Zu den Liederabenden am 25. und 28. Juni 1967 in Tours

Die Welt, Juli 1967

Musikfest in der Scheune

Swjatoslaw Richter spielt in Meslay – Konzerte unter der Gunst der Stunde

[...]

Offenbarung im Frack

Die Offenbarung kam nicht in der Kutte des Mysteriums. Sie kam im Frack. An zwei Abenden sang Dietrich Fischer-Dieskau Lieder von Brahms ("Die schöne Magelone") und Hugo Wolf. Am Flügel: Swjatoslaw Richter. Darauf hatte man sich mit leichtem Gruseln gespitzt. Würde Richter sich Gerald Moores, des großen Begleiters, denkwürdiger Frage "Bin ich zu laut?", die er sogar als Titel über seine Autobiographie gesetzt hatte, erinnern und sich nach Vorschrift in Zurückhaltung üben? Richter hielt sich an alle Vorschriften – nämlich die einzig gültigen: die Hugo Wolfs.

Kein akkompagnierter Monolog des Sängers fand statt: Ein Dialog zwischen Stimme und Klavier brach aus. Kein Konzert des äußeren Übereinklangs nur, sondern des tiefen inneren Einverständnisses. Fischer-Dieskau und Richter sangen und spielten einander in einer Harmonie zu, die jede perfektionierte Routine weit hinter sich ließ. Statt Interpretation setzte es Neugeburt, Frische, Finderglück und Genuß. Ein Konzert von einsamem Rang.

Ebenbürtigkeit: Sie wird gleich mit den ersten schweren, schmerzlichen Akkorden des Klaviers besiegelt, die das Programm eröffnen: "Der Genesene an die Hoffnung". Richters Ausdrucksmacht wirft sich auf Anhieb in das Konzert und erkämpft Fischer-Dieskau die Möglichkeit, sich nun seinerseits an dem kräftigen Widerpart zu entzünden, den Richter ihm hält. Und Fischer-Dieskau ergreift die Gelegenheit. Das oft Ausgepichte seines Vortrags, die Überpointierung, die Textverliebtheit schmelzen dahin. Eine neue Schlichtheit wächst auf, fast möchte man sie nennen: Virilität.

Dennoch kein Al-fresco-Musizieren. Höchste Sorgfalt ist am Werk, höchstes Können. Ein gemeinsames Kunstwollen, befeuert von der Gunst der Stunde. Zwei Künstler, die sich einig sind, aber nicht die Pedale eines Tandems treten. Nichts da von Automatik. Sie musizieren in aufeinander abgestimmter Freiheit, und diese Freiheit klingt unüberhörbar herrlich auf. Fischer-Dieskau und Richter spüren die Größe der Stunde. Noch auf dem Podium umarmt der Sänger seinen Begleiter. Fischer-Dieskau küßt Richter auf die Wange. [...]

Klaus Geitel




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