Zur Oper am 16. Juli 1966 in München


Süddeutsche Zeitung, 16. Juli 1966 

Jetzt wird der Münchner Sommer festlich

Auftakt der Opernfestspiele mit "Falstaff" und "Zauberflöte"

Von heute an steht München wieder für die Dauer eines Monats im Zeichen der Opernfestspiele. Aus der ganzen Welt kommen die Festspielgäste in die bayerische Landeshauptstadt. In der Maximilianstraße und am Max-Joseph-Platz wehen die Fahnen, und die Geschäfte im Bereich des Nationaltheaters haben ihre Dekorationen wieder auf große Oper eingestellt.

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Bekannte Namen auf dem Programm

Das Münchner Opernensemble mit seinen vielfach in der ganzen Welt gefragten Solisten, das Orchester, die Techniker, Bühnenarbeiter und alle hilfreichen Geister im Bereich der Bayerischen Staatsoper sind also einen Monat lang voll beschäftigt – ähnlich die seit Jahren zum Festspielsommer dazugehörigen Gäste wie Lisa della Casa, Jean Madeira, Anneliese Rothenberger, Teresa Stratas, Walter Berry, Dietrich Fischer-Dieskau, Jess Thomas, Eberhard Wächter. Aber auch andere namhafte Künstler wurden heuer erstmals zu den Festspielen hinzugezogen: Hilde Güden (Elvira, Figaro-Gräfin), Renate Holm (Papagena), Emilia Ravaglia (Königin der Nacht), Rita Streich (Susanna, Despina), Franz Crass (Sarastro, Donald Grobe, [...]

Gespannt sieht man nun der heutigen Eröffnungsvorstellung entgegen: Verdis Falstaff, mit Dietrich Fischer-Dieskau in der Titelpartie. Diese lyrische Komödie, die ein lächelndes Abschiednehmen des achtzigjährigen von der Opernbühne ist und in der Verdi alle Bitterkeit des Alterns in Heiterkeit aufgelöst hat, fand ihren Weg zum Herzen des Publikums erst eigentlich in jüngster Zeit. Heute wird der Falstaff geliebt, weil das heutige Publikum seine feine, untergründige Psychologie immer mehr zu verstehen scheint. 1963 war er – wie heute inszeniert von Oberspielleiter Dr. Hans Hartleb und ausgestattet von Ekkehard Grübler – in Buenos Aires unerwartet ein riesiger Erfolg. Die Visconti-Inszenierung dieses Jahres an der Wiener Staatsoper, unter Leonard Bernstein und ebenfalls mit Fischer-Dieskau, stellt einen Höhepunkt in der Aufführungsgeschichte des Falstaff dar.

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Für Dietrich Fischer-Dieskau, der grundsätzlich an einem Opernhaus nur diejenigen Partien singt, die er dort auch für die Premiere einstudierte – und auch dies nur innerhalb von Festwochen, - handelt es sich seit 1956 nun um seinen vierten Falstaff. Diese Partie ist mit ihm und durch ihn zu Ruhm gelangt. Die erste Einstudierung war 1956 für die Berliner Oper unter Kurt Ebert. Als Fischer-Dieskau den Falstaff dann 1960 auch unter Professor Heinz Arnold für das Münchner Prinzregententheater, heuer unter Visconti für Wien und nun unter Hartleb für das Münchner Nationaltheater neu aufnahm, ist er sich dabei, wie zu erfahren ist, in der Auffassung der Partie in den Grundzügen gleichgeblieben.

Fischer-Dieskau hat sich in den letzten Jahren, außer an Berlin, nur noch an München relativ stark gebunden. Auch jetzt fehlte er bei keiner Probe. Weitere Festspielverpflichtungen hat er heuer lediglich mit einem Lieder- und einem Arienkonzert für Salzburg übernommen. Sein nächster Falstaff folgt im Januar/Februar 1967 unter Zefirellis Regie in London. In der heutigen festlichen Premiere singen außerdem: Thomas Tipton den Ford, Donald Grobe den Fenton, Leonore Kirschstein die Alice Ford, Erika Köth das Ännchen, Jean Madeira die Mrs. Quickly, Hertha Töpper die Mrs. Meg Page, Georg Paskuda den Dr. Cajus, Friedrich Lenz den Bardolf und Max Poebstl den Pistol.

Charlotte Nennecke


Süddeutsche Zeitung, 18. Juli 1966     

    

Falstaff gibt den Auftakt

Dietrich Fischer-Dieskau in der Verdi-Neuinszenierung des Nationaltheaters

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Anmut, Beweglichkeit, Beschwingtheit - diese drei Voraussetzungen sind für die musikalische und szenische Realisierung der "Falstaff"-Partitur, die wie jene der "Meistersinger" auf dem Fundament des hellen, strahlenden C-Dur ruht, unerläßlich. Was die auf dieser Grundtonart basierte und aus einer eher einfachen als komplizierten (wenn auch durch vielerlei Überraschungen berückenden) Harmonik entwickelte Klangfarbigkeit betrifft, so konnte man sie sich in ihrer kammermusikalischen Luzidität und Transparenz, in der Ausformung ihrer solistischen Finessen von den karikierenden Bläsern bis zu den oszillierenden Streichern (in der spinnwebfeinen Elfenmusik des letzten Bildes) kaum delikater wiedergegeben denken als durch Joseph Keilberths Klangsensibilität und das unter ihm in Höchstform spielende Orchester. [...]

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"Falstaff" ist, seiner musikalischen Faktur nach, ein intimes Stück. Zu große Bühnen drohen manchen seiner Reize zu verschlingen. Hans Hartleb, der Regisseur der Neuinszenierung, wußte dieser Gefahr zu begegnen, indem er eine kleinere eigentliche Spielfläche auf die Riesenbühne des Nationaltheaters stellte, deren Tendenz zur Intimisierung indessen durch das räumlich allseitig offene Bühnenbild Ekkehard Grüblers auch wieder in Frage gestellt wurde. Eine leicht manierierte Shakespeare-Bühne - als mit Fliederbüschen besetzter Garten im zweiten Bild wurde sie mit Applaus bedacht - wirkte in den Innenszenen durch die in ihrer bilddramaturgischen Funktion nicht recht klaren vielen Fenster, die von oben hereinhingen, zu unruhig, gewann aber im dritten Akt den (leicht ironisch getönten) romantischen Zauber einer von koboldischer Maskerade erfüllten Sommernacht.

Hartlebs Inszenierung spitzt sich auf die Polarität des außenseiterischen Originals (Falstaff) und der Familiarität der Bürger von Windsor zu, welche aufs amüsanteste zutage tritt, wenn sie, wie in der umwerfend komischen, strategisch angelegten Aufspürung des vermeintlichen Liebhabers in der Wohnung von Mrs. Alice Ford, zu rein choreographischer Stilisierung führt. Das choreographische Element herrscht überhaupt in der gleichwohl ganz ungezwungen wirkenden Führung der Ensembles vor - die Gartenszene des zweiten Bildes ist ein Glanzstück an brillanter Gruppenbewegtheit. Daß es in den Dialogszenen gelegentlich zu Überspieltheiten kam, mag wohl am Premierenimpuls gelegen haben; hier etwas zu dämpfen, selbstverständlich ohne den von allen Akteuren vom ersten Augenblick an hinreißend entwickelten Elan zu mindern, wird Sache der kommenden Aufführungen sein. Jene völlige Verschmelzung von Buffa und Charakterkomödie aber, das wahrhafte Ereignis, das Verdis geniales Alterswerk in der Operngeschichte darstellt - es wurde unter Hartlebs leichthändiger, das Karikaturistische (etwa in der Figur des Dr. Cajus) meidender, das Ironische aber ständig präsent haltender Regie Gegenwart und gab seiner Inszenierung das Signum des Authentischen.

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Den exemplarischen künstlerischen Rang aber gab der mit Beifallsstürmen bedachten Aufführung die Homogenität des Ensembles, das sich um den Protagonisten Dietrich Fischer-Dieskau scharte und keinerlei Gefälle zwischen ihm und seinen Mitspielern aufkommen ließ. Es war (in einer Mischung aus der alten und übrigens vortrefflichen Kalbeckschen Übersetzung mit einer ungenannten neuen) im Parlando wie im Arioso ein Gesangsfest und eine Widerlegung der in Italien lange gehegten Meinung, daß der alte Verdi den Reiz des Belcanto "vergessen" habe. Die zarte und süße, freilich nicht mehr schwelgerische Lyrik der Liebesgesänge von Ännchen und Fenton - kann man sie sich berückender gesungen denken als von Erika Köth und dem biegsamen, jugendfrischen Tenor von Donald Grobe, die das Pärchen auch reizend jugendlich, nicht neckisch verzärtelt, sondern voller Munterkeit und Drolerie spielten? Leonore Kirschstein und Hertha Töpper sind die anmutigen, schalkhaften Damen Alice Ford und Meg Page, die Falstaff so lustvoll hereinlegen, unterstützt von der Gevatterin Quickly, als die, herrlich, Jean Madeira in einer ganz neuen Auffassung erscheint: Keine "komische Alte", sondern eine durchtriebene, bildschöne Person aus der Verwandtschaft von Shakespeares Frau Hurtig, der die Lust am Komödienspielen in allen Gliedern zuckt und die in der komischen Akzentuierung ihres prachtvollen Contr’alto immer neue Nuancen findet. Thomas Tipton (man sollte ihm ein anderes Kostüm anziehen) steigert seinen Mr. Ford in dem grandiosen Eifersuchtsmonolog zu der von Verdi gewollten monumentalen Parodie auf alle "othellische" Leidenschaft, ein köstlicher Choleriker, der, darin seinem Widersacher Falstaff ähnlich, am Schluß doch eine überlegene Haltung findet. Georg Paskuda gibt den Dr. Cajus sehr ergötzlich nicht als krähendes gallisches Hähnchen, sondern als einen geschniegelten Pedanten.

Falstaff, umgeben von seinen versoffenen, halb intrigeneifrigen, halb gravitätischen Trabanten Bardolf und Pistol (Friedrich Lenz und Max Proebstl), beide herrliche Buschklepper-Typen): Dietrich Fischer-Dieskau ist in diese humoristische Monumentalgestalt so hineingewachsen, daß man nur an ihre einstigen großartigsten Verkörperungen auf der Schauspielbühne, an Werner Krauss oder Heinrich George als vergleichbar denken kann. Von George hat er die saftige Vitalität, die genüßliche Aufgeblasenheit, von Krauss den in aller Ramponiertheit noch immer leuchtenden Abglanz des Ritterlichen und Kavalierhaften, den graziösen Geist im ungefügen Leib und den fast unmerklichen hauchzarten Schatten von Altersmelancholie. Von der souveränen Intelligenz der musikalischen Gestaltung braucht man bei Fischer-Dieskau ebensowenig noch zu reden wie von der die feinsten Feinheiten der Phrasierung, der Deklamation, der Tongebung erfassenden gesanglichen Ausformung der Partie - das alles ist Vollendung sowohl im Zeichen Verdis wie Shakespeares, und wenn er am Schluß mit seinem "Alles ist Spaß auf Erden" die Führung der Fuge übernimmt, so klingt das in seinem Mund wie der Wahrspruch einer divinen Einsicht und Weisheit, von der man nur sagen kann: Wollte Gott, daß die ganze, so arg mittelmäßige Menschheit dieser Zeit ihrer teilhaftig werde.

K. H. Ruppel


   

     Münchner Merkur, 18. Juli 1966     

    

Im Nationaltheater: Hans Hartleb inszeniert Verdis letzte Oper

Falstaff Fischer-Dieskau eröffnet die Festspiele

    

Nicht Münchens Hausgott Richard Strauss, auch nicht Wagner oder Mozart eröffneten die Opernfestspiele 1966, sondern Verdi. München folgt dem Beispiel Salzburgs, wo man ebenfalls das Tor zum Süden weit geöffnet und Verdi Hausrechte zugebilligt hat. München kann sich aber auch auf seine eigene Tradition berufen, da Clemens Krauß bereits in den dreißiger Jahren Verdi und Rossini auf den Festspielthron erhob.

Bezeichnend für Verdi, daß sein letztes Stück nicht, wie bei fast allen deutschen Komponisten, ein Opus metaphysicum wurde, sondern ein heiteres Stück, das sprudelnde Leben selbst. Beschwingtheit, Witz und ironische Überlegenheit sind seine Leitsterne, und sie sind es auch in Hans Hartlebs Inszenierung.

Seine Regie lenkt von der Musik nicht ab, sie führt zu ihr hin, verbindet sich mit ihr, ja zwingt dazu, aufs Orchester zu hören. Dabei gibt sie der Bühne alles, was nötig ist: die Drastik der Gasthofszenen, die sprühende Beweglichkeit der Gartenszene, eine Sieben-Schwaben-Burleske in Fords Haus und den Schimmer "Sommernachtstraum" im Schlußbild. Und ihr Radius reicht vom psychologisch motivierten Heben des kleinen Fingers bis zu den Possenregistern kräftiger und Shakespeare immer willkommener Commedia.

Auch der Bühnenbildner Ekkehard Grübler trifft genau die "Falstaff"-Atmosphäre, den Schwebezustand zwischen Realem und Angedeutetem. Seine warm getönten Bilder haben den großen Vorzug des Praktikablen. Hier sei vor allem der labyrinthische, farblich prächtige Fliedergarten gerühmt. Selten konnten die verschiedenen Gruppen sich so natürlich und doch unbemerkt voneinander produzieren.

In Fischer-Dieskaus Interpretation rechtfertigt sich überzeugend der maßlose und Maß für sich nicht anerkennende Anspruch des kindlichen Menschen. Wahrhaftig, was soll ihm "Ehre"? Was soll etwas Relatives und Bedingtes diesem Un-Bedingten? Und es erweist sich eben die großartige Souveränität des Kindlichen, wenn er, der von allen Gefoppte, die Freiheit hat, das Zeichen zum göttlichen Lachen zu geben.

Verdi hat den possierlichen Dicken mit einem Sprühregen behender, polternder, galanter und graziöser Phrasen von tausend aufschwirrenden kleinen Noten ausgestattet. Mit einer Überlegenheit ohnegleichen gebietet Fischer-Dieskau über sie, wobei jeder Ton seinen natürlichen Reflex in Mimik und Gestik bekommt.

Was spiegelt nicht alles dieses Kindergesicht? Erstaunen, Belustigtsein, scheinheilige Anteilnahme, wenn Ford von seiner angeblich unerwiderten Liebe zu Alice spricht, unverhüllte kindliche Begehrlichkeit, wenn sein Auge den Geldbeutel Fords umkreist. Und zur plumpen Körperfülle setzt er den Kontrast flink possierlichen Ganges und graziöser Beweglichkeit. Das alles ist durch und durch gefeilt, wird von höchster Intelligenz gesteuert und erweckt doch den Eindruck der Unmittelbarkeit, des gleichsam Improvisierten.

Der "Falstaff" verlangt von allen Darstellern Äußerstes an Präzision, Musikalität, an Ensemblegeist und nicht zuletzt an Entsagung. Von der Titelfigur abgesehen, gibt es keine Rolle, um die sich ein Sänger reißen würde; und doch darf es keinen schwachen Stein in diesem Mosaik geben - jeder hängt von jedem ab.

Das Trio der lustigen Weiber führt mit hellem, blankem Sopran Leonore Kirschstein an; neben ihr in heiterster Spiellaune Hertha Töpper. Jean Madeira ist eine brillante Vertreterin unheilschwangerer, psychologisierter Rollen. Etwas von dieser Hochgestochenheit fließt auch hier in ihre Darstellung, die eine groteske und leicht exaltierte Note ins Spiel bringt. Das legen zwar die etwas fragwürdige Mrs. Quickly und ihre hochwichtige Mission nahe, fällt aber ein bißchen aus dem Stil der Aufführung.

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Mit einer geradezu allgegenwärtigen Verliebtheit erfüllen Erika Köth und Donald Grobe als Ännchen und Fenton die Bühne. Als strohtrockenen, hagestölzigen Widerpart dazu gibt Geog Paskuda den Dr. Cajus. Thomas Tipton legt seinen Ford so an, wie ihn Shakespeare und Verdi gedacht haben: Parodie eines eifersüchtigen Cholerikers und doch mit einer Spur Tragik. Ein wildes Landstörzer-Duo, schwankend zwischen Beflissenheit und Unverschämtheit, stellen Friedrich Lenz und Max Proebstl als Bardolf und Pistol hin.

"Falstaff" ist Verdis delikateste, geistvollste und am feinsten gesponnene Partitur. Sie genießt heute Snob-value, und viele, die sich für besonders feinhörig halten, nennen sie Verdis genialstes Werk. Tatsächlich ist "Falstaff" eine Oper für Feinschmecker, musikalischer Kaviar. Aber, um mit Ravel zu sprechen: "Kann man sich von Kaviar ernähren?" Immer wieder aufs höchste entzückt, spürt man bisweilen dennoch Verlangen nach einem Stück Brot. Und so glauben wir, daß Verdis genialste Opern eben doch die seiner mittleren Schaffensperiode sind.

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Joseph Keilberth trifft eine glückliche Mitte zwischen Shakespeareschem Gewicht und musikalischem Konversationston, zwischen Deutlichkeit des Details und dessen Verknüpfen zur dramatischen Linie. Manchmal merkt man den teuflisch schweren Ensembles an, daß sie teuflisch schwer sind. Aber das wird sich nach der Premieren-Nervosität noch einspielen. Keilberth läßt sich nicht zu unnötigen Geschwindattacken verleiten, vermeidet dynamische Verdickungen und die Überbetonung der zahlreichen instrumentalen Witze. So präsentiert sich das Werk in köstlich heiterem Fluß.

Als in der berühmten Schlußfuge menschliche Torheit wieder einmal zu lachender Weisheit verklärt worden war, dankte das animierte Festspielpublikum allen Mitwirkenden mit stürmischem Beifall.

Helmut Schmidt-Garre


    

     Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. Juli 1966     

   

Alte und neue Hausgötter

"Falstaff" und "Zauberflöte" bei den Münchner Opernfestwochen

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Italianità ist dieses Jahr reichlich vertreten, wenn auch, wie am Eröffnungsabend, in deutscher Sprache gesungen und – muß man hinzufügen – von Joseph Keilberth auch in deutscher Sprache dirigiert . Den Auftakt bildete ein Stück Theater der Grausamkeit mit versöhnlichem Ausgang, Verdis "Falstaff". Obgleich bereits ein Jahr nach der Uraufführung (1893) nach München verpflanzt, hat es erst in jüngster Zeit dort Wurzeln schlagen können. Bisher haben es sieben Inszenierungen im Durchschnitt zu jeweils zehn Reprisen gebracht. Erst im letzten Jahrzehnt konnte mit Dietrich Fischer-Dieskau in der Titelrolle das Eis gebrochen werden. Kein Falstaff kommt derzeit in Deutschland noch um die Aufgabe herum, letztlich nicht nur über die Widrigkeiten des Lebens und die Rachelust sittenstrenger Kleinbürger, sondern ganz einfach auch über Otto Nicolais "Lustige Weiber" triumphieren zu müssen; ein innerdeutsches Problem, zu dessen Lösung die deutsche Sprache geradezu unentbehrlich wird, wenn sie auch unweigerlich zur Hans-Sachsiade macht, was mehr dem Geist eines Boccaccio entsprungen zu sein scheint.

München zeigte in dieser Eröffnungspremiere sogleich, was derzeit fast ausschließlich seine Stärke ist: das Gesangsensemble, bzw. die Anziehungsfähigkeit auf illustre Gäste. Immerhin hat Fischer-Dieskau dieses Jahr München dem Salzburger Festspielhaus vorgezogen und sich nochmals des deutschen Gesangsparts angenommen, nachdem er erst vor kurzem unter Viscontis Regie in Wien brillieren konnte (vgl. F.A.Z. vom 17. März) und demnächst einem Zefirelli in London wiederum als italienisch singender Protagonist dienen wird. Als Stars zu nennen sind ferner Donald Grobe als Fenton und besonders Thomas Tipton als Mr. Ford. Zu welchem Format sich Fischer-Dieskau in der Rolle des Falstaff inzwischen erhoben hat, war noch am zweiten Abend abzulesen, da er leider erkrankte und durch Benno Kusche ersetzt wurde: ohne den schwergewichtigen Widerpart schwang sich Thomas Tipton, glänzender Komödiant und großes Stimmformat, zum Helden des Abends auf, was begreiflicherweise zur Entstellung der bösen Farce wird. Nichts schlimmer in diesem Stück, als wenn der edle Ritter aus dem Geschlecht eines Don Quichotte, Außenseiter in einer selbstbewußt gewordenen Bourgeoisie, in contumaciam verurteilt wird.

Das Inszenierungsmodell Hans Hartlebs mit der Ausstattung Ekkehard Grüblers war lang zuvor in Buenos Aires – Deutschlands heimlicher Probenbühne – vorbereitet. Erstaunlich, daß sie sich jetzt in München dennoch nicht völlig ausgewogen präsentierte. Der Kompromiß zwischen Fin-de-siècle-Buffa und elisabethanischer Posse, dargeboten auf einem "shakespeareschen" Spielpodest, ging nicht auf. Was in Leipzig von Joachim Herz erprobt, in Wieland Wagners Bayreuther "Meistersingern" zum Welterfolg wurde, blieb in München dekoratives Element. Die sich auf das Spiel menschlicher Masken konzentrierende Wirkung blieb aus, weil das Podest als Bühnenmitte überspielt und auch von oben durch schwer lastendes, aus Balken gefügtes Füllmaterial bedrängt wurde. Das Gartenbild war für das Zeremoniell der Heimlichkeiten praktikabel, indessen beschwört der Wald aus lila Fliederbüschen zu sehr jenes Johannisnacht-Parfüm, das ja auch in den "Meistersingern", wie man zuzeiten glaubte, nicht schon die halbe Komödie ausmacht.

Was indessen diese Münchner Neuinszenierung dennoch zum wirklichen Gewinn auch für das Repertoire macht, ist die musiktheatralische Maßarbeit, mit der sie der Partitur auf den Leib geschneidert ist. Das Spiel des Ausdrucks und der Gesten ist ohne Pedanterie so musikalisch-sprechend, daß auf manches Überzeichnen der bewegten Aktion ruhig hätte verzichtet werden können; ja, die Aufführung bereitet sogar die schließlich doch zu bevorzugende italienisch gesungene (und daher vom größten Teil des Publikums wörtlich nicht zu verstehende) Darbietung vor.

Auch daß solche Textgenauigkeit des szenischen Teils der Phantasie des Regisseurs noch hinreichend Spielraum läßt, zeigte der Abend: in das Damenensemble (Erika Köth als Ännchen, Leonore Kirschstein und Hertha Töpper als Mrss. Ford und Page) brachte Lilian Benningsen eine neue Note spitzzüngiger Intriganz.

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Der Applaus, mit dem ein wohlgekleidetes Festspielpublikum die ersten Premierenabende bedachte, war von gleicher Heftigkeit, mit der Wochen zuvor der Sturm auf die Theaterkassen eingesetzt hatte.

Friedrich Hommel


   

     Die Welt, 18. Juli 1966     

   

Galavorstellung für die Sänger

Eröffnung der Münchner Festwochen mit "Falstaff" und "Zauberflöte"

    

Die Münchner Festspiele beweisen Mut. Nicht nur, daß sie aus der programmatischen Bannmeile mit Strauss, Mozart und Wagner heraustreten und diesmal eine Verdi-Oper als Initial gesetzt haben; sie greifen auch gleich zum Schwierigsten, was Verdi für die Bühne geschrieben hat, zum "Falstaff", lassen am Tag darauf die nicht minder schwierige "Zauberflöte" folgen und kündigen als weitere Neuinszenierungen – gleichsam zur Bekräftigung – nochmals einen Verdi an, "Simone Boccanegra" in Italienisch und im Freien (Apothekenhof der Residenz), sowie die keineswegs repertoiregängige "Agrippina" Händels. Darum gruppiert sich dann das übrige von "Don Giovanni" über "Meistersinger" bis "Rosenkavalier".

Diese Eigenwilligkeit, zumindest für Münchner Verhältnisse, gilt es nun freilich nach den ersten beiden Premieren etwas näher zu betrachten. Da steht Dietrich Fischer-Dieskau als Falstaff auf der Bühne: die löckchen-umkränzte Jupiterglatze mit Vorliebe über Trinkgefäße gebeugt, Bonhomie im mächtigen Bauch und in den lächelnden Grübchen, genau wie 1957 in Berlin, 1960 schon einmal in München, vor wenigen Monaten in Wien und demnächst in London.

Regisseure, die natürlich wechselten, scheinen dieser Gestalt kaum mehr etwas anzuhaben. Sie ist von vornherein fixiert oder hat eben wenig Variationsbreite. Und man merkt, daß der erste Teil der ungewohnten Festspielplanung bestenfalls ein Geschenk auf Gegenseitigkeit ist. Fischer-Dieskau möchte paradieren – und er tuts. Nur hat er sich die Rolle inzwischen so anverwandelt, daß sie kaum noch eine Rolle ist. Der Falstaff, den Boito und Verdi meinten, ist eigentlich nicht mehr zu sehen und – leider – auf weiten Strecken auch nicht mehr zu hören.

Drumherum arrangierte Hans Hartlieb einen ununterbrochenen Strom szenischer Munterkeit. Da wird mit Beweglichkeit nicht gegeizt, der musikalische Witz der Partitur gestisch nachvollzogen,. Und dies hilft ihm selbstverständlich nicht auf die Sprünge. Man freut sich direkt, wenn Donald Grobe das As-Dur-Lied des Fenton einmal in ruhiger Stellung singen darf. So geschehen allerdings erst im letzten Bild, der Herren-Szene im nächtlichen Park, die ganz von der Spiritualität verdischer Ensemble-Sätze erfüllt scheint und dann nahtlos in das musikalische Tableau der Fuge "Alles ist Spaß" mündet. Von hierher ist das ganze Werk zu verstehen: Weit davon entfernt, ein buffoneskes Lustspiel zu sein, haben all seine dramatischen Hakenschläge und Verwicklungen die abgezirkelte Figuration eines mehrstimmigen Kontrapunktes. Diese fast ornamentale Anlage sichtbar zu machen, wäre die Aufgabe der Regie.

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Dabei hatte Ekkehard Grübler gerade die Sparsamkeit der Shakespeare-Bühne anvisiert. Nur andeutende Raumelemente standen auf dem erhöhten Spielpodest; von oben kam ihnen ein Gehänge aus fachwerkartig gegliederten Rechtecken entgegen, so daß niemals der Eindruck von Kahlheit oder Leere entstand. Allerdings blieb auch bei ihm manches in der hübsch anzuschauenden Spielerei stecken. Ohne die nötige formale Logik, vor allem ohne verbindliche Konsequenz fürs Ganze. In den beiden letzten Bildern war das bis dahin beibehaltene Gehänge plötzlich verschwunden, und nur ein sowieso überflüssiger Gitterschmuck am oberen Bühnenabschluß machte sich anheischig, für Zusammenhang zu sorgen.

Die fehlende Linie einer solchen Aufführung ist durch nichts zu ersetzen. Man kann höchstens über der Musik vergessen, weiter nach ihr zu fragen. Da Joseph Keilberth aber bei merkwürdig zurückhaltenden Tempi mehr gewähren ließ, als selber Akzente zu setzen, war auch von da her keine entscheidende Hilfestellung zu erlangen. Die erstaunliche Partitur des achtzigjährigen Verdi blieb den dezidierten Nachweis ihrer Erstaunlichkeit schuldig. Man könnte sagen, es war eine Wiedergabe für Kenner. Und ihnen kam dann die festspielmäßige Sängerbesetzung in manchem entgegen.

Ein reines Vergnügen war etwa die Mrs. Quickly von Jean Madeira, nicht überzogen, sondern nur genau mit der souveränen Heiterkeit gesungen, mit der sie komponiert ist. Leonore Kirschstein als Mrs. Ford hatte es fast schwer, sich demgegenüber als eigentliche Anführerin des Frauenquartetts durchzusetzen. Und gerade weil sie sich dabei nicht anstrengte, einfach auf ihr tragfähiges Material und ihre sängerische Sicherheit vertraute, gelang es ihr. Eine ähnliche Gelöstheit gab es auf der Männerseite bei Thomas Tipton und Donald Grobe. Da wurde etwas vom Geist der Musik erkennbar.

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Ulrich Dibelius


    

     Presse und Datum unbekannt     

   

Glanzvolles Opernfest im Nationaltheater

    

Die Eröffnung der Münchner Opernfestspiele mit Verdis Falstaff am Samstag im Nationaltheater war ein gesellschaftliches und künstlerisches Ereignis. Das Premierenpublikum dankte den Sängern und allen an der Neuinszenierung Beteiligten, voran Dietrich Fischer-Dieskau als Sir John Falstaff, mit nicht enden wollendem Beifallsorkan.

[...]

cn

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