Zum Liederabend am 18. August 1967 in Salzburg


Salzburger Nachrichten, 21. August 1967 

Wo Kunstfertigkeit wieder zur Natur wird

Dietrich Fischer-Dieskaus Interpretation der "Winterreise" im Fünften Liederabend der Festspiele

Dietrich Fischer-Dieskau, unbestrittener König im weiten Bereich des Liedgesanges, hat Schuberts "Winterreise" vermutlich öfter gesungen als irgendein anderes Werk seines gesamten Repertoires. Unvergeßlich ist mir das erste Mal, als ich den Sänger mit diesen Liedern hörte, im Winter des Jahres 1951, knapp nachdem Furtwängler Fischer-Dieskau im Brahms-Requiem das erste Mal dem Wiener Publikum vorgestellt hatte. Unvergeßlich der jugendlich helle, klug disponierte Strom der Stimme und die natürliche, bei aller Ausformung des Wortes und der Ausdrucksfarben so ungekünstelte Art des Vortrags. Man erlebte die "Winterreise" als ein Stück Natur, so vollkommen deckten sich Dichtung, Musik und die Emotion des Interpreten. Niemals wieder ist mir so bewußt geworden, wie gleichzeitig jugendlich und unsagbar todesnah diese Lieder sind, wie sehr Schubert in ihnen sein merkwürdig trauriges Leben gestaltet hat, das die fröhliche Diesseitigkeit der Jugend mit dem frühen Wissen um Schmerz und Tod verband.

Man hat Fischer-Dieskau seither sehr oft die "Winterreise" singen hören, nicht zuletzt auf drei verschiedenen Schallplattenaufnahmen, welche die Stationen seiner künstlerischen Entwicklung gerade an diesem Werk eindrucksvoll demonstrieren. Denn daß sich jener Eindruck des Naturhaften nicht würde halten können, mußte jedem klar sein, der den steilen Aufstieg des jungen Sängers verfolgte. Liederabende in jedem Teil der Welt und immer wieder und wieder "Die Winterreise" - es konnte nicht ausbleiben, daß die Natur allmählich der Kunstfertigkeit wich. Da wurde die Deklamation immer ausgefeilter, immer bewußter, da wurden die Akzente immer deutlicher und der Strom der Stimme immer mehr dem Intellekt untertan. Es blieb Fischer-Dieskaus Geheimnis, daß er stets, auch an weniger glücklich disponierten Abenden, eine vollkommene Übereinstimmung mit dem musikalischen Charakter und dem inneren Stil der Lieder wahrte, daß er bei aller persönlichen Ausformung doch stets dem Kunstwerk dienstbar blieb, auch wenn die Kunstfertigkeit bisweilen zu dominieren schien.

Der fünfte Liederabend der Salzburger Festspiele und - zum ersten Male seit Jahren - des Sängers einziges Auftreten in Salzburg ließ ahnen, daß Fischer-Dieskaus künstlerische Entwicklung auf jenen Punkt hinstrebt, an dem Kunstfertigkeit wieder zur Natur wird. Es gab einige Lieder, einige Stationen dieser "Winterreise", die alle intellektuelle Beherrschung, alle Souveränität in Deklamation, Stimmführung, Ausdrucksfarbe und musikalischer Gestaltung vergessen ließen, die, wie damals am Beginn, ein Stück Natur zu sein schienen.

Nennen wir gleich zu Beginn "Gute Nacht". Wer kann ermessen, welche Konzentration und Beherrschung nötig ist, um diesen verhaltenen Anfang stimmlich so vollkommen zu beherrschen, die hohen und tiefen Lagen so bruchlos ineinander übergehen zu lassen? Wer könnte den verhaltenen Schmerz des vor enttäuschter Liebe fliehenden Burschen glaubhafter, natürlicher gestalten und auch die schmerzlich leise Ironie bei "Die Liebe liebt das Wandern, Gott hat sie so gemacht" so bruchlos aus der musikalischen Linie heraus erfüllen? Wer könnte die Modulation nach Dur im Mittelteil der "Erstarrung" so wunderbar in Ausdruck übersetzen oder den schlichten, volksliedhaften Ton des "Lindenbaum" so ohne jede Sentimentalität, und doch mit aller Emotion erfüllen? Es gäbe noch unzählige Beispiele - die Spannung der Kantilene in der "Wasserflut", die meisterhafte Deklamation des ungeheuer schwer zu gestaltenden "Rückblicks", der verhaltene Schmerz der "Post", der Ausbruch aus verzweifelter Selbstbeherrschung, den Schubert in der "Krähe" so unerhört organisch aus der Musik entwickelt hat, die täuschende Dur-Freundlichkeit der "Täuschung", das schmerzlich gespannte "Wirtshaus" oder die Resignation der "Nebensonnen". Man müßte eine ausführliche Analyse jedes einzelnen Liedes geben, um der Meisterschaft dieser Gestaltung ganz gerecht werden zu können.

Eine solche Analyse dürfte allerdings auch nicht verschweigen, wo der gefährliche Punkt ist, der den Zuhörer immer wieder aus dem Gefühl reißt, so und nicht anders ist diese "Winterreise" zu singen. Das sind die Momente dramatischen Ausbruchs, in denen Fischer-Dieskau seiner durch und durch lyrischen Stimme Farben abverlangt, die sie nicht hat - Momente, die doppelt bewußt werden, weil die Stimme sonst so makellos geführt ist. In der "Wetterfahne" gab es einen von ihnen, am Schluß des "Irrlichts", im Mittelteil des "Frühlingstraums", in "Stürmischer Morgen" und "Mut", ja sogar in der letzten Phrase des "Leiermann". Fischer-Dieskaus helle, lyrisch-männliche Stimme paßt so unvergleichlich zu dem Charakter dieser Lieder, daß jeder Versuch, ihr einen opernhaft dramatischen Ausdruck zu geben, die Einheitlichkeit und den Eindruck des Natürlichen beeinträchtigt.

Der Sänger hat jede Konzession an äußerliches Pathos um so weniger notwendig, als Jörg Demus gerade für Schubert ein idealer Mitgestalter ist. Man spürt in Demus’ Spiel die eigene, tiefe Beziehung zum Komponisten der "Winterreise", man hört, wie weit Schubert die eigentliche Spannung der musikalischen Gestaltung dem Klavier übertragen hat. Demus begleitet nicht, er gestaltet von sich aus, er kostet die Modulationen und die harmonischen und rhythmischen Reibungen wunderbar aus, er gibt Farbe, wo das Klavier nur Hintergrund ist, und übernimmt die Führung, wo Schubert diese dem Klavier zuweist. Auch hier müßte man jedes einzelne Lied analysieren. Genannt seien als Beispiele nur "Rückblick", "Irrlicht" (großartig, wie Demus den irrlichternden Charakter der Triolen und punktierten Rhythmen auskostet), "Frühlingstraum", "Post" und vor allem die "Letzte Hoffnung" mit den lautmalerischen Effekten der im Wind zitternden Blätter. Die Übereinstimmung der beiden Künstler im Ausdruck des "Wegweisers" wird lange im Gedächtnis bleiben.

Wenn irgend etwas den Eindruck dieses Abends beeinträchtigte, dann war es das undisziplinierte Publikum, das in jedes Nachspiel hustete, sich räusperte, die Seiten des Programmheftes umblätterte und es den Künstlern wahrlich nicht leicht machte, sich zu konzentrieren. Nichtsdestoweniger war man zum Ende festlich begeistert.

Gottfried Kraus


   

     Salzburger Volks-Zeitung, Datum unbekannt     

   

Die "Winterreise" - mit Fischer-Dieskau

Wir können diesem Liederabend eigentlich keinen Untertitel geben. Beides sind Begriffe für sich und einmalig!

Die "Winterreise" ist eine Komposition aus einer unwägbaren Sphäre, sie verlangt mehr als in Musik gesetzte Dichtung, sie verlangt die Einheit von Wort und Ton so stark, daß selbst das Klavier das Geschehen darzustellen hat, ein Geschehen, das selbst wieder in die geheimsten seelischen Bezirke eindringt. Den Zyklus nach Gedichten von Wilhelm Müller schuf Schubert ein Jahr vor seinem Tode. Es sind 24 Lieder, auch eine Wanderung eines unglücklich Liebenden wie in der "Schönen Müllerin". Dort der Ausdruck der Liebe des schlichten Müllerburschen, der Bach, Blumen und Sterne fragt, hier viel ernster, ein Ausdruck aufflammender Leidenschaft, tiefsten Schmerzes und düsterer Ausweglosigkeit, noch gesteigerter in Tonmalerei, seelischer Vertiefung und im Reichtum der Kontraste.

Das andere war die Begegnung mit Fischer-Dieskau. Er sang den ganzen Zyklus ohne Pause und man ging den ganzen Weg eines leidenden Menschen nicht nur als Hörer, sondern als Mitwanderer. Man kann kein einziges Lied herausheben, es war jedes für sich vollkommen in der Gestaltung, jede Nuance des Fühlens wurde nachgezeichnet und doch stand wieder kein Lied für sich, sondern war eingebettet in die einheitliche Linie des Schicksals dieses in den Liedern dargestellten Wanderers. Jörg Demus als Mitgestalter am Klavier erlangte in einer schönen Verbindung von Intellekt und Gefühl besonders im Verlaufe der Lieder eine große nachschöpferische Kultur. Ein Festspielabend auf höchster Ebene, ein Erlebnis, für das wir zu danken haben!

Dr. Pellegrini


    

     Die Presse, Wien, 21. August 1967     

     

Virtuosität und Perfektion

Fischer-Dieskau sang Schuberts "Winterreise"

     

Mit der Feststellung, daß Dietrich Fischer-Dieskau, begleitet von Jörg Demus, im 5. Liederabend der heurigen Salzburger Festspiele Schuberts "Winterreise" sang, könnte dieser Bericht beinahe sein Bewenden haben. Denn welche neuen Erkenntnisse vermöchte die kritische Beschreibung eines Interpretationsstils noch zu erbringen, der – in seiner analytischen, dem Sinngehalt des Liedes von Silbe zu Silbe, von Note zu Note nachspürenden Akribie ein echtes Phänomen unserer Zeit – längst Geschichte gemacht hat und seinerseits in die Geschichte eingegangen ist, gleichgültig, wie man persönlich zu diesem Stil stehen mag?

Oder was gäbe es Neues über die unfaßbare Meisterschaft dieses großen Künstlers als Sänger und als Liedinterpret zu sagen, über seine großartige Atemführung, die Virtuosität seines geschmeidigen Legato und tragenden Piano, über die Spannweite seiner dynamischen Mittel, über die Perfektion des Registerausgleichs, über so unerhört plastische Textgestaltung oder die Souveränität und stets hellwache Konzentration, die zur Realisierung einer derart nuancenreichen, bis ins letzte Detail durchdachten Wiedergabe nötig ist und die sich diesmal auch gegenüber einem bemerkenswert unruhigen Publikum siegreich behauptete?

Nicht einmal darüber, daß Fischer-Dieskau für diesen Festspielabend jenes Werk wählte, dessen Modellinterpretation als Parade- und Herzstück seines Repertoires auch von der Schallplatte her seit Jahren bekannt ist, läßt sich ein kritisches Wort finden; hat der Sänger doch immer wieder durch seinen Einsatz für die Moderne und seine oft sehr unkonventionellen Liedprogramme bewiesen, daß er keineswegs dazu neigt, es sich leichtzumachen. Im Gegenteil, gerade angesichts seiner noch immer überraschend jugendlichen Erscheinung und seiner kaum je beeinträchtigten stimmlichen Frische kommt einem erst so recht mit Staunen zum Bewußtsein, in welch jungen Jahren Fischer-Dieskau jene neuen Maßstäbe der Liedinterpretation gesetzt hat. Wollte man partout einen kritischen Einwand finden, so vielleicht gegen die dezent dramatische Mimik, die bald den Blick auf die unsichtbare "Krähe" heftet, bald dem armen Wanderburschen leicht neurotische Züge verleiht, freilich aber dem musikalischen Ertrag und dem Phänomen Fischer-Dieskau insgesamt keinen Abbruch tut.

Jörg Demus’ verläßliche Begleitung kam Schuberts tragischer Melancholie im nuancenreichen, warmen Klavierton ganz nahe, weniger allerdings in manchen stilfremden Rubati, die besonders dann auffielen, wenn Phrasen des Sängers und Antworten des Klaviers agogisch voneinander differierten.

Gerhard Kramer


    

     Demokratisches Volksblatt, Datum unbekannt     

    

Fischer-Dieskau sang die "Winterreise"

Souveräne Liedgestaltung mit intellektuellen Vorbehalten

Seit gut eineinhalb Jahrzehnten ist der Name Dietrich Fischer-Dieskau gleichbedeutend mit dem Inbegriff all dessen, was wir heute als Ideal zeitnaher Liedinterpretation verstehen. Unzählige Schallplattenaufnahmen, für die das Prädikat "Vollendet" nicht zu hoch gegriffen scheint, halten fest, was sich durch die Jahre in so vielen Konzerten dokumentierte: wie der junge intellektuelle Sänger mit der unglaublich flexiblen Baritonstimme dem Lied neue Dimensionen erschloß, wie aus der Synthese von Geist und Sensibilität eine Renaissance der Lieddeutung erstand. Die Aufwertung des Wortes, das Suchen nach dem, was hinter dem Wort und der Musik steht, das Hineinleuchten in seelische Bezirke, das alles ist Fischer-Dieskaus Domäne, in der er des Suchens und Forschens nicht müde wird. Und hier ist es wiederum im besonderen Schuberts "Winterreise", jener hintergründigste aller Liederzyklen, der den Künstler immer und immer wieder neu fesselt, der vielleicht den Ausgangs- und den Gipfelpunkt seiner Laufbahn darstellt, in dem sich seine nachschöpferischen Intentionen ständig neu manifestieren. Deshalb galt auch das Interesse der Festspielbesucher in hohem Maße diesem Ereignis. Den Demonstrationen der Begeisterung nach zu urteilen, fanden alle Erwartungen vollste Erfüllung, hat diese "Winterreise" einen weiteren Markstein in der Geschichte der Festspielliederabende gesetzt.

Dennoch hat sich an eben diesem Abend so mancher Zweifel gemeldet, Zweifel daran, ob die Richtung, die Fischer-Dieskau einzuschlagen im Begriff ist, die notwendige Konsequenz seiner Entwicklung und seiner Karriere sein muß. Ist es wirklich unausbleiblich und unvermeidlich, daß zur Manier verflacht, was mit so großer geistiger Überlegenheit angelegt wurde, daß Innerlichkeit mit himmelwärts gerichtetem oder gesenktem Blick demonstriert werden und zur theatralischen Pose erstarren muß, daß willkürliche Betonung und Phrasierung neue Akzente forcieren, tiefere Bedeutung unterstellen müssen? Dabei ist Fischer-Dieskaus Deklamation so souverän, so bis ins kleinste durchdacht, daß es kaum sinnvoll erscheint, ihrem logischen Fluß durch plötzlich herausgeschrieene Worte oder Verse Gewalt anzutun, wie das vor allem in den ersten Liedern praktiziert wurde. Die Subjektivität zu weit zu treiben steht auch dem größten Interpreten nicht wohl an und macht außerdem den Begleitern - in diesem Falle Jörg Demus - Kummer und Beschwernis, weil es selbst dem hervorragendsten und einfühlsamsten Pianisten, als den wir Demus schätzen, schwerfallen dürfte, mit so drastischen agogischen (und auch dynamischen) Freiheiten Schritt zu halten.

Als Fischer-Dieskau der artifiziellen Pointen schließlich selber etwas müde zu werden begann - was nach etwa einem Drittel der Liedreihe der Fall war -, kam man zwar in den vollen Genuß aller Vorzüge des perfekten Liedinterpreten, doch blieb die Stimme merkwürdig glanzlos und vermochte - der großartigen Gestaltung ungeachtet - nur dann und wann wirklich an das Innerste zu rühren. Wir denken da vor allem an den "Frühlingstraum", den "Greisen Kopf", "Die Krähe", den "Wegweiser" und den herrlichen Abgesang "Der Leiermann", wo der Künstler ganz zu sich selbst fand und erschütternde Töne hatte. Darüber hinaus bleibt die phänomenale Leistung der pausenlosen Darbietung aller vierundzwanzig Lieder in ihrer Konzentration und ihrem physischen und psychischen Anspruch immer wieder zu bewundern.

-n.

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