Zur Oper am 30. Juli 1967 in München

Süddeutsche Zeitung, 1. August 1967

Die Meistersinger von Windsor

Verdis "Falstaff" unter Joseph Keilberth im Nationaltheater

Ein Seminar für vergleichende Interpretationswissenschaft, wenn es dergleichen gäbe, müßte eine Lehrwanderung zum Münchner Festspiel-"Falstaff" unternehmen. Dort begibt sich nämlich im Musikalischen ein Paradebeispiel für die scheinbare Paradoxie, daß von einem falschen, besser gesagt: höchst ungewohnten Ausgangspunkt aus eine Interpretation dank ihrer Konsequenz und Geschlossenheit zu einer denkwürdigen Leistung werden kann.

Joseph Keilberth dirigiert im Nationaltheater die Meistersinger von Windsor, mild, melancholisch, pastellfarben, vom Sommernachtsspuk des letzten Bildes ausgehend. Er gibt sich gar keine Mühe, den Italiener zu spielen: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Keilberths schopenhauerische Verdi-Weise, "sie fand ich neu, doch nicht verwirrt; verließ er unsre Gleise, schritt er doch fest und unbeirrt". Die Folgerichtigkeit dieses "deutschen" Falstaffs geht so weit, daß man sich am Ende fragt, ob das auf Kosten des Arioso aufgewertete Rezitativ, die gleitenden Übergänge und die Ensemblepolyphonie nicht in der Tat mit Verdis Altersgefährten sympathisieren, der gleichfalls nur eine, den "Wahn" überwindende Komödie geschrieben hat.

Dietrich Fischer-Dieskau sang den Falstaff schon unter anderen musikalischen und sprachlichen Voraussetzungen. Es ehrt sein künstlerisches Gewissen - wie leicht könnte er fordern: Bahn frei, jetzt komme ich! -, daß er sich Keilberths weicher Diktion anbequemt, daß er die lächelnde Behutsamkeit von Hans Hartlebs schönster Münchner Inszenierung aufnimmt und den feisten Ritter als behäbig-phlegmatischen Genießer gibt, als einen heruntergekommenen Epikuräer, der als Rentner seines Ruhmes die Torheit der Welt einsieht. Köstlich, wie dieser Halbbruder des Hans Sachs die "weltüberwindende" Moral der Schlußfuge anstimmt.

In Ekkehard Grüblers Dekorationen, die Shakespeare, Verdi und Nationaltheaterdimensionen auf einen idealen Nenner bringen, hatte sich fast die ganze Premierenbesetzung versammelt und sang und agierte herrlich wie am ersten Tag: Erika Köth, Leonore Kirschstein, Hertha Töpper, Jean Madeira, Donald Grobe, Friedrich Lenz, Georg Paskuda und Max Proebstl. Den Ford sang Klaus Kirchner, voluminös, energisch, pointiert im Ausdruck und gewandt im Schattieren seiner Stimmfarben. Er kommt aus Karlsruhe. Dort hat München schon mehrmals gut "eingekauft".

Dem Beifall nach zu schließen, scheint der "Falstaff" geworden zu sein, was er nie gewesen ist: ein Publikumserfolg. Und zwar ein legitimer. Den Festspielrang bewies die auf ihre Art konsequente und gültige Aufführung nicht durch erhöhte Eintrittspreise.

K. Sch.


     Münchner Merkur, 1. August 1967     

Münchner Festspiele

Sir John Fischer-Dieskau

Verdis Falstaff hatte seinen ersten Festspiel-Auftritt 1966. Dietrich Fischer-Dieskau war wieder der seine Leibesfülle tätschelnde Sir John, sang und spielte in hinreißender Komödianten-Laune, gab eine Figur von köstlichem Humor. Doch nicht nur seinetwegen gab’s Bravo-Chöre noch und noch: das Orchester spielte unter Keilberths Leitung - dem Münchner "General" können Festival-Strapazen offenbar nichts anhaben - ungewöhnlich präzis und animiert, die Sänger waren so frisch, als seien sie geradewegs aus dem Urlaub gekommen.

Wir hörten die Besetzung der Premiere von 1966: die Damen Kirschstein, Köth, Madeira, Töpper, die Herren Grobe, Paskuda, Lenz und Proebstl. Neu war Klaus Kirchner als Ford, ein temperamentvoller Darsteller, ein mit wohlklingendem Bariton ausgestatteter Sänger, der sich so selbstverständlich ins Ensemble einfügte, als sei er von Anfang an dabei gewesen. Übrigens wirkte Hartlebs Inszenierung, die wie am Schnürl ablief, fast noch witziger als damals.


     Abendzeitung, München, 1. August 1967     

Münchner Opern-Festspiele: "Falstaff"

Fischer-Dieskau - ein Ereignis

Münchner Opernfestspiele: Verdis "Falstaff" (Nationaltheater). Inszenierung: Hans Hartleb. Leitung: Joseph Keilberth.

Dietrich Fischer-Dieskau als Falstaff ist natürlich ein Ereignis. Ein dezenter Humorist, bei dem die Komik sich nicht im sparsamen Bauchschwenken erschöpft, sondern bis in das geschmeidige Arioso dringt. Herrlich die Wandlungen von steifer Ehrenmannshaltung und schmollender Mümmelei des gekränkten Stolzen zu plötzlich erwachender Schürzenjägerlust und Spaßmacherei, von Lebensüberdruß zu Lebensfreude, vom eingebildeten Popanz zum heiteren, weisen Buddha. Eine tief verstandene und virtuos gespielte Rolle, die noch mehr Eindruck machen könnte. Nur mußte sie sich hier gegen die ungeschickte Inszenierung, die allzu sinnig und darum unwitzig ist, gegen die meisten anderen Sänger und gegen den Dirigenten zusätzlich durchsetzen.

Leonore Kirschstein und Hertha Töpper waren als lustige Weiber von Windsor schlichtweg zu farblos und bescheiden. Klaus Kirchner und Georg Paskuda als ehrsame Männer weniger komisch als wachsfigurig ausdruckslos. Friedrich Lenz und Max Proebstl als Ganovendiener Falstaffs stachen immerhin als originelle Typen ab, Erika Köth und Donald Grobe wirkten als zärtlich liebend Paar ein bißchen überanstrengt, Jean Madeira als Kupplerin affektiert. Es wurde eigentlich nicht lustlos und schlecht gesungen, doch so, als resigniere man darin, aus dem entlegenen Hintergrund hervorzutreten, um Falstaff in die "Quere" zu kommen. War nicht auch die deutsche Sprache daran schuld, die dem Gesanglichen so viele Reize wegstreicht und sich in schnellen kontrapunktischen Passagen wie Geschnatter anhört? Gerade bei Verdi ist die vokalreiche Ausdrucksbrisanz des Italienischen nicht zu missen. Gerade bei "Falstaff" mit seiner sehr fein organisierten Melodik. Wenn man bloß einsehen würde, daß damit den Sängern und dem Publikum ein Gefallen getan wird (worum’s geht, versteht sowieso jedermann).

Joseph Keilberth trieb am Dirigentenpult nicht ganz erklärliches Understatement. Raffinierte musikalische Pointen, koloristischer Spott in den Instrumenten müssen doch nicht unbedingt im grauen Pianissimo ersterben oder von einer Art kammermusikalischer Samthandschuh-Behandlung versteckt werden. Rauschender Beifall.

Th. K.


     Oper und Konzert, Datum unbekannt     

   

[...]

"Falstaff" als Opernschwank

Die als Auftakt der vorjährigen Opernfestspiele herausgebrachte Neuinszenierung von Verdis "Falstaff" krankt an dem Fehlen von Leichtigkeit und Esprit. Hans Hartlebs einfallsreiche Regie und Joseph Keilberths musikalische Leitung sind um entscheidende Nuancen zu gewichtig und derb. Auch in der zweiten Festaufführung des genialen Alterswerks Verdis verzichtete Keilberth darauf, die kichernde Ironie, die heitere Grazie, die flinke Parlando-Kantabilität, das Funkeln und Sprühen der Musik zu entbinden und begnügte sich mit klangschönem, mit kräftigen, humorvollen Akzenten drastisch gewürztem Musizieren ohne Elastizität, Brio und Charme. Aus der geistvollen italienischen Musikkomödie wurde ein handfester Opernschwank von eher deutsch als südländisch anmutender Provenienz.

Solange Dietrich Fischer-Dieskau als Falstaff auf der Bühne steht, wird das Unbehangen über den letztlich verfehlten Stil der Aufführung von der Freude über seine gesangliche und komödiantische Bravourleistung aufgewogen. Inzwischen hat sich Fischer-Dieskau wieder dazu entschieden, dem "Ritter von der dicken Gestalt" dominierende Züge ramponierter Herrenhaftigkeit und zeremoniöser höfischer Grandezza zu geben, wodurch der Dauergast im Wirtshaus "zum Hosenbande" in seinem ganzen Erscheinungsbild erheblich aufgewertet wurde. Die stimmliche Pointierung der Partie ist unübertrefflich; dieser ständige Wechsel zwischen polternden Stentortönen und hauchzarter "mezza voce", zwischen voll ausschwingenden Kantilenen und fast gesprochenem Artikulieren nötigt restlose Bewunderung ab! Zu dem bewährten Ensemble mit Erika Köth bezaubernd anmutigem und backfischhaftem Ännchen, Jean Madeira als "baßgewaltiger" Mr. Quickly, Thomas Tipton als aufgebrachtem Choleriker Ford (der durch schlankere Tonbildung nur gewinnen könnte), Donald grobe als sympathisch jungenhaftem Fenton, Friedrich Lenz und Max Pröbstl als zwerchfellerschütternden Strauchdieben und Georg Paskuda als eitel gespreiztem Cajus kamen als Neulinge Annelie Waas, die das Quartett der lustigen Verschwörerinnen mit klarem Sopran und zu sehr gedämpftem Übermut anführte, und Ira Malaniuk als sich dezent im Hintergrund haltende Meg Page.

Claus R. Schuhmann


     Oper und Konzert, München, Datum unbekannt     

Falstaff

Nationaltheater

Hinter den Kulissen kursierte der Witz, Joseph Keilberth habe die Partitur verwechselt, und wie jeder Witz hatte auch dieser einen wahren Kern: Verdis Musik strahlte mehr Feierlichkeit und Gemütlichkeit aus als italienisches Brio. Aber die "Verwechslung" war nicht ohne Vorteil: dieses kostbare Werk, bei dem es um jeden Ton und jedes Wort schade ist, das man verpaßt, gewann an Präzision und Deutlichkeit. Mehr als einmal erfüllte ein nicht nur gerauntes Lachen den Zuschauerraum. Jedes Wort aller Darsteller war zu verstehen, der musikalische Witz allerdings kam dabei häufig (z.B. in den hurtigen Ensembles der Frauen) zu kurz. Die Dehnung der Tempi nahm der Musik manches von ihrem Glanz und Esprit, die Komik des Wortes aber erhöhte sich. Es dominierte die Bühne, und auf der Bühne dominierte der dicke Sir John: Dietrich Fischer-Dieskau. Der ausgestopfte Wanst Falstaffs von den feingliedrigen, sensiblen Händen des Künstlers, der unter die weite Haut Falstaffs geschlüpft ist, liebevoll betätschelt: Dietrich Fischer-Dieskau versteht es auf unnachahmliche Art, die üppige Körperlichkeit Falstaffs als ein Mittel zur Gestaltung einzusetzen, man möchte sagen: seine Intelligenz in jene Fleischlichkeit einzubetten. Dieser Wanst, der ihm, wo er geht und steht, um Bauchesweite voraus ist, ist das Zentrum seiner Existenz. Dort sitzt ihm das Herz, aus dem mit konvulsivischem Zucken sein Herrlichstes: sein gewaltiges, ansteckendes, sein wahrhaft herzliches Lachen hervorbricht. Die Schattierungen seines Lachens sind mannigfaltig; sie reichen von der reinen Freude über die Wichtigkeit und Großartigkeit der eigenen Person bis hin zum primitivsten, vom Zwerchfell mechanisch gesteuerten Lachen, das von der Kitzelei ausgelöst wird, mit der man ihn bestraft. Aus der Erniedrigung, die das Kitzeln dem Ritter des Humors schuf, erhebt er sich zu umfangreicher, überlegener Größe: er war es, der allen (auch uns, das lehrt uns nicht nur die unaufdringliche Wendung des Sängers ad spectatores) das Lachen, die Freude geschenkt.

Dem dicken Ritter an Geist und Witz gewachsen war Mrs. Quickly. Jean Madeira bewies erneut ihre große komödiantische Verwandlungsgabe: dieselbe Sängerin in derselben Rolle und doch diesmal eine ganz andere Mrs. Quickly: ein betriebsames, unternehmungslustiges Frauenzimmer, das überall dort, wo es zu kuppeln, zu necken, etwas auszuhecken gilt, mit Eifer sich rührt. Sie ist bewandert in allen Spielarten des Sichverstellens und entledigt sich ihres Botenauftrages zugleich routiniert und erfinderisch. Ihre Vorsprache bei Falstaff wurde zur köstlichsten Szene der Aufführung, als zwei Virtuosen der Verstellung sich ein Gefecht brillanten Witzes lieferten. Quicklys Rede war feierlich und geschwollen und um immer genau das Quentchen zu salbungsvoll, das Falstaffs Mißtrauen weckt, damit dieses Mißtrauen sie aufs neue reizt, ihre Kunstfertigkeit zu beweisen.

Diese herrliche Quickly der Jean Madeira, die resolute Meg Page Hertha Töppers, die gewandte Alice der Leonore Kirschstein und das lebenslustige, im Liebesleid erfahrene Ännchen Erika Köths, sie bildeten ein erlesenes Quartett. Vier Damen mit Gold und Humor in der Kehle, mit mitreißender Laune und Freude am Spiel. Ein Heißsporn war der Mr. Ford Klaus Kirchners. Der Sänger ist jung und schlank, singt jung und schlank, zudem auch schön, und ist mit Spieltalent begabt. Daß man ihm den auf den alten und fetten Falstaff Eifersüchtigen nicht recht glaubt, daß er eher als potentieller Ehemann seiner Operntochter wirkt, das ist ein Fehler, den Herr Kirchner zu einem guten Teil mit jedem Geburtstag mehr ablegen wird. Mit dem Bardolf von Friedrich Lenz und dem Pistol von Max Proebstl war Falstaff von zwei köstlich charakterisierenden Treuen umgeben, die manchen Lacherfolg für sich erzielten. Georg Paskuda erfaßt den in gestelztem Tanzen radschlagenden Pfauen Dr. Cajus so gut, daß man mit dem Verspotteten, Unterlegenen beinahe Mitleid verspürt. Ein wenig Mitleid auch hat man mit Ännchen, die sich Donald Grobes Fenton erwählt, der seine Kantilenen so gar ohne Süße und Schmelz singt.

Dieser "Falstaff" in der geistreichen Inszenierung Hans Hartlebs mit den berückenden Bühnenbildern Ekkehard Grüblers, dem zwar langsamen, aber der zauberhaften Wirkungen nicht entratenden Dirigenten Keilberth und dem harmonischen Solistenensemble überstrahlte an festlichem Glanz beide vorhergehenden Festspielpremieren.

Monika Köster


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