Zum Konzert am 12. Mai 1969 in München

    

     Süddeutsche Zeitung, 14./15. Mai 1969     

Ein Herr von Welt veredelt die Oper

Konzertante Erstaufführung von Busonis "Doktor Faust" im Münchner Herkulessaal

     

Das Publikum hatte Mühe, in der Überzahl zu bleiben. Auf, neben und hinter dem Podium des Herkulessaales war jeder Quadratzentimeter mit Sängern und Musikern bestückt. An 300 Mitwirkende bot der Bayerische Rundfunk auf, um Ferruccio Busonis nachgelassene Oper "Doktor Faust" zum ersten Male und konzertant in München aufzuführen. Siebzehn Sender in elf europäischen Ländern übertrugen das dreistündige Konzert; Kanada hatte sich als Gasthörer in diesen Abend der "Union Europäischer Rundfunkanstalten" eingeschaltet. Ein internationales Ereignis, nicht nur im übertragungstechnischen Sinne. Eine ähnlich großzügige und inspirierte Produktion des "Doktor Faust" – Fischer-Dieskau in der Titelrolle, William Cochran als Mephisto, Ferdinand Leitner am Pult – wird so rasch nicht wieder zustande kommen. Die reine Faszination des Künstlerischen, unverwässert durch Sensation, Effekt und Drumherum, lag über dem Abend. Wer von Busoni kaum mehr als den Namen gekannt hatte – in München sind wir in diesem Betracht kurzgehalten worden -, wird eine Entdeckung gemacht haben, die ihn mehr beunruhigt als die Bekanntschaft mit einigen Dutzend dunklen Experimenten.

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Dietrich Fischer-Dieskau hat den "Doktor Faust" auf der Bühne rehabilitiert. Nun sang er im Konzertsaal die Partie, die seiner Intelligenz, seinem Geschmack und seiner Vorliebe fürs Esoterische vielleicht am nächsten steht. Seine artistische Deklamation ersetzte jede Szenerie. Dieser abstrakte Faust war viel realer, als Busonis Faust in der Bühnenrealität sein könnte. Für die extrem hohe Tenorpartie des Mephisto hatte man den 27jährigen William Cochran von der New Yorker Met aufgeboten. Busonis dichterisches Deutsch kam etwas zu kurz, dafür hatten die tenoralen Kapriolen Schlagkraft, Witz und Virtuosität. Cochran war neben Busoni die Entdeckung des Abends: ein Tenorphänomen mit Loges Geschmeidigkeit und Siegfrieds Glanz. Aus der langen Reihe der Mitwirkenden: Karl Christian Kohn, Anton de Ridder, Hans Sotin, Franz Grundheber und Manfred Schmidt. Enthusiastischer Applaus für eine Modellaufführung und für eine Musik, die nicht mehr sein will als nur Musik.

Karl Schumann


     Münchner Merkur, 14. Mai 1969     

Faust, aber kein Gretchen

Konzertante Aufführung der Busoni-Oper mit Dietrich Fischer-Dieskau

    

Busonis "Doktor Faust", ein Werk von kühner Geistigkeit, gilt als spröde, man meidet ihn, er wird nahezu nicht aufgeführt. Wenn trotzdem einmal ein Theater zu ihm greift, so unter dem Motto einer "Rettung". Die aufwendigste Rettungsaktion unternahm jetzt der Bayerische Rundfunk, der ihn konzertant in einem Festkonzert der "Union der europäischen Rundfunkorganisationen" herausstellte. Die Aufführung war exemplarisch; sie wurde von 17 Sendern in elf europäischen Staaten und von der "Canadian Broadcasting Corporation" ausgestrahlt.

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Busonis Musik hat Charakter, die Atmosphäre der Übersinnlichkeit, feierliche Breite, metaphysische Abgeklärtheit, ist aller aufgeschwemmten Romantik abhold. Welch eine vornehme und wählerische Art, Musik zu machen! Aber Busoni ist zu sehr Musiker, um ganz im Theater aufgehen zu können; und sein Wissen um Musik wieder ist größer als seine kompositorische Vitalität.

Riesenhafter Apparat

So ist man zwar gefesselt, nur eben nicht sehr, man fühlt sich bei den spirituellen und magisch-spielerischen Klängen gut aufgehoben, wird aber kaum je richtig gepackt, ist entzückt von Busonis feinem und beweglichem Geist und lechzt doch nach einem prägnanten Ausdruck, einem scharf geschnittenen Thema, einer Melodie, die unmittelbar eingeht. Sie pocht an Tiefen, ohne sie wirklich zu schauen, hat stilistische Einheitlichkeit und doch keinen Stil.

Vorbildlich die Partiturkenntnis Ferdinand Leitners, der den riesenhaften Vokal- und Instrumentalapparat souverän beherrscht. Er dirigiert subtil und klangschön, differenziert sorgfältig, feuert aber gelegentlich auch kräftig an, etwa bei der kontrapunktischen Rauferei zwischen protestantischen und katholischen Studenten.

Wenn ein Sänger den Faust singen kann, so Fischer-Dieskau. Bei ihm ist er nicht nur Magier oder Busonis verquälte und zerrissene Gestalt, sondern das Gewicht, das Goethe dieser Figur nun einmal gab, ist in der dämonischen Glut, mit der er die Partie auflädt, ständig spürbar. Und die hohe baritonale Lage, für andere Sänger eine Gefahr, wird bei Fischer-Dieskaus heller Stimme zum reinen Genuß.

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Helmut Schmidt-Garre


     Abendzeitung, München, 14. Mai 1969     

Konzertanter "Faust" von Busoni in München

Zauberspiegel des Lebens

     

Ferruccio Busonis "Doktor Faust". Konzertante Aufführung durch den Bayerischen Rundfunk in Verbindung mit der Organisation der Europäischen Rundfunkanstalten. Herkulessaal. Dirigent: Ferdinand Leitner, Doktor Faust: Dietrich Fischer-Dieskau.

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Die Aufführung, die die halbe Welt mithörte, war exemplarisch. Wieder einmal erwies sich an Ferdinand Leitners Leitung, daß hervorragende Leistungen keineswegs allround smartness voraussetzen. Großartig war Fischer-Dieskau in der Titelrolle. Hier, auf dem Gebiet der geistigen Gestaltung, ist er Sänger, hier darf er’s sein. Und hier ist er wahrhaft unschlagbar, nicht aber auf dem Gebiete der italienischen Oper, die ihm nicht zugehört.

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Mingotti


     tz, München, 14. Mai 1969     

Ein europäisches Musikereignis

Konzert der Union der Europäischen Rundfunkanstalten: "Doktor Faust" von Ferruccio Busoni im Herkulessaal der Residenz.

   

Als eine kulturelle, musikgeschichtliche Tat muß diese konzertante Wiedergabe der Oper Busonis (1866-1924) gewertet werden. Das fragmentarische Werk wurde von dem Busoni-Schüler Jarnach zu Ende komponiert und 1925 von Fritz Busch in Dresden uraufgeführt.

Auffallend ist die geringe Beeinflussung Busonis durch Zeitgenossen, weder durch Richard Strauss, noch durch die italienischen Veristen oder die französischen Impressionisten. Dagegen könnte man sich - vor allem im Hinblick auf die extrem gesteigerten Klangdimensionen - bisweilen an Gustav Mahler erinnert fühlen.

Wohl ist bei Busoni die Tonalität erweitert, aber nicht in der entsprechenden Relation zu der utopischen Ideenwelt des Autors, und so hat diese Musik etwas Quälend-Unbefreites.

Immer wieder stößt man auf Wagner, nicht nur in den Meistersinger-Zitaten; beispielsweise geht der Frage Fausts an Mephisto: "Willst du mir dienen?" eine eindeutige Wagner-Passage der Blechbläser voraus.

Und es ist nicht zu überhören, daß Busoni, der selbst ein Liszt-Spieler par excellence war, an die symphonischen Dichtungen Liszts und nicht zuletzt an dessen Faust-Symphonie erinnert.

Die Aufführung bot beispielhafte Qualität: Chor und Sinfonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks waren zuverlässige Partner des Dirigenten Ferdinand Leitner, der die Wiedergabe mit großer Intensität leitete.

Die Solisten Hildegard Hillebrecht (Herzogin von Parma), William Cochran (Mephisto), Karl Christian Kohn (Wagner), Anton de Ridder (Herzog von Parma), Franz Grundheber (des Mädchens Bruder), Manfred Schmidt (Leutnant), Hans Sotin (Theologe) und Marius Rintzler (Jurist) erwiesen sich als ideale Interpreten.

Dietrich Fischer-Dieskau gab in der Titelrolle erneut ein Beispiel seiner außergewöhnlichen geistig-musikalischen Präsenz. Endlose Ovationen!

K.-R. Danler

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