Zum Konzert am 18. November 1967 in Berlin


Der Tagesspiegel, Berlin, 21. November 1967 

Dynamische Kühnheiten

Philharmoniker – Kirchenmusik in Spandau, Halensee und ….

[…]

Claudio Abbados eigentümliche, vehemente Leidenschaftlichkeit übertrug sich weder unmittelbar auf die philharmonischen Musiker, noch konnte sie Bergs "Drei Orchesterstücken" Opus 6 gerecht werden. Denn was die einzelnen symphonischen Sätze (Präludium, Reigen, Marsch) womöglich durch solche Intensität an großem Bogen gewannen, büßten sie andererseits an kammermusikalisch feiner Herausarbeitung ihres motivisch-thematischen Lebens gänzlich ein. Wie diese thematische Schicht durch eine an Mahler geschulte instrumentale Palette Klang wird, hätte die Interpretation zeigen müssen, nicht aber umgekehrt durch orgiastischen Klangauftrag die musikalisch-gedankliche Substanz der Partitur zuschütten dürfen.

Weniger geglückt schien auch die Interpretation von Mahlers Zyklus "Lieder aus letzter Zeit" nach Rückert-Texten, die Dietrich Fischer-Dieskau sang. In Mahlers Liedern sind Singstimme und Instrumentalstimmen eng aufeinander bezogen, der musikalische Faden wird oft genug quer gewoben, von der Sing- zur Instrumentalstimme wechselnd und umgekehrt. Dehnt der Sänger die Musik, hält er sich nicht ans Zeitmaß, dann zerbricht der motivische Zusammenhang, Unruhe, Unsicherheit sind die Folge. Fraglich auch, ob Fischer-Dieskau gut daran tat, Rückerts Ausbrüche wie "Um Mitternacht kämpft ich die Schlacht, o Menschheit, deiner Leiden" kühn zu dynamisieren und damit zu pathetisieren, anstatt – wie es der diskretere Mahler vorschreibt – sie im Pianissimo-Licht zu halten. Überhaupt zeigte Fischer-Dieskau diesmal eine Lust am sozusagen pleonastischen Unterstreichen von dramatisch oder lyrisch effektvollen Textstellen, die nicht selten – von Fragen musikalischen Geschmacks einmal abgesehen – mit dem Sinngehalt der Musik in Konflikt geriet.

[…]

Wolfgang G. Burde

zurück zur Übersicht 1967
zurück zur Übersicht Kalendarium