Zum Liederabend am 29. Juli 1968 in München


Süddeutsche Zeitung, Datum unbekannt

Olympisches, nun wieder beseelt

Liederabend Dietrich Fischer-Dieskau im Münchner Herkulessaal

Dietrich Fischer-Dieskau war am Gestikulieren gehindert. Er hatte sich den Arm gebrochen und seine Opernauftritte während der diesjährigen Münchner Festspiele abgesagt. Zum Trost der Musik- und Fischer-Dieskau-Freunde erklärte er sich zu zwei Liederabenden bereit. Der erste Abend weitete sich mit Zugaben, die selbst ein halbes Konzertprogramm darstellten, zu einem nahezu göttlichen Triumph aus. Fischer-Dieskau stieg vom Olymp und schenkte sich den Menschen. Beispiellos, ohne Vergleich, zelebrierte er das deutsche Kunstlied, demonstrierte Innerlichkeit, Werte, die unverrückbaren: er sang Lieder von Franz Schubert. Ein populäres Programm, Stilles, auch Lieder, mit denen er aufs Dorf ziehen könnte, Bravouröses, Pathetisches.

In den letzten Jahren fiel auf, daß sich Fischer-Dieskau in einer musikalischen Identitätskrise befand, daß er, ein einsamer Sängerfürst, nur noch "gegen sich selbst" sang. Er entäußerte da seine Kunst, warf sie mit Gebärden des Schmerzes unter das "Volk". War das mehr Oper: nun hat ihn das Kunstlied wieder.

Wenn einem Sänger auf Anhieb gleich das erste Lied glückt, wenn er da jede Nuance unterbringen kann, kann man meist mit einem geglückten Konzert rechnen. Fischer-Dieskau gelangen in dem zu Beginn gesungenen Lied "Nähe des Geliebten" die dynamischen Wechsel, die schweren Übergänge in der Höhe vom Forte ins Piano so traumhaft sicher, mühelos, daß er sich auf sich verlassen und, ohne zu forcieren, an sein Programm gehen konnte. Wie Fischer-Dieskau dann, seiner Kunst sicher, in einer einzigen Phrase den Charakter eines Liedes formulieren konnte, ist wohl einmalig. Ein so "ausgesungenes" Lied wie "Der Wanderer" bekommt dann neue Gültigkeit, wenn man wie Dieskau die zur Sext aufsteigende Tonfolge, die Resignation dann, das Absinken zur Quart, die Eingangsphrase also, so disponiert, daß die ganze Skala der Dramatik, Dunkles, Traurigkeit angedeutet werden, aber auch schon die spätere Modulation ins Dur geahnt wird.

Dieses Vermögen entläßt Fischer-Dieskau aus den sonst üblichen "direkten" Interpretationsverpflichtungen, zum Beispiel einem getreu emotionalen Nachgesang der Textstellen, die, das weiß man ja, bei Schuberts Liedern oft allzu rührend, naiv in ihrer Unschuld sind, peinlich also. Fischer-Dieskau interpretiert da nur noch die künstlerische Essenz der Lieder, bringt das auf eine Formel der Vergeistigung, eines rein abstrakten Wertes. Nur manchmal, angebracht dort, wo Schubert balladesk wird - "Gruppe aus dem Tartarus" zum Beispiel -, spielte Dieskau Sturm und Drang. Ganz wohl, schien es, war ihm nicht dabei, da klang es nur kunstfertig. Lieder aber wie "Du bist die Ruh’", "Im Abendrot", "Der Einsame", "Ständchen", "Der Wanderer an den Mond" sang er mit überwältigender Ruhe und Gelöstheit.

Die phänomenale Schönheit seiner Stimme erschien nicht als isolierte Schönheit, sie war hier wirklich nur Mittel zum Gestalten. Fischer-Dieskau sang an diesem Abend so hervorragend wie schon lange nicht mehr. Die Perfektion seiner Interpretation, die in den letzten Jahren etwas Abweisendes an sich hatte, hat wieder Seele bekommen, Nahbares.

Jörg Demus begleitet vielleicht "rücksichtsvoller" als jeder andere Pianist, und doch bedeutet das dann keinen pianistisch-musikalischen Substanzverlust. Mit sparsamsten Andeutungen versteht er es, seinen Begleiterpart unterzuordnen, ihm trotzdem aber Selbständigkeit zu geben. Das ist wohl die höchste Kunst des Begleitens. Sein weicher, silbriger Anschlag, sein immer durchsichtiges Spiel faszinierten. Auch wenn das keine sehr "niveauvolle" Formulierung ist: Man kann Demus jetzt als den besten Begleiter überhaupt, als Nachfolger Gerald Moores bezeichnen.

Florian Fricke


    

     Münchner Merkur, 31. Juli 1968     

   

Münchner Festspiel-Abend mit Schubert-Liedern

Demütig zu Fischer-Dieskaus Füßen

    

Eine verschworene Gemeinde, entschlossen, Liedgruppen nicht durch Beifall zu unterbrechen, nicht umzublättern, ehe das Lied und seine Klavierbegleitung beendet sind, und Zuwiderhandelnde entrüstet niederzuzischen, saß im Herkulessaal demütig, Höchstes und Schönstes erwartend, zu Füßen Fischer-Dieskaus.

Dieser, im allgemeinen streng mit sich und uns, was den Programmaufbau betrifft, gestattete sich für seinen zusätzlich eingeschobenen Liederabend, mit dem er die Münchner für seine bedauerliche und unfreiwillige Absage in der Oper ein bißchen entschädigen wollte, Stücke, die er uns sonst schon seit langem nur mehr in Zugaben zumißt.

Der Musensohn - Im Abendrot - Du bist die Ruh - Ständchen - für so etwas müssen wir sonst fleißig die Hände rühren; diesmal war es das Programm. Also ein ganzer, ja in der Tat zugegebener Schubert-Abend mit einem Riesenstrauß von Lieblingsliedern, denen wiederum am Schluß nicht weniger als acht echte Zugaben folgten.

Mit Lust überläßt man sich dem Wunder Fischer-Dieskau, der von niemand anderem erreichten Synthese von Empfindung und Kunstverstand, der so unglaublich beherrschten Stimme, dem von physischen Gesetzen nahezu unabhängigen Atem ("Nähe des Geliebten"), der makellos ruhigen Linie ("Wanderers Nachtlied"), der sprachlos machenden Unfähigkeit, in fünfundzwanzig hintereinander gesungenen Lieder verschiedenster Stimmung einen matten Moment unterlaufen zu lassen.

Dabei gab es diesmal nie die Gefahr der Überinterpretation. Berichtende, feststellende Sätze ("Wie blitzen die Sterne so hell durch die Nacht") werden locker, unbeschwert von zuviel Ausdruck hingesungen. Nach wie vor sind Fischer-Dieskaus größte Momente jene völlig zurückgenommener Lyrik, und nach wie vor entzücken fast am meisten heitere Parlandolieder ("Wenn meine Grillen schwirren"), über einer riesigen Atemstütze leicht hingeworfen.

In manchen Liedern ist die dynamische Spannweite groß. Zu groß? Sanfter, wärmer und auf dem Höhepunkt taktvoll noch im Decrescendo kann man "Doch meine Saiten tönen nur Liebe im Erklingen" nicht singen. Und mögen bei "Atreus’ Söhnen" ihre Stimme zurücknehmen, die keine haben. Sollte man sich Fischer-Dieskaus Stilgefühl nicht anvertrauen?

Sträflich, daß erst jetzt von Jörg Demus geredet wird. Wir haben diesen immer vorzüglichen Begleiter noch nie so gelöst, so in einem Atem mit Fischer-Dieskau, von so schubertisch singendem Anschlag erlebt. Das Publikum spürte Demus’ Hochform sofort und feierte ihn demonstrativ. Und die Begeisterung für Fischer-Dieskau, in dem es ja schon eine Vaterfigur verehrt, wurde durch die gemeldeten acht Zugaben weniger beruhigt als geschürt.

Beate Kayser


    

     Münchner Abendzeitung, Datum unbekannt     

    

Münchner Festspiele 1968: Fischer-Dieskau

Reife des Lieds

    

Münchner Festspiele: Liederabend von Dietrich Fischer-Dieskau im Herkulessaal mit Werken von Schubert.

Dietrich Fischer-Dieskau sang, als hätte er nun seinen Reifestil gefunden. Sein Schubertabend im Herkulessaal offenbarte einen Künstler, der sich aller Manierismen enthielt, die seine letzten Liederabende so seltsam interessant gemacht hatten. Seine Sucht, "literarisch" zu interpretieren, indem er auf Kosten der musikalischen Linie einzelne Worte mit roher Gewalt heraushob, seine opernhafte Dramatik in Stimme und Mimik, all das unterblieb zugunsten werkgetreuer Interpretation.

Schon sein Programm verzichtet auf sichere Nummern und enthielt, in organischem Aufbau, nur die schönsten und reifsten Lieder Schuberts. Die Kunst, mit der er jedem Lied seinen unverwechselbaren Charakter ablauschte, die Intelligenz, mit der er aus der Musik heraus die Gedichte verständlich machte, das erstaunte mehr noch als seine vollendete Technik.

Das ununterbrochene Legato, das in Goethes "Rastloser Liebe" zu einer wirklich ruhelosen Steigerung führt, die Inbrunst des Wanderers, der fragt: "das Land, das meine Sprache spricht, wo bist du", die fahle Blässe des winterlichen Liedes "An die Freunde", das wird man auf unseren Konzertpodien kaum ähnlich hören können.

Freilich: vergleicht man Fischer-Dieskau mit Karl Erb, merkt man, wie wenig natürlich Fischer-Dieskaus Beziehung zum Lied ist, wie kultiviert, wie sehr auf "Tiefe" bedacht er singt. Fischer-Dieskaus Gesang wirkt zurückhaltend und abgeklärt, wo Erb der Geist der Musik wie von selber zugeflogen zu sein scheint.

Y. B.

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