Zum Liederabend am 19. Oktober 1969 in Kiel


Kieler Nachrichten, 21. Oktober 1969

Der wohlbekannte Sänger

Liederabend mit Dietrich Fischer-Dieskau und Günther Weißenborn

Der große Saal des Kieler Schlosses war lange vor dem Konzert ausverkauft, und selbst auf der Orgelempore gab es beim Liederabend Dietrich Fischer-Dieskaus keinen freien Platz mehr. Er ist eben - um mit Goethes "Rattenfänger" zu reden - "der wohlbekannte Sänger", den jede Stadt besonders nötig hat.

Fischer-Dieskau verlor niemals die Gunst eines breiten Publikums, seit er zur Weltelite der Vokalisten zählt. Zwar wurden in den vergangenen Jahren Stimmen laut, die ihm einen gewissen Manierismus vorwarfen, Überbetonungen etwa, die mehr der Text- als der Liedinterpretation dienten. Aber solche Spitzfindigkeiten scherten seine Freunde wenig, und heute ist Kritik in dieser Sache gegenstandslos geworden. Fischer-Dieskau hat, wenn man so will, ein klassisches Ebenmaß erreicht.

Das bedeutet nun keineswegs Langeweile und Entpersönlichung, sondern im Gegenteil Konzentration und Klärung des individuellen Anteils an der Gestaltung. Es bedeutet ferner die entschiedene Abkehr von Programmen, die nach dem Motto "Was ihr wollt" im Sinne von Wunschkonzerten arrangiert sind. Man wird lange suchen müssen, um einen Liederabend mit ähnlich klarer Konzeption auszumachen wie den letzten, der einen Querschnitt durch Goethe-Vertonungen von der komponierenden Herzogin Anna Amalia bis hin zu Max Reger und Ferruccio Busoni brachte. Angesichts der Neigung vieler Interpreten, sich den Ansprüchen von "Hearer’s Digest" zu unterwerfen, entfällt auch der mögliche Einwand, Fischer-Dieskau rede mit goethescher Zunge der bürgerlichen Bildungsphilisterei das Wort. Besser trifft da die Meinung, er wehre sich auf intelligente und nonkonformistische Weise gegen eine Konsumentenmoral, die stets nur den Bestseller preist.

So war denn der Abend reich an kleinen Entdeckungen. Reichardt und Zelter, Goethes Lieblingskomponisten, gewannen da überraschende Qualität. Beethovens Liedkunst, so wurde deutlich, muß primär an der Wortkunst des Weimarers gemessen werden. Man erkannte, wie sehr Schubert beim Komponieren von den im Text verborgenen oder auch sinnenfällig geschilderten Bewegungen abhängig war und wie schwer er sich tat, Ruhe, Regungslosigkeit und Schweigen - die Inhalte des Gedichts "Meeresstille" - musikalisch zu fassen. Weniger ergiebig, was rasches Erfassen von Eigentümlichkeiten betrifft, erwiesen sich Schumann, Brahms, Wolf und Strauss, will man nicht die zunehmende Komplizierung der Harmonik zum Kriterium nehmen, die dann bei Schoeck, Reger und Busoni ins äußerste getrieben ist. Busoni übrigens, der viel zu wenig Beachtete, war mit dem "Zigeunerlied" glänzend repräsentiert.

Fischer-Dieskau, dessen charakteristisches Timbre am schönsten in verhaltenen Liedern zur Geltung kommt, fand zusammen mit dem traumhaft sicher begleitenden Günther Weißenborn stets die stilistische Nuance, die sein weitgefächertes Programm forderte. Höhepunkte, sofern man nach solchen Ausschau hält, lassen sich da weniger aus besonders gelungenen Interpretationen als aus besonders gelungenen Kompositionen ableiten, ganz abgesehen von der Geschmacksfrage, die sich gegenüber so reichhaltigem Angebot an Heiterem, Dramatischem, Balladeskem und sensibler Stimmungskunst stellt. Bewundernswert in jedem Fall die Treffsicherheit, mit der Sänger und Pianist auf der weiten Skala der Ausdrucksschattierungen und Phrasierungsmöglichkeiten von Einsatz zu Einsatz ins Ziel kamen. Schätzenswert auch der weitgehende Verzicht auf Selbstdarstellung zugunsten dessen, was gezeigt werden sollte, eben das Wechselspiel zwischen einem Lyriker und seinen teils dienenden, teils autonomen Freunden aus rund anderthalb Jahrhunderten.

Beifall, Zugaben, Beifall. Das erste Kieler Meisterkonzert verdiente seinen Namen. (Konzertdirektion Robert Streiber.)

Rolf Gaska

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