Zum Konzert am 5. Oktober 1966 in Berlin


Berliner Morgenpost, 7. Oktober 1966

Zwei Visionen hat der Heilige

Bei den Philharmonikern: Michael Tippett und Reinhard Peters

Einige Buh-Rufe gegen Michael Tippett in der Philharmonie gaben zu verstehen, daß der Engländer sein Oratorium "Die Vision des heiligen Augustinus" gegen Mißdeutungen nicht genug abgeschirmt hat. Unklar ist zunächst der Titel, denn es handelt sich um zwei Visionen. Die erste hatte Augustinus in der Nähe von Mailand, und sie bekehrte ihn endgültig zum Christentum. Die zweite wurde ihm am Hafen von Rom zusammen mit seiner Mutter zuteil, und er erlebte bei dieser Gelegenheit wenn nicht die Ewigkeit, so doch ein beseligendes Vorgefühl davon.

Verbrämt mit allerlei theologischen Überlegungen, finden sich die Berichte von beiden Visionen in den lateinischen "Bekenntnissen" des Kirchenvaters, dessen Text Tippett für sein Werk ausgewählt hat. Leider gibt er dem Chor und dem Solo-Bariton gleichzeitig verschiedene Texte und beraubt sie dadurch der Verständlichkeit.

Überdies zeigte die Wiedergabe der "Vision", daß Komponisten durchaus nicht immer die besten Interpreten ihrer eigenen Werke sein müssen: Das Orchester übertönte oft gar zu sehr die Sänger.

Dabei war die brillante Bewältigung des über Gebühr vertrackten Soloparts durch Dietrich Fischer-Dieskau ebenso zu bewundern wie die Leistung des RIAS-Kammerchors.

Auch Catherine Gayers Soprankoloraturen beteiligten sich locker und natürlich an den Tonmalereien auf den Spuren des Textes. Trotzdem: Das Unbehagen war am Schluß ungeteilt.

Nach der Pause dieses Philharmoniker-Konzerts mit "Musik des 20. Jahrhunderts" löste Reinhard Peters den Selbstinterpreten aus England ab und stand überlegener, sicherer als je zuvor am Pult. Die Philharmoniker reagierten auf den Dirigententausch mit nuancenreicherem, gespannterem Spiel, von dem zunächst die drei Fragmente aus Ernst Křeneks Oper "Karl V." Gewinn hatten.

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Rudolf Bauer

Der Kurier, Berlin, 6. Oktober 1966     

  

Moderner Außenseiter im Barockrahmen der Festwochen

Verlorene Liebesmüh’ für Tippetts Visionen

  

"Musik des 20. Jahrhunderts", etwas gewaltsam in den Barockrahmen der Festwochen gespannt, Michael Tippett, ein hier schon bekannter Gast aus England sowie Musik von Křenek und Hindemith hatten eine größere Hörerzahl in die Philharmonie gelockt, als diese Konzertreihe sonst wohl zu verzeichnen hat.

"Die Vision des Heiligen Augustinus", das neueste Werk Tippetts, ein Oratorium für Baritonsolo, Chor und Orchester, wurde im Januar dieses Jahres in der Londoner Royal Festival Hall uraufgeführt. Auch damals war Dietrich Fischer-Dieskau der Träger der bedeutenden, ungemein schwierigen Solopartie. Es muß aber gesagt sein, daß es seiner hohen Kunst trotz aller Bemühung nicht gelang, der überladenen Komposition eine günstige Aufnahme zu sichern.

Der Einwände sind viele: Was der Autor über St. Augustinus im Vorwort seiner Partitur vorausschickt, klingt theologisch so dilettantisch, daß man sich nicht mehr über das dem Oratorium zugrunde gelegte Textkonglomerat wundert.

Ein berühmtes Kapitel aus den "Confessiones", dessen Vortrag dem Bariton vorbehalten ist, wird vom Chor mit Bibelstellen aus dem Hohen Liede, den Psalmen und den Paulus-Briefen kontrapunktiert. Dazu kommt ein mit Celesta, Klavier, Xylophon, Marimbaphon und einer Schlagzeugbatterie aller Gattungen bestücktes Orchester. Der dirigierende Komponist setzte seine Mittel, wie mir schien, ohne Rücksicht auf den Solisten und den Chor ein, die stets mit voller Lautstärke die exponierten Lagen und die schwierigsten Intervalle bewältigen mußten.

Die Leistung des RIAS-Kammerchors, aus dem noch der Sopran Catherine Gayers in schwindligen Höhen heraustrat, war bewundernswert. Die ekstatischen Koloraturen der Solostimmen wie des Chores wurden mit staunenswerter Exaktheit realisiert, dennoch war alles verlorene Liebesmühe. Die kunstvolle Partitur ist als Hörerlebnis völlig irrational, eine Relation zwischen den parallel laufenden Textperioden und ihrer musikalischen Struktur kaum wahrzunehmen. In den maßvollen Beifall mischten sich vernehmliche Buhrufe.

K-r

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