romantische Erfülltheit kennzeichnete den Liederabend, der eine Auswahl aus verschiedenen Liedkreisen (Rückert, Heine, Geibel, Goethe, Eichendorff) brachte. Ihre oft gegensätzliche Stimmungsatmosphäre gab dem intelligenten, hochgebildeten Sänger Gelegenheit, Breite und Umfang seiner sängerischen wie gestalterischen Mittel voll auszuschöpfen. Sie sind in so reicher Fülle vorhanden, daß gelegentlich, zumal im ersten Teil der Liedfolge, die Emotion zu ungewohnter dynamisch-dramatischer Ausweitung führt. Aber das altvertraute Signum des begnadeten Sängers blieb doch unverkennbar: Betörende Wärme der biegsamen geschmeidigen Stimme, die jeder Regung, jeder vom Wort gezeugten Empfindungsnuance Ausdruck gibt, die strahlend aufleuchten und im zartesten Pianissimo verhauchen kann, am tiefsten dort anrührt, wo sie behutsam geführt wird. Unwahrscheinlich dieses Umsetzen des Dichterwortes in musikalische Poesie, das Charakterisieren von Situationen (Zigeunerliedchen, Hidalgo), die Kontrastsetzung z.B. in Heines "Mein Wagen rollet langsam", die feinen tonmalerischen Nachzeichnungen im "Schneeglöckchen", das Nachweben der zarten überströmenden Liebesgesänge an die bräutliche Clara Wieck. Man genoß eine nachschöpferische Inspiration, deren Einssein von lyrischer Verinnerlichung und männlicher Ausdruckskraft sich in seltener Vollkommenheit vollzog.

Günther Weißenborn umhüllte die sängerische Gabe pianistisch mit kongenialer Empfindungsstärke und feinster, sensibler Klanggestaltung, die aus der Klavierbegleitung ein Klaviergedicht werden ließ. Der Stadthallenfestsaal hat schon manche Hochstimmung nach künstlerischem Erlebnis gesehen, doch diese sprengte alles Gewohnte. Selbst eine Serie von Zugaben vermochte den Enthusiasmus des Publikums, unter dem auch die Gattin des Sängers, Ruth Leuwerik, zu finden war, kaum zu beschwichtigen. [...]

Georg Rassner

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