Zur Oper am 7. April 1968 in Salzburg

FAZ, Datum unbekannt

"Rheingold" in Karajans Sicht

Die zweiten Salzburger Osterfestspiele

Schon beim ersten Raunen der Obertonreihe auf Es öffnet sich ein Vorhang. Nebelgraue Fließprojektionen suggerieren das Strömen des Rheinwassers. Die Illusion wird gepaart mit dem auskomponierten Crescendo, dieser sich aufrichtenden und erhellenden Klangsäule, in der sich urtümlicher Bordun mit romantisch-raffinierten Orchesterkünsten verbindet. Ein zweiter Vorhang gibt den Blick auf das Aquarium frei. Ein Tiefgebirge im Strom füllt die Breite der Superbühne. Inmitten der Bühne steht ein aus Schiefer und Kalkschichten gezackter Fels, halb Pyramide, halb Matterhorn. Auf Gazeschleiern fließt die Projektion weiter. Aus diesem Aggregatzustand entwickelt Herbert von Karajan die Regie des Rheintöchterbildes. Die Mädchen erscheinen, entschwinden, tauchen auf und ab, verstecken und zeigen sich in vollendeter Choreographie nach den Stichworten der Partitur. Durch einen verblüffenden Trick der Spaltung und Verdoppelung sind die Nixen allgegenwärtig: Außer den drei Sängerinnen wirken, unmerklich mit ihnen alternierend, vier stumme Darstellerinnen mit. Dabei kommen auch alte Bayreuther Schwimmtraditionen zu neuem Recht, Drahtschaukel, wie sie schon das Barocktheater kannte.

Freilich blieb das eine illusionistische Spielerei, stünde nicht in Personalunion mit dem Regisseur der Dirigent Karajan am Pult. Sein total ordnender Kunstwille leitet mit lückenloser Genauigkeit jeden optischen Vorgang aus der Musik ab. Wo immer die Orchesterfarbe wechselt, die Lautstärke zu- oder abnimmt, die thematischen und harmonischen Charaktere einander ablösen, findet der Zuschauer Analogie auf der Szene. Es ist eine Mosaikarbeit von fast übertriebener Kongruenz.

In diese Bewegungsregie wird auch die sonst eher phlegmatisch gedeutete Figur des Alberich einbezogen. Seiner wachsenden Verliebtheit steht die Bühnenbreite offen. Er steigt den spottenden und lockenden Undinen nach, die sich in Felslöcher verstecken. Er läßt sich von Wellgunde kopfüber umlegen, räkelt sich wollüstig vor Floßhilde und wird neben Woglinde zum feurigen Courmacher. Dann aber schlägt die Enttäuschung um. Der Goldzauber ist stärker als "der Minne Macht". Alberich ist aus pubertärem Trieb zum Besitzer gereift.

Das zu zeigen ist nicht nur ein Bravourstück denkender Regie; es bildet gleichsam die Exposition zur Anlage der ganzen Aufführung, die sich wie ein Gewebe auf den sorgfältig verfolgten Fäden der Figuren zusammensetzt. Dabei treten einzelne Charaktere mehr und stärker hervor als sonst. Alberich gehört zu ihnen ebenso wie Loge und Fafner.

Alles Folgende ist aus dieser Grundkonzeption zu verstehen. Wie ein typisiertes Wandelpanorama führen neue Fließprojektionen zum Götter-Plateau auf Bergeshöhen. Weder die Bühnenbreite der landschaftlichen Wirkung, noch die allzumenschlichen Göttergespräche bekommen hier eine Erdferne, die aber wieder mit dem System von Betrug, nordischer List und Obrigkeitsschläue wirksam kontrastiert. Es ist gewiß Karajans Absicht, die Götterfamilie neben der tumben Redlichkeit und Schwielenfäustigkeit der Riesenbrüder relativ schwach und medioker erscheinen zu lassen. Erst wenn Loge auftritt, hebt sich auch die Gestalt Wotans aus ihrer Zahmheit und wird aktiv. Der Feuergott, hier ganz ohne Flammenfrisur und demonstrativ kahl, ist Hauptfigur, sobald er auftritt. Die Intensität der Beleuchtung unterstreicht das oft ganz naiv..

Neue Fließprojektion, Götterbesuch in Nibelheim. Höhlen und Klüfte drücken von oben her. In Bühnenmitte, wie ein kleinerer Reflex des Rheinfelsens, eine Pyramide aus Gold. Auf ihr thront Besitzer Alberich, von hier aus quält er den Bruder Mime, kommandiert er die Scharen gekrümmter Zwerge, seine Leibeigenen. Das Gespräch mit Wotan und Loge fügt einen neuen Zug in das Alberich-Image. Selbstgefällig prahlend zeigt er seine Tarnkünste. Fast schockierend wirksam der Einfall, die Goldpyramide lebendig werden zu lassen, wenn sie sich zum Lindwurm wandelt, ein erigierter Balg mit Alberichs grinsendem Kopf an der Spitze.

Karajan zeigt in diesem Bild auch seine Phantasie als Klangregisseur. Alberichs Stimme wird durch Lautsprecher überdimensioniert. Das Schmiedegehämmer dröhnt über Mikrophone. Ein gewaltiger Aufschrei meldet die Qual der Nibelungen. Das sind Äußerlichkeiten, aus dem Bastelbetrieb des technischen Zeitalters entstanden, künstlerisch entbehrlich, wenngleich effektvoll.

Das vierte Bild ist in große Szenen aufgespalten: Alberichs Entmachtung und Fluch, Lösung Freias, Warnung durch Erda, Tötung Fasolts, Gewitter mit Regenbogen. Loge begleitet und kommentiert die Handlung und wird unsichtbar, wo Text und Musik es wollen. Zum Schluß steht es feuerrot an der Rampe, bevor die göttliche Familie einer nur angedeuteten Walhall zustrebt.

Bei aller naturalistischen Haltung in Schauplatz und Staffage ist Karajans Deutung der Vorgänge doch von Symbol und Typisierung voll. Er läßt die Gestalten durch Georges Wakhevitch in sinnbildliche Farben und Formen kleiden. Flußbett, Hochplateau und Höhle sind von Günther Schneider-Siemssen realistisch konterfeit und doch auf die Symbolform des Rings gestellt. Das Spiel der Scheinwerfer, frei von Karajans früherem Hang zu Verdunklung, hebt Typisches mehr hervor als Charakteristisches. Mythos und Leben verschmelzen.

Alle Darsteller haben den Sinn dieses Stils begriffen. Auch darin bewährt sich Karajans Arbeit. Dietrich Fischer-Dieskau ist ein kultiviert singender und meisterlich deklamierender Wotan der mehr lyrischen Art, stimmlich die genaue Analogie Josephine Feaseys als Fricka. Simone Mangelsdorff zeigt als Freia einen blühend hohen Sopran von sinnlicher Kraft. Donald Grobe als oft bewährter Froh, Robert Kerns als auffallend schönstimmiger Donner ergänzen das Familienbild. Gänzlich fällt aus ihm der Loge heraus, und auch das entspricht der stilistischen Absicht. Gerhard Stolze singt ihn mit einer oboenhaft nasalen Farbe, sozusagen mit ironischem Beiklang.

Zoltan Kelemen und Erwin Wohlfahrt verkörpern das unterweltliche Brüderpaar: zwei Leistungen von hoher Gesangskunst und einer bis an die Grenze der Hysterie reichenden Darstellung. Martti Talvela ist als Fasolt gegen früher noch gewachsen. Als Fafner steht ihm Karl Ridderbusch kaum nach.

Für die Erda hat Oralia Dominguez zwar das samtige Timbre, nicht aber das Tiefenvolumen. Das Terzett der Nixen ist mit Liselotte Rebmann, Edda Moser und Anna Reynolds klingend, doch nicht ganz homogen besetzt.

Über allen Sängerleistungen aber schwebt das Gesetz der kammermusikalischen Klarheit, das Karajan seinen Wagner-Aufführungen auferlegt. Er geht darin so weit, daß vieles in der Musik offenbar ganz neu erarbeitet und erschlossen werden mußte. Ich meine damit vor allem die solistischen und die "dünnen Stellen" im Orchester, das oft nicht als anonyme Masse wirkt, sondern als Ensemble von Einzelspielern: hier die Oboe, da die Posaunen, dort das Violinsolo, hier das Crescendo der Pauken. Und was der Zauberstab beschwört, machen die Helfer zur klingenden Realität. Die Berliner Philharmoniker haben neuen Lorbeer geerntet.

Es ist, im Ganzen wie in vielen Details, eine der besten Wagner-Aufführungen unserer Zeitläufe, rein musikalisch das beste "Rheingold" seit Furtwängler, technisch und in der Beleuchtung ein Meisterstück Helmut Reichmanns.

Gesellschaftlicher Glanz im ausverkauften Haus. Jubel um alle Sänger und um den Mann, dessen Kunstwille wieder einmal siegt: um Karajan.

H. H. Stuckenschmidt


     Salzburger Nachrichten, 9. April 1968     

Die Liebe und das Habenwollen

Richard Wagners "Rheingold" - Die Premiere der Osterfestpiele 1968 unter Herbert von Karajan

[...]

Der Rang der Sängerdarsteller ist in diesem "Rheingold" einheitlich wie ihr interpretatorischer Stil. Dietrich Fischer-Dieskau, der mit den lyrischen Klangfarben seines Baritons und dessen Kern in der höheren Lage als Wotan in dieser Besetzung zunächst überrascht, meistert durch den klugen Einsatz seiner Mittel sowie durch die großartige deklamatorische Vollendung, die genau den Stil der Aufführung innehält, eine für ihn umstrittene Aufgabe in allen Ehren. Er verdankt der Begleitung des Dirigenten Entscheidendes.

[...]

Max Kaindl-Hönig


     Süddeutsche Zeitung, Datum unbekannt     

Karajans Mitleid für "Rheingold"-Geschädigte

Die Salzburger Osterfestspiele von 1968 liefern den Vorabend der "Ring"-Tetralogie nach

Über die phantastische Karriere des Künstlers Herbert von Karajan ist aus Anlaß seines 60. Geburtstags ja überall berichtet worden, und wer sich bemüht, die Bahn dieses Interpretationskometen zu verfolgen, der weiß, daß Karajan mittlerweile die Probleme der technischen Vervielfältigung von Musik (Klangregie, Fernsehaufzeichnungen usw.) mindestens so ernst nimmt wie das Dirigieren selbst. Das "kann" er, ums andere müht er sich. Aber auch seine besten Freunde haben bisher den Regisseur Karajan immer nur als eine Begleiterscheinung des gleichnamigen Musikers begriffen: eines war ohne das andere halt nicht zu haben.

1968 hat nun überraschenderweise der Regisseur Karajan dem Dirigenten ernsthaft Konkurrenz gemacht. Mitunter spürte man förmlich, und nicht ohne Bedauern, daß Inszenierungsprobleme dem Künstlerischen Gesamtleiter dringlicher waren als die ausdrucksvolle und wahrhaft beteiligte Darbietung der Musik. Vielleicht wirkte darum die musikalische Interpretation des (übrigens von Karajan herrlich heiter begonnenen) "Rheingold"-Vorspiels, der Rheintöchterszene und fast der ganzen ersten großen Götterverhandlungsszene so zurückhaltend, so passiv-korrekt. Nur flüssig, harmonisch, wohllautend. Berliner Orchesterkultur. Musikalische Größe begann eigentlich erst nach dem ersten Drittel, nämlich beim Beginn der großen tragischen Verlegenheit, als Loge sagte: "Was sinnt Wotan so wild?" - kurz vor dem Abstieg in die Kluft.

Gewiß ist das "Rheingold" Wagners musikdramatisch fortschrittlichstes Stück. Da gibt es fast keine "Nummern", dafür eine bemerkenswert enge Verklammerung zwischen dem sehr gedankenreichen Text (den nur Fischer-Dieskau als Wotan und Gerhard Stolze als Loge stets wortwörtlich verständlich darzubieten wußten) und der Musik, die diesen Text nie einfach verdoppelt, sondern viel häufiger kommentiert, also mit pessimistischen oder verklärenden oder mythologisch assoziierenden Randglossen versieht. Man muß jedes Wort verstehen oder kennen, wenn man vom "Rheingold" etwas haben will.

Karajan demonstrierte mit großem mitleidvollem Ernst, was alle bloß stilisierenden Inszenierungen verderben oder verdunkeln: Bereits das "Rheingold" ist eine Tragödie unaufhörlicher Demütigung. Alberich (Zoltan Kelemen), also der Nibelung, wurde eigentlicher Held des Stückes. Ein vom Ressentiment gegen die Liebe, die er um seiner Machtkarriere willen verschmähen mußte, Getriebener, ein unglückseliger Diktator. Ein zuletzt doch mitleidwürdiges Opfer des Ressentiments.

Gedemütigte Götter und Zwerge

Karajan machte sich schon in der Rheintöchter-Szene nicht nur lustig über den Tölpel. Und als Alberich dann der hochgekommene, machtbetrunkene Habenichts von einst war, da stand er drohend und bühnenbeherrschend in einem Berg aus Gold. Da war er ein Bruder jenes Shylock, dem die Rache fast gelingt, und jenes Beckmesser, der so schmählich zusammenbricht.

Aber auch Wotan wird ja fortwährend gedemütigt, zum Mogeln und Nachgeben gezwungen. Fischer-Dieskau deutete die Tendenz zu alberner Ausredesucht, zu billiger Schönrednerei beim Göttervater an, bei jenem Göttervater, der eigentlich nur immer dann an Würde gewinnt, wenn es ganz schlimm wird. Vorher argumentiert er wie ein läppischer kleiner Anwalt.

Und geht es im "Rheingold" den Götterfrauen besser, die verkauft und gedemütigt, den bestohlenen Rheintöchtern, den um ihren Lohn geprellten, gegeneinander aufgehetzten, ihrer Zweitrangigkeit bewußten Riesen?

Karajan hat diesen zwangshaften, von Wotan mit beispiellos weitblickender Kunst entworfenen mythologischen Unheilszusammenhang beeindruckend auf die Bühne gebracht. Er kam, dank Günther Schneider-Siemssens diese Inszenierung großartig rahmenden, prägenden und durchwirkenden, zwischen Goya und Feininger vermittelnden Bühnenbildern weit über Bayreuths idealtypische Kargheit hinaus.

Er bot Illusionstheater. Aber nicht plüschiges Nachahmungsspiel von vorgestern, sondern ein elektronisch gesteigertes, mit technischen Schikanen völlig legitim angereichertes modernes Illusionstheater. Wahrscheinlich ging er da nicht einmal weit genug.

Die Rheintöchterszene - Sängerinnen schienen von Balletteusen geschickt gedoubelt - umgab immer noch ein Air von langweiligem Jugendstil. Alles Erotische fehlte den Fischleibern: unbegreiflich, daß sie, laut Fricka, schon so oft verführerisch gewesen sein sollen. Auch das Bewegungstempo müßte noch viel phantastischer und rascher, brillanter und kinohafter sein. Die zweite Szene gliederte Karajan geschickt. Auch für die zwischen der Gier nach Gold und Weib schwankenden, darum ständig leise beratenden Riesen hatte er Mitleid. Sogar für den nirgendwo geliebten Ariel dieses Werkes: den Loge. Die Gewalt der Diktaturszene in Nibelheim ergab sich nicht aus läppischen, zeitbezogenen Anspielungen, sie war vielmehr eine Folge von Karajans Direktheit und Schneider-Siemssens Kunst. Brillant gelangen die Märchenverwandlungen, und der Göttereinzug ins neue Heim besaß genau jene Mischung aus Würde und Betrugsfolge, die dem vieldeutigen Wagner da vorgeschwebt haben mag...

Die dienende Musik

Hing es mit dem von Karajan so genaugenommenen szenischen Arrangement zusammen, daß der Musik zunächst der zwingende Funke fehlte? Die Akzente wurden immer nur angedeutet, die harmonischen Ereignisse nicht artikuliert, sondern nur seidig ausgeführt. Die Berliner Philharmoniker mußten sich zurückhalten, als sei die Partitur nur ein pädagogisch erklärendes Instrument, nicht oft auch von Schubertschem Reichtum und von glühender Gewalt. Gewiß, wo ein todtrauriges Pianissimo vorgeschrieben war, da hörte man den reinsten Ausdruck eines Weltklasseorchesters. Auch den Entladungen blieb Karajan nichts schuldig. Aber die Artikulation der musikdramatischen Mittel war ohne durchgehende Energie.

Karajan hielt sich bei Fischer-Dieskau, dem die große dramatische Wotan-Tiefe noch nicht hinreichend zur Verfügung steht, sehr nobel zurück. Fischer-Dieskaus musikalisch-mimische Intelligenz führte um so genauer die psychische Labilität des Göttervaters vor. Das war zumindest ein partielles Glück. Doch konnte die herrlich komponierte Rolle der Freia wirklich nicht besser besetzt werden, als mit der ungenau und undramatisch singenden, von den Geigen ungenügend sekundierten Simone Mangelsdorff? Auch Oralia Dominguez als Erda war kaum mehr als ein akzeptabler Kompromiß.

Gerhard Stolze beherrscht seinen Loge. Am Abend vorher - als Jim Mahoney in Münchens Stuttgarter "Mahagonny" - hatte er stimmlich noch frischer gewirkt: wer hält schon jeden Abend Riesenpartien durch? Immerhin war er von aufregender Präsenz. Zusammen mit dem großartig sich entfaltenden Zoltan Kelemen, mit Erwin Wohlfahrts trefflich charakterisierendem Mime, mit Martti Talvelas Fasolt, Karl Ridderbuschs Fafner und der mittelbeeindruckenden Fricka von Josephine Veasey bildete dieser Loge das Rückgrat der immer zwingender werdenden Aufführung.

Am Vormittag dieses Eröffnungstages hatte Karajan einen Presseempfang gegeben. Man erlebte einen nachdenklichen, in sich gekehrten Maestro. Er will eine Karajan-Stiftung gründen, wo in umfangreicher Zusammenarbeit herausgefunden werden soll, wo eigentlich das Musik-Erleben entsteht. Er will weitergeben, will wieder mehr pädagogisch wirksam werden, will einen Wettbewerb für junge Dirigenten im Zusammenhang mit der Stiftung veranstalten. Man spürt: er fühlt, was es heißt, sechzig zu sein und alle Möglichkeiten dieser Welt zu haben.

Dieser pädagogische Eros beseelte wohl auch Karajans "Rheingold"-Interpretation. Alles soll begreiflich, einleuchtend sein. Freilich, nur die Inszenierung konnte diesem pädagogischen Ideal huldigen. Die meisten Mitwirkenden wurden doch nicht völlig mit den akustischen und deklamatorischen Problemen der Wagner-Partitur und des Wagner-Orchesters fertig. Eigentlich große, unüberbietbare "Rheingold"-Spannung entstand darum immer nur dann, wenn zum wohlvorbereiteten, sorgfältig durchdachten, zurückhaltend dargebotenen Konzept der göttliche Interpretationsfunke kam. Ovationen am Schluß.

Joachim Kaiser


     Observer, London, 21. April 1968     

Karajan über alles

[...]

Where lesser men and institutions are victims of twentieth-century technology, Karajan is its master. The qualitiy of the cast he has assembled at Salzburg can be gauged from the fact that for the first time in his career Dietrich Fischer-Dieskau was singing Wotan in "Das Rheingold". As in every human undertaking, there were disappointments, and it happened that Fischer-Dieskau was one of them. His voice seemed not too small but too soft-grained for this heroic role, and as a result his performance was curiously lacking in impact. […]

Peter Keyworth


     Die Zeit, Datum unbekannt     

Wagner als Kammermusik

Herbert von Karajans Salzburger Oster-Festspiele

Er habe hier die besten Solisten, das beste Orchester, das beste Theater, die besten Bühnentechniker, sagt Herbert von Karajan und meint mit "hier" Salzburg und die Oster-Festspiele, "seine" Festspiele. "Kann man sich zum Geburtstag Schöneres wünschen?" Nun, immerhin wurde er letzte Woche zum Sechzigsten noch Ehrenbürger der Stadt, erhielt Orden und Ehrenzeichen und dazu die im vergangenen Jahr vielleicht noch fehlende Gewißheit, daß seine Festspiele als Institution etabliert und gesichert sind. Man ist zu Ostern in Salzburg, sagt Herbert von Karajan, "inzwischen eine Familie". Die Familie trifft sich heuer in zwei Konzerten, in der wiederaufgenommenen "Walküre" und in einem neuen "Rheingold".

Zwei Stunden und zwanzig Minuten braucht Karajan für diesen "Vorabend" zur "Ring"-Trilogie und ist damit nicht sonderlich schnell: Karajans "Rheingold" ist keine hochdramatische Schilderung von Raumbetrug und Bauskandal, sondern eher ein lyrisches Märchen, die verhaltene Überleitung von vorzeitlicher Harmonie zur kommenden Weltkatastrophe. Womit Karl Böhm 1965 in Bayreuth bei verdecktem Orchestergraben überraschte, damit brilliert Karajan in Salzburg bei offenem Graben: Man spielt Wagner im Stil von Kammermusik.

Seit dem Vorjahr ist es bekannt, doch kommt es einem wieder wie neu vor: Die Berliner Philharmoniker bieten unter Karajan riesig besetztes wagnerisches Musikdrama wie eine Symphonie in kleinem Ensemble, mit außerordentlicher Delikatesse, mit zauberhaften Nuancen und nahtlos gleitenden Übergängen, mit zartesten Holzbläser-Kantilenen und ganz weichen, sanften Blechbläser-Akkorden, das alles so mühelos präzise und doch gänzlich unroutiniert, so sicher und so aufregend einfach.

Die besten unter Karajans besten Solisten vertreten nicht die Götterwelt, sondern deren Gegenspieler. Göttervater Wotan wird mühelos von Alberich und Mime, vor allem aber auch von dem Halbgott Loge ausgestochen. Will Karajan Walhall desavouieren?

Seit Wieland Wagner die Rolle mit ihm studierte, ist Erwin Wohlfahrt als Mime unübertroffen, mehr als nur eine gequälte Kreatur; das ganze Elend einer zu spät gekommenen Intelligenz packt Wohlfahrt in diese Figur. Zoltan Kelemen als Alberich: ein dämonisch infamer Diktator, ein satanischer Lüstling und Triebverbrecher, ein geifernder Unterlegener, unheimlich in seinen dramatischen Ausbrüchen, etwa beim Fluch auf den Ring. Ein intellektueller Drahtzieher dann, ein kühl kalkulierender Manager, ein sarkastischer Spötter, ein Agnostiker, der seine Haut früh genug rettet: Gerhard Stolze als Loge mit sehr oft eher lyrischem als dramatischem Tenor, äußerst klar im Ton, sehr präzise in der Artikulation, raffiniert im Timbre-Wechsel. Fast schon im Gegensatz zu ihrem markant-schwerfälligen Leitmotiv: die Riesen Fasolt (Martti Talvela) und Fafner (Karl Ridderbusch) dürfen gelegentlich flüstern, und selbst die kleinste Bemerkung im Pianissimo kommt verständlich ins Publikum.

Dietrich Fischer-Dieskaus Wotan ist ein Gentleman, ein Herr aus besten Kreisen, dem da nun einmal diese dumme Sache mit seinem Neubau passiert ist, das biegen wir schon wieder hin, und der im übrigen Schubert singt, mit sehr viel Geschmack, mit Intelligenz, mit sehr schöner Stimme. Seine Frau Fricka (Josephine Veasey) darf mit einem solchen Schöngeist auch nur, leider, mit zwar sehr schöner, aber doch allzu verhaltener Stimme und in vornehmer Zurückhaltung verkehren, nur nicht zu nahe herangehen, auch nicht wenn man den Gemahl bezirzen will.

Über den besten Solisten, dem besten Orchester (ob es das beste Theater und die besten Bühnentechniker sind, ist hier nicht so wichtig) und dem besten Dirigenten vergaß Herbert von Karajan freilich, sich den besten Regisseur zu engagieren. Er selbst arrangierte Bilder aus der Neu-Bayreuther Schule unter starker Zuhilfenahme von Wieland Wagner vorfabrizierter Teile.

Die berühmten technischen Probleme löst Karajan mit ziemlich einfachen Mitteln: Die Rheintöchter werden gedoubelt und gleiten, auf unsichtbaren Hebebühnen, "schwimmend" den pyramidenförmigen Rheinfelsen entlang; das Gold steckt in einer Spalte dieses Felsens, wie man es herausbekommt, hält ein vorschnell fallender Zwischenvorhang geheim; auch die szenischen Verwandlungen geschehen hinter Zwischenvorhängen, und der Marsch durch die Nibelungenschmiede wird per Lautsprecher eingeblendet. Endlich wieder ein lebendiger Riesenwurm: der Goldberg, auf dem Alberich in Nibelheim sitzt, erweist sich als aufblasbar, er wird, mit Alberich als "Kopf", gestreckt zu einer gigantischen Schlange.

Schwierigkeiten bereitet Karajan die Logik der Auf- und Abgänge. Wenn Loge und Wotan nach Nibelheim hinabsteigen, verschwinden sie rechts in einer Schlucht - und kommen dann links wieder heraus. Licht spielt wieder eine große Rolle, es wird oft unmotiviert hell und dunkel.

Licht muß auch die Burg Walhall symbolisieren. Karajan treibt Wieland Wagners "Entrümpelung" noch ein wenig weiter, Wotans neues Domizil existiert nicht mehr in der Realität, sondern nur noch als diffus-abstraktes Lichtgebilde. In dieses Phantasieprodukt wollen denn auch die Götter am Ende nicht mehr hinein.

Und noch eines macht nachdenklich. Zu Beginn wird rings um den Rheinfelsen der bereits aus der "Walküre" bekannte elliptische Ring, der alles in der Welt symbolisiert, sichtbar - er ist vorn auseinandergerissen. Will Karajan (mit seinem Bühnenbildner Schneider-Siemssen) sogar Richard Wagner widerlegen, der zumindest im "Rheingold"-Vorspiel eindeutig die Welt noch als heil charakterisiert?

Heinz Josef Herbort


     Münchner Merkur, 9. April 1968     

Beginn der Salzburger Opernfestspiele

Zu Karajans "Rheingold" drängt doch alles

Genau 60 Jahre und zwei Tage alt, von seiner Krankheit sichtlich genesen, erschien mit gewohnter Spannkraft Herbert von Karajan am Pult des großen Salzburger Festspielhauses, von seiner Ostergemeinde geburtstäglich begeistert begrüßt, und dirigierte als zweiten Abschnitt seines Salzburger "Rings" das "Rheingold" von Wagner. Was sich schon 1967 in der Walküre als karajanscher "Ring"-Stil genau abgezeichnet hat, blieb auch beim zweiten Alleingang des Dirigenten und Inszenators Karajan vorherrschend: Wagners Musik wird wie ein Schönklanggewand oder -schleier der verhängnis- und betrugsreichen Nibelungenhandlung umgelegt. Regie und Bühne erschienen als Nebensachen - wenn nicht diese Bühne so überdimensional breit wäre, daß man auf ihr eben auch eine überdimensionierte Welt erwartet. Diese fehlende Tiefe kann auch durch eine (von Karajan nicht überstrapazierte) Lichtregie nicht ersetzt werden, wie sie seit Appia den Raum durch Licht symbolisiert.

Karajans Götter bleiben unplastische Schattenwesen, denen ihre weit realistischer dargestellten Widersacher (Alberich und die Riesen) schon optisch überlegen sind. Wotan und sein Gefolge steht - wie einst - meist majestätisch herum und läßt die Leere der Szene erst recht spürbar werden.

Auch Günther Schneider-Siemssens Bühnenbilder - von einem attraktiven Felsen im Rhein mit allerlei Möglichkeiten für ein neckisches Versteckspiel der Rheintöchter abgesehen - erzeugen in dieser Größenordnung eher Leere als Raum. Ihr dominierendes Grau betont diese Leere noch, in die selbst beim Aufleuchten von etwas Weiß und Gold für Wotans Walhall-Himmelsburg nur wenig an Helligkeit eingeblendet wird.

Zwischen Göttern und Gegnern intrigiert mit Glanz Gerhard Stolze als Loge, ein großartiger Schauspieler, der jeglichen stimmlichen Schönklang opfert. Er sieht aus wie Cäsar: kahlköpfig und mit roter Toga angetan, und das ist doch seltsam.

Im übrigen freilich wird fast ausnahmslos schön gesungen. Karajans vornehmlich musikalischer Konzeption entsprechen keine großen Heldenstimmen für die Götterwelt. Sein Wotan konnte nur ein lyrischer Gott werden, weshalb er dafür auch den hellen, besonders in der Höhe wohllautenden Bariton Dietrich Fischer-Dieskaus einsetzt. Leider fehlt diesem Sänger die auch dem "Rheingold"-Wotan unentbehrliche Tiefe.

Dramatischer ist die Fricka von Josephine Veasey, deren Sopran Metall besitzt. Bei Simone Mangelsdorffs Freia stört ein zu starkes Vibrato die Lieblichkeit dieser Göttin. Aus mächtigem Altgrund intoniert Oralia Dominguez ihre Erda. Den Donner sang Robert Kerns, den Froh Donald Grobe - beide stimmliche Halbgötter.

Gewaltig dagegen gaben die beiden Riesenbässe der Aufführung Höhepunkte: Martti Talvela als Fasolt und Karl Ridderbusch als Fafner. Die Nibelungenunterwelt vertraten der großtönende Alberich Zoltan Kelemens, eigentlich die beherrschende Figur der ganzen Aufführung, die sich nicht in eine dieser dramatischen Rolle widersprechende Zurückhaltung einzwängen ließ, und Erwin Wohlfahrt als scharf charakterisierender Mime.

Ein Lob dem Rheintöchter-Terzett, das ausgeglichen und ausnehmend rein sang: Lieselotte Rebmann, Edda Moser, Anna Reynolds. Sie mal schwimmend zu doubeln, mal persönlich aus ihren Grotten auftauchen zu lassen, war kein schlechter Einfall, weil in der Wirkung überraschend.

Dramatische Höhepunkte und Steigerungen sparte sich Karajan für wenige Momente auf, um sie dann um so wirksamer herauszustellen: vor allem bei Alberichs Triumph und bei seinem Fluch, dann auch bei den Zwischenspielen zum dritten und vierten Bild. Wohltuend entpanzerte Karajan das Blech, das eigentlich erst in der dritten Zwischenaktsmusik zu seinem hier angemessenen Recht kam. Da freilich die oft impressionistische Feintönung im Orchesterklang Richard Wagners grobkörniger Leitmotivthematik, seiner unimpressionistischen Harmonik und auch seiner Modulationschromatik widerspricht, wurde deutlich, daß es in dieser Partitur Längen gibt, die besser überspielt als ausgekostet werden.

Trotzdem war der schimmernde Klang der Berliner Philharmoniker das eigentliche Ereignis und der besondere Erfolg dieses vom Publikum hell begeistert aufgenommenen "Rheingolds".

Ludwig Wismeyer


     Abendzeitung, München, 9. April 1968     

Herbert von Karajans "Rheingold"-Inszenierung in Salzburg

Triumph für den Maestro

Mit Richard Wagners "Rheingold" eröffnete Herbert von Karajan die Salzburger Opernfestspiele. Unter seiner Regie und Stabführung wurde die Premiere im Festspielhaus ein großer Publikumserfolg.

Wagners "Rheingold" hat durch Karajan eine Legierung erfahren, die eine Bewertung in Karaten schwermacht. Es handelt sich hier offenbar um eine starke Beimischung des Goldes vom Untersberg, des einst so ergiebigen Salzburgischen Goldes, die Grundlage fürstbischöflichen Glanzes. Die Bewertung fällt insofern schwer, als das Ohr Gelegenheit zu schwelgen hat, wo das Auge kritisch blickt.

Am schönsten ist die optische Wirkung bei den Vorspielen der Szenen, solang noch der Vorhang die Bühne bedeckt. Da fließt und strömt es über die gewaltige Bühnenbreite. Es lodern Flammen oder schweben Wolken. Wenn aber der Vorhang aufgeht, beginnt das alte Theaterleid. Die außerordentliche Breite zieht das Bühnenbild in einer Weise auseinander, daß Sänger und Gruppen peinlich in den Maßen reduziert werden. Das sichtbare Orchester plus Dirigent wirkt um so störender, je realistischer auf der Bühne gespielt wird. Und dann die sachliche Deutlichkeit der Instrumentation! Für einen angehenden Kapellmeister von höchstem Interesse stört sie die Poesie des Klangbilds.

Die Idee des "magischen Abgrunds" in Bayreuth, des versenkten Orchesters, ist in Werken, für die es geschaffen ist, kongenial. Je mehr man davon abweicht, um so deutlicher erweist es sich.

Karajans Regie gründet sich auf der Charakterisierung von Personen und Situationen und ist somit illustrativ. Dadurch gibt es eine Reihe von Bildern, die zu Genrebildern werden. Das Streben Wieland Wagners, Ideen zu objektivieren, ist hier aufgegeben. Die Rheintöchterszene als Schlüsselszene muß eine Orgie der Gier sein. Wieland Wagner und die nackten Rheintöchter wußten darum.

Kollektiver Schrei der Qual

In Salzburgs Riesenaquarium begnügte man sich mit einem großen Riff, mit Unterwasseralpinismus. Gräßlich schöne Momente erzielte Karajan mit den Nibelungen, ihrem kollektiven Schrei der Qual.

Die letzten Szenen, Aufbruch der Götter nach Walhall und Abmarsch Loges vom Platz in verkehrter Richtung, können als klassisches Beispiel einer verunglückten Ideenrealisation gelten.

Günther Schneider-Siemssens Urwelt ist wie üblich graugrün, Walhall ein gewaltig verschachtelter Komplex à la Feininger aus der Froschperspektive. Seinen Kostümen zufolge muß Georges Wakhevitch der Meinung sein, daß sich die Nibelungen erfolgreich auch mit der Farbindustrie beschäftigt haben.

Das edle Instrument, die Berliner Philharmoniker, auf dem Karajan spielt, klang herrlich. Wunderbareres Aufleuchten des Rheingolds, wenn es in den Violinen pianissimo zu schimmern beginnt, wird man nicht erleben können. Ungeheuer auch der Auftritt der Riesen oder jener Loges mit seinem funkensprühenden Motiv. Klanglich vollkommener lassen sich solche Dinge nicht mehr denken. Es mußte ja kommen, daß Dietrich Fischer-Dieskau noch den Wotan singt. Und er weiß natürlich um die Psychologie dieses fragwürdigen Gottes ebensogut Bescheid, wie er die Partie gesanglich klug gestaltet. Aber er ist vom Stimmtyp her kein Wotan. Und daran liegt alles.

Prachtvoll farbige Fricka

Eine reine Freude ist Josephine Veaseys prachtvoll farbig klingende Fricka, hübsch klang auch Simone Mangelsdorffs helle Freia. Packend Oralia Dominguez’ üppige dunkel-irisierende Erda. Untadeling, wenngleich nicht immer vollkommen schwebend im Zusammenklang sind die Rheintöchter Liselotte Rebmann, Edda Moser und Anna Reynolds.

Gerhard Stolze gibt einen seinem Wesen entsprechenden höchst intensiven Loge. Die unheimliche Reserve, die gefährliche Lässigkeit dieser Rolle überspielt er. Robert Kerns Donner hat stimmliches Mark, Donald Grobes Froh ausnehmend tenorale Helligkeit. Gleich intensiv in Gestalt und Stimme ist Zoltan Kelemens eindrucksvoller Alberich. Hochbewährt und derzeit unübertrefflich: Erwin Wohlfahrts Mime. In jeder Hinsicht ungeheuer sind Martti Talvela und Karl Ridderbusch als Fasolt und Fafner.

Schönes, aber nicht magisches Rheingold. Ovationen für die Sänger und das Orchester, Triumph für Karajan.

Antonio Mingotti


     Nord-Stuttgarter Rundschau, 14. April 1968     

Deutsche Musik im Internationalen Wirken

Karajans Osterfestspiele

[...]

Das neue "Rheingold", von Regisseur und musikalischem Leiter in einer Person zu einem Guß geschweißt, führte auf eine künstlerische Höhe, wie sie kaum je bei diesem sonst gar nicht so beliebten "Vorabend" zum "Ring" erreicht wird. Das ist ohne Wieland Wagner nicht zu denken, geht aber über ihn hinaus - für manche wird es scheinen, zurück - in einer Synthese von maßvollem Naturalismus und symbolkräftiger Abstraktion. Günther Schneider-Siemssen hat sein nach unserer Meinung bisher bestes Bühnenbild geschaffen, besonders für den Rheingoldfelsen mit den gleitenden und schwebenden Rheintöchtern (Poubles entlasten dabei das wunderbar singende Terzett Liselotte Rebmann, Edda Moser, Anne Reynolds), die dritte Szene mit dem auf seinem Goldberg thronenden Alberich (voll makabrer Gegenwartsbezogenheit), die goyeske Dämonie zu Beginn der vierten Szene. Doch bleibt der Bühnenbildner (wie erst recht mit dem ersten Akt der "Walküre") noch viel zu sehr im naturalistischen Detail. In erstaunlicher Weise beherrscht der Regisseur Karajan die gefährlich breite Festspielbühne und setzt die Sänger auch in der Aktion faszinierend ein. Am wenigsten konnte uns freilich Dietrich Fischer-Dieskau überzeugen, der Neuling als Wotan, der den Einäugigen glatt, wendig und doch passiv spielt. Rotgewandet und kahlköpfig überspielt ihn der Loge Gerhard Stolzes, mephistophelisch, ein gefallener Lichtalb zwischen den Welten, mit keineswegs herkömmlich schönem, aber exzeptionellem Tenor, der für diese Rolle wie geschaffen erklingt. In dem höchst international geschichteten Ensemble, von glücklicher musikalischer Korrespondenz mit dem Dirigenten und dem schlechthin herrlich spielenden Berliner Philharmonischen Orchester (Bläsersoli!!) ragen durch stimmliche wie darstellerische Charakterisierungskunst hervor Josephine Veasey (Fricka), Oralia Dominguez (Erda), Zoltan Kelemen (Alberich), Erwin Wohlfahrt (Mime), Martti Talvela (Fasolt), Karl Ridderbusch (Fafner), verblassen trotz schöner Stimmen Robert Kerns (Donner), Simone Mangelsdorff (Freia) und Donald Grobe (Froh). Aber auch an ihnen erkennt man, wie hoch dieses "Rheingold" über allem Durchschnitt steht, auf weiten Strecken auch über der "Walküre".

[...]

Ernst Schremmer


     Generalanzeiger, Bonn, Datum unbekannt     

Es ist nicht alles "Rheingold" was glänzt…

Karajan inszenierte das "Ring"-Vorspiel in Salzburg

[…]

Keineswegs unabhängig davon sind die gesanglichen Leistungen des sehr ungleichwertigen Ensembles zu betrachten. Wohl hatte Karajan Dietrich Fischer-Dieskau aus der vernünftigen Grundeinsicht mit der Rolle des Wotan betraut, daß in seiner lyrisch-feinsinnigen Schöngesangskonzeption nur ein echter Lyriker brauchbar sei, doch erfüllt Fischer-Dieskau in seiner augenblicklichen Stimmstatur selbst diese Forderung nicht mehr echt, vermag er mit seinen Manierismen, mit seiner forcierten, knallend artikulierenden Überinterpretation des Textes Figur und Melos Wotans nicht auszufüllen – von der mangelnden sonoren Tiefe noch zu schweigen. Glückhafter Mittelpunkt des Ensembles blieb daher Zoltan Kelemen als Alberich, der alle extremen Ausdrucksmittel dieser schwierigen Partie scheinbar mühelos zur Hand und in der Stimme hat. Erwin Wohlfahrt (Mime), das Riesenpaar Martti Talvela/Karl Ridderbusch (Fasolt/Fafner) gaben ansprechende Bewährungsbeweise ihrer Wagner-Erfahrung, unter den neuen Stimmen fielen Josephine Veasey (Fricka) und Edda Moser (Wellgunde) auf, Simone Mangelsdorff (Freia) dagegen ab. Im Ganzen schien die Aufführung überhaupt zur neuerdings angestrengten Diskussion über einen Wandel im Wagner-Gesang nur negative Aspekte beizutragen. Doch davon wird noch ausführlicher zu reden sein.

Und schließlich sollen und können alle kritischen Einwände den Chronisten natürlich nicht von der Pflicht entbinden, von einem großen, sensationellen äußeren Erfolg der Aufführung zu berichten, von endlosen Ovationen, die das große internationale Festspielpublikum Karajan und seinen Helfern bereitete.

Hans G. Schürmann


     Kölner Rundschau, Datum unbekannt     

Karajan baut Bayreuth-Konkurrenz weiter

Die Salzburger Osterfestspiele begannen mit "Rheingold" unter Herbert von Karajans Gesamtleitung

Mit einer Neuinszenierung von Richard Wagners "Rheingold" eröffnete Herbert von Karajan am Sonntag die Salzburger Osterfestspiele und wurde dafür von dem Premierenpublikum mit langanhaltenden Ovationen bedacht.

Als Wieland Wagner starb, fragte man sich allenthalben, wie die Zukunft seines Großvaters aussehen würde. Sorgen machte man sich natürlich nicht um sie. Manch einer mag sogar befreit aufgeatmet haben – in der stillen Hoffnung, man könnte zu einer Wagnerpflege zurückkehren, wie sie einst bloß um der Musik, nicht um des musikalischen Theaters willen betrieben wurde. Aber Evolutionen à la Neubayreuth lassen keine derart radikalen Kehrtwendungen von heute auf morgen zu.

Hat Herbert von Karajan, der sein zweites Salzburger Osterfestspiel mit "Rheingold" begann, dennoch eine versucht? Zum Teil vielleicht, doch nicht im reaktionären Sinn. Es war eher, als wollte er eine Neurose namens Wieland Wagner überwinden und zugleich noch etwas von ihrem schöpferischen Impuls abzapfen – und siehe da, er wurde solchermaßen den widerstrebendsten Erwartungen gerecht.

Als Musiker schon lange ein Wagner-Interpret, der auch eingefleischte Nichtwagnerianer mitreißt, als Regisseur aber plötzlich so gereift, wie man es aufgrund seiner Inszenierungen vor zehn Jahren kaum je für möglich gehalten hätte, macht er sein Osterfestspiel, wie prinzipiell umstritten es sein mag, zu einem Faktor, mit dem man gleichfalls nie gerechnet hat: zur ernsthaften Bayreuther Konkurrenz.

Seine "Rheingold"-Inszenierung zwischen halb entrückter, halb vermenschlichter Götterwelt, Zwergen und Riesen, die echtes Schauspiel bieten, hat Stil, Format, innere Spannung. Sie belebt Günther Schneider-Siemssens stilistisch konsequent aus vorjährigen "Walküre"-Ansätzen weiterentwickelte, schöne, nur noch zu oft im Dunkel verschwimmende Bühnenbilder mit mehr als bloßem Arrangement.

Sie gibt sogar eine akzeptable Antwort auf die Frage, wovon Wieland Wagners magischer Realismus abgelöst werden könnte, denn es zeichnet sich hier ziemlich klar eine neue Synthese des magischen Realismus in umgekehrter Reihung ab: Der Realismus wird, weil das Theater ihn braucht, quasi nach vorn geholt und die Magie in oratorischer Stilisierung auf den zweiten Platz verwiesen.

Einzigartig waltete die Synthese über der musikalischen Wiedergabe. Realistischer Theaterdonner wechselte mit magischer Verklärung. Jede Note wurde bis zum Exzeß ausgekostet, ohne den Schluß des Ganzen zu hemmen. Herrlich musizierten die Berliner Philharmoniker.

Dazu im Ensemble ein halbes Dutzend außerordentlicher Trümpfe: Dietrich Fischer-Dieskau, der seinen ersten Wotan, wenn auch nur den vergleichsweise lyrischen des "Rheingold", so kraftvoll wie nobel sang. Martti Talvela, Karl Ridderbusch, Zoltan Kelemen, Erwin Wohlfahrt und Gerhard Stolze, von denen die letzten drei ebenso als Darsteller wie als Sänger imponierten. Ferner Robert Kerns, Donald Grobe, Josephine Veasey und Simone Mangelsdorff, die immerhin in Ehren bestanden.

Unter dem Eindruck dieser umjubelten Aufführung vergaß man sogar die unfreiwillige Ironie des Dankes, den Herbert von Karajan dem Architekten Clemens Holzmeister kürzlich dafür ausdrückte, daß dieser ihm in Salzburg – also in der Mozartstadt – ein so ideales Wagner-Festspielhaus erbaut hat… .

Manfred Vogel


     Presse und Datum unbekannt     

Gott und Götter

feierte Herbert von Karajan am Palmsonntag. Morgens dankte er bei einer Gratulations-Cour zu seinem 60. Geburtstag "dem Herrn, der mir zuviel gegeben hat"; abends dirigierte er – zur Eröffnung seines Privatfestivals, der "Salzburger Osterfestspiele" – den ersten Teil des Göttersturzdramas "Der Ring des Nibelungen": Wagners "Rheingold". Wie schon im letzten Jahr bei der "Walküre" hat der Musikunternehmer Karajan (Adorno: "Der Genius des Wirtschaftswunders") auch das Drama vom göttlichen Betrug und Bauskandal wieder selbst inszeniert, weil es "zu einer wirklich tiefen Aussage des Werkes nicht kommen kann, wenn jemand Regie führt, der nicht mit meinen Ohren hört und nicht mein Herz hat".

Der Regisseur begnügte sich damit, übertrieben genau die Musik auch optisch zu interpretieren. Jede Tonarten-Modulation, jeden Rhythmuswechsel setzte er in oft spannungslose Gestik und Mimik um; dramatische Momente erhellte er zudem durch eine ebenfalls dozierende Lichtregie. Und wie immer bevorzugte der Ästhet Karajan auf der Bühne das schöne illusionistische Tableau: Die Rheintöchter beispielsweise – von smarten Nixen gedoubelt – schwimmen mit eleganten Bewegungen, von unsichtbaren Drahtschaukeln auf und ab bewegt, an den Rheinfelsen vorüber. Von solch überzeichnender Theatralik hat der Dirigent Karajan die Musik jedoch völlig entlastet. Mit den Berliner Philharmonikern, dem nicht von Opernroutine verbrauchten, kammermusikalisch präzisen Orchester, spielte Karajan das riesig besetzte Musikdrama fern der gewohnten, brünstigen Ekstase als lyrische Piano-Oper und mythische Elegie. Dank dieses zurückhaltenden Klanges, seiner mannigfach abgestuften Übergänge und Einsätze brauchten auf der Salzburger Breitwand-Bühne keine Übermenschen heldisch schwere Wagnerstimmen zu erheben – Karajan forderte von seinem Ensemble. in dem Fischer-Dieskau seinen ersten Wotan gab, einen intelligenten Schöngesang. Musikalisch hat das Rheingold noch nie so schön gefunkelt.


 

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