Zum Liederabend am 16. Mai 1969 in Saarbrücken


  Saarbrücker Zeitung, 19. Mai 1969

Natürlichkeit und Raffinement

Dietrich Fischer-Dieskaus Liederabend in Saarbrücken

"An einem Nachmittag ging ich mit Mayrhofer zu Schubert, der damals bei seinem Vater am Himmelpfortgrunde wohnte. Wir fanden Schubert ganz glühend, den Erlkönig aus einem Buch laut lesend. Er ging mehrmals mit dem Buche auf und ab, plötzlich setzte er sich, und in kürzester Zeit stand die herrliche Ballade auf dem Papier. Wir liefen damit, da Schubert kein Klavier besaß, in das Konvikt, und dort wurde der Erlkönig noch an demselben Abend gesungen und mit Begeisterung aufgenommen..."

So beschreibt Spaun eine Sternstunde im Schubert’schen Freundeskreis. Glühende Begeisterung, Entdeckerfreude, die Gunst des Augenblicks: Ein moment musical des Liedes. Inzwischen ist der "Erlenkönig mit Kron’ und Schweif" ein stets willkommener Gast in den Konzertsälen der Welt geworden. Sturmgepeitschte Triolen, packende Dramatik (die Goethe hier nicht mochte), das erschütternde, stockende Rezitativ am Ende ... Erlkönig heute: Ein vertrautes Stück Kulturgut?

Dietrich Fischer-Dieskaus Liederabend läßt es in neuem Glanze erscheinen. Aus seinem Programm mit Liedern nach Goethe-Texten löst sich die packende Erlkönig-Interpretation ganz von selbst als Muster universeller, einmaliger Stimmkultur heraus. Superlative drängen sich auf. Aber das Loblied, das man zu intonieren gedenkt (wer im vollbesetzten Saal der Saarbrücker Kongreßhalle hatte wohl nicht seine persönliche Huldigung bereit?), läßt man lieber als rhythmischen Niederschlag in den allgemeinen, orkanhaften Beifall einmünden.

Was macht einen großen Sänger aus? Sicherlich mehr als der leichtfüßige, glatte Hürdenlauf über die Hindernisse der Gesangstechnik, mehr als die selbstverständliche Bravour in Höhen und Tiefen. Ich glaube, es ist ein Geheimnis der Mischung aus begnadeter, alles durchdringender Natürlichkeit und Raffinement, aus naiver Sangesfreude und geistigem Schliff, aus Herzensbildung und weitgespanntem Gebildetsein. Eine solche Mixtur mit idealen Spannungsverhältnissen ist das Singen Fischer-Dieskaus.

Goethe also als beherrschender Dichterfürst des Abends, als Inspirator für Komponisten dreier Jahrhunderte. Eine treuherzige Vertonung des Textes "Auf dem Land und in der Stadt" der Herzogin Anna Amalia war sozusagen historischer Auftakt des Abends. Lieder von Reichardt, Zelter, Beethoven, Schubert, Schumann, Brahms, Strauss, Schoeck, Reger, Busoni und Wolf zogen in spannungsmäßig gut ausgependelten Gruppen vorüber. Höhepunkte (falls man überhaupt das Wort pluralisch gebrauchen soll) in den Ausdrucksbereichen "Besinnlich" und "Dramatisch" waren vielleicht Schuberts "An den Mond" und Busonis "Zigeunerlied".

Der prominente Pianist Günther Weißenborn war dem Sänger ein kongenialer Partner, ein wahrer Poet am Flügel. Blumen für beide Interpreten - eine gewichtige Coda aus Zugaben und Fortissimo-Dauerbeifall zum Schluß dieses denkwürdigen Abends, der dem 15jährigen Jubiläum der Meisterkonzerte des Saarländischen Rundfunks galt.

Clemens Kremer

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