Zum Konzert am 27. Juni 1969 in München


 Süddeutsche Zeitung, Datum unbekannt

Musik unter unglücklichen Sternen

Karl Richters Bachkantaten-Abend im Münchner Herkulessaal

So großartig Karl Richters erster Kantatenabend ausgefallen war, so sehr stand der zweite mit Dietrich Fischer-Dieskau unter unglücklichen Sternen. "Ich habe genug" und "Der Friede sei mit dir" sind zwei Kantaten, denen auch ein großer Sänger nur schwerlich großen Glanz zu geben vermag. Nicht nur der sprachliche Text, voll naiver Überredungskünste, wie süß doch eigentlich das Sterben sei, ist eher krud, - auch der musikalische Text gibt sich reichlich spröde, so spröde gar, daß man versucht sein mag, Bachs Autorschaft anzuzweifeln. Fischer-Dieskau sang die erste Kantate schön, manchmal vielleicht zu prononciert, zu emphatisch. Die Streicher kamen süß-andächtig, ohne vergessen machen zu können, daß dieses fünfteilige Stück offensichtlich eine Gelegenheitsarbeit darstellt, wie sie der Thomaskantor gleichsam am Laufband des Kirchenjahres zu liefern gezwungen war. Die letzte g-Moll-Arie, die Richter mit erstaunlichem Tempo anging (Vivace), bot Fischer-Dieskau Gelegenheit, all seine technische Perfektion einzusetzen.

"Der Friede sei mit dir" gibt uns schon als Komposition einige Rätsel auf. Die Besetzung mit Oboe, Solovioline und Basso continuo ist merkwürdig (vor allem in der Stimmführung der Violine, weshalb Zweifel an der überlieferten Besetzung laut geworden sind). Der sonst so sichere Otto Büchner hatte einige Intonationsschwierigkeiten, und dann geschah zu allem Unglück, was man bei einem derart routinierten Sänger wie Dietrich Fischer-Dieskau nun nie erwartet hätte: Er verlor den Faden, fand ihn auch, gegen die seltsame Stimmführung der Violine, für eine Weile nicht wieder. Solche Ausfälle können passieren, nicht einzusehen ist jedoch die Angewohnheit, einen solchen Text auswendig zu singen. Schließlich sind Bach’sche Kantaten keine Virtuosenstücke wie ein Rachmaninow- oder Tschaikowsky-Konzert, die auswendig zu spielen eine Selbstverständlichkeit ist. Der in e-Moll gesetzte Schlußchoral beließ es bei dem zwiespältigen Eindruck. "Der Würger kann uns nicht rühren" - zu solcher Gewißheit gab es wenig Anlaß.

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"Ich will den Kreuzstab gerne tragen" ist eines von Fischer-Dieskaus Standardstücken. Matthäuspassions-Nähe, ein schlichter, ergreifender Text und eine von wunderbarer Zuversicht wiegende Stimmführung - diese Kantate war sehr schön gesungen; das übliche Niveau des von Karl Richter geleiteten Münchner Bach-Festes war damit erreicht.

Baldur Bockhoff


    

    Abendzeitung, München, 30. Juni 1969     

   

Münchner Bachfest 1969

Solokantaten mit Dietrich Fischer-Dieskau (Herkulessaal).

Brandenburgische Konzerte Nr. 1, 2 und 5, h-Moll-Suite (Herkulessaal).

Konzerte für 1, 2, 3 und 4 Cembali (Hochschule).

Leitung: Karl Richter

Spektakulärer Solistenhöhepunkt des Münchner Bach-Festes war zwangsläufig der Solokantatenabend mit Fischer-Dieskau. Zwei Genies demonstrierten nebeneinander ihre unterschiedliche Bach-Auffassung: Karl Richter, der expressiven Glanz und markanten Orchestereffekt in zunehmendem Maße durch einen Grad von Introvertiertheit ersetzt, dem man bisher in dieser Konzentration nur bei seinen Passionsdeutungen begegnet ist; und Fischer-Dieskau, der jedes Kantatenwort durch eine höchst differenzierte und mehr nach außen gerichtete Gesangsmimik verdeutlichen möchte. Was dem einen seine mystische Tiefenschau, das ist dem anderen sein Balladenton.

Beides sind mögliche Bach-Deutungen, doch, wenn gekoppelt, reiben sie sich. Es entstehen Proportionsverhältnisse, die nicht stimmen, Gegenbewegungen im Ausdruck, die nicht komponiert sind. Ob hier eine zweiseitige stilistische Anpassung grundsätzlich oder nur aus Termingründen nicht möglich war, ist schwer zu sagen.

Ansätze dazu hat es eine ganze Reihe gegeben, etwa im Schlußarioso der Kreuzstabkantate. Da gewann der Abend eine Dimension hinzu, die über das auf hohem Niveau stattfindende, bloß Interessante hinausführte, zu dem auch eine aufregende Gedächtnisschwäche des Solisten und das indisponiert klingende Violinsolo Otto Büchners zählten. Hinreißend wieder einmal die Oboensoli Manfred Clements.

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Helmut Lesch

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