Zum Liederabend am 23. Oktober 1969 in Bremen


Bremer Nachrichten, 25. Oktober 1969

Dietrich Fischer-Dieskau sang Schuberts "Winterreise"

Monolog der Trauer

Franz Schuberts Liederzyklus "Die Winterreise" als Sänger wie ein tragisches Monodrama erleben zu lassen, ist heute Dietrich Fischer-Dieskaus eigentliche Domäne. Wieder war der große Glockensaal schon seit längerem bis hinauf zum Podium ausverkauft, und wieder folgten die Besucher des Sonder-Meisterkonzertes Fischer-Dieskaus geschlossener Darbietung von Schuberts letzter großer Schöpfung mit Günther Weißenborn am Flügel in unermüdlicher Bereitschaft und Spannung.

Aber wie Schuberts musikalische Gestaltung der Dichtung des Dessauer Bibliothekars, Altsprachlers und talentierten volkstümlichen Poeten Wilhelm Müller (1794 bis 1827) in ihrer Art eine einmalige unvergleichliche Gipfelleistung geblieben ist, erscheint auch Fischer-Dieskaus Wiedergabe als eine nachschöpferische Leistung, in der jedes Form- und Ausdruckselement der vierundzwanzig Lieder und Gesänge bis auf seinen Grund und bis an seine Grenze erschlossen ist.

In Dietrich Fischer-Dieskaus künstlerischer Persönlichkeit verbinden sich schier unerschöpfliche stimmliche Mittel, prominentes sängerisches Können, hohe und geistig disziplinierte Musikalität und ein vitales dramatisches Temperament zu unvergleichlicher Homogenität. Das befähigt und legitimiert ihn, jedes der intimen Geschmeide und der zuweilen expressionistisch ausladenden Stücke des Schubertschen Zyklus zu einem Eindruck zu vergegenwärtigen, für den die Gattungsmerkmale von Lied, Gesang und Ballade gewissermaßen zu einem gesamtkunstwerklichen Erleben der "Winterreise" eingeschmolzen sind, zu einem unerschöpflich sich abwandelnden Monolog von Trauer und Schmerz um verschmähte Liebe, von müder Resignation zu ekstatischem Aufbegehren und schließlich romantischer Selbstzerstörung.

Gelegentlich spürt man, wie bewußt Dietrich Fischer-Dieskau dieser Aufgabe nachgeht, die er als die wesentliche der "Winterreise"- Darbietung empfindet. Aber was man eben noch womöglich als etwas forcierten Kontrast hinnehmen zu müssen meinte, wirkt sich schnell als Baustein zu einem übergeordneten Eindruck aus, als substantiierender Farbwert zu einem Porträt, das ein ebenso erschütterndes wie faszinierendes Seelengemälde ist.

Natürlich ließe sich mancherlei einzelnes in Fischer-Dieskaus "Winterreise"- Interpretation als besonderer Kunstgriff oder künstlerischer Bedacht herausstellen. Aber es fragt sich, ob man damit der Komplexität des Erlebnisses, das er zu vermitteln wußte, im Nachhinein noch dienen kann. Zumal Fischer-Dieskau in Günther Weißenborn am Flügel wieder einen Partner hatte, der ebenso einfühlig auf seine Intentionen einging wie er in ergiebigem Mitgestalten zu dem mitreißenden Eindruck des Abends beitrug. Als mußten sich die Hörer erst fangen von überwältigtem Benommensein, wuchs der Beifall erst allmählich zu begeistertem Applaus. Hielt dann aber enthusiastisch sehr lange an.

Fritz Piersig


   

     Weser-Kurier, Bremen, 25. Oktober 1969     

   

Im schwermütigen Bann der "Winterreise"

Dietrich Fischer-Dieskau sang Franz Schuberts Liederzyklus

    

Leuchtender und schöner denn je strahlt sein Bariton. Die suggestive Gestaltung hat so leicht nicht ihresgleichen. Vom ersten Nachtlied an ist man im Bann der begnadeten Stimme und bleibt es ununterbrochen, anderthalb Stunden hindurch. Die einzigartige Konzentration erscheint ebenso bewundernswert wie die rein physische Kraft, die mühelos eine der anspruchsvollsten musikalischen Aufgaben bewältigt.

Nach langer Pause sang Dietrich Fischer-Dieskau in Bremen wieder Schuberts "Winterreise", den schwermütigen Liederzyklus nach Gedichten von Wilhelm Müller. Als Sonderveranstaltung hatte der repräsentative Abend im Rahmen der Meisterkonzerte überragende Bedeutung. Jenen tieftraurigen Monolog eines einsamen jungen Menschen, der am Leben verzweifelt und in ergreifender Klage vergeht, können nur die besten Sänger vollauf erfassen und vollendet gestalten. Die Bremer Musikfreunde hatten das Glück, im letzten Jahrzehnt stimmlich und künstlerisch verschiedenartige Persönlichkeiten von hohem Rang als berufene Interpreten der "Winterreise" zu vernehmen. Neben Dietrich Fischer-Dieskau war es sein baritonaler Kollege Hermann Prey und nach diesem - als einziger, der jene 24 Lieder in der Urgestalt vortrug - der Tenor Peter Pears.

Seltsam. Anscheinend hat sich, entgegen sonstiger Gepflogenheit, das Ohr des Hörers mehr und mehr an die dunkle Transposition des Stimmpartes gewöhnt, die in diesem Falle den melancholischen Gehalt der lyrischen Folge noch vertieft. Die Tragik des Schicksals spielte eine besondere Rolle im Leben von Wilhelm Müller (der ebenso unbegreiflich früh gestorben ist wie sein Altersgenosse Schubert). Niemals erfuhr er, daß seine Gedichte von dem größten Liederkomponisten vertont wurden. Diese sangbaren Texte, die kein Geringerer als Heinrich Heine hochschätzte, sind zu Unrecht von der Nachwelt mißachtet worden, die sich lange Zeit nur für Müllers "Griechenlieder" begeisterte.

Bei einem geistvollen und empfindsamen Interpreten wie Dietrich Fischer-Dieskau wirken gewisse Süßlichkeiten und epigonale Schwächen der Müllerschen Diktion - ihr Eichendorff-"Rauschen" und "heißes Weh" - niemals aufdringlich, sondern sie werden durch vornehme Dämpfung unterdrückt. Seine dynamische Modulationsfähigkeit in den Strophenliedern ist nahezu unbegrenzt. Beim hauchzarten Pianissimo ("Will dich im Traum nicht stören"), das klar und tragend im großen Glockensaal schwebt, herrscht atemlose Stille im Raum. Schnelle Übergänge von besinnlichen zu erregten Stimmungen festigen den engen Zusammenhang der kontemplativen und dramatisch einschneidenden Episoden. Derart innervierend unterbricht bereits das Spiel des Windes mit der Wetterfahne das elegische Notturno der "Guten Nacht". "Gefrorene Tränen" fallen attacca in das stürmische Intermezzo. Erst vor dem schattenspendenden "Lindenbaum" (dessen Urmelodie Friedrich Silcher zum schlichteren Volkslied "Am Brunnen vor dem Tore" herauszog) erfolgt eine Zäsur. Günther Weißenborn ist wieder der subtile Nachdichter am Steinway-Flügel. Und wenn diesmal dem feinsinnigen Pianisten gelegentlich eine Sechzehnteltriole etwas danebengeht, so schadet das kleine Versehen nicht das geringste. Man spürt den lebendigen Impuls einer beseelten Wiedergabe und entbehrt gern die manipulierte Perfektion einer Schallplatte.

Nicht eine Sekunde läßt die Spannung nach. Leidenschaftliche Reflexionen ("Auf dem Flusse") steigert Dietrich Fischer-Dieskau mit der ihm eigenen Intensität. Unheimlich drohen die Visionen von Krähen und Raben. Nach dem kalten und wilden, vom Sturm zerrissenen Wintermorgen führt der Weg in die Aussichtslosigkeit der letzten, von Todesahnung bedräuten Stationen. Ein Totenacker wird zum erschütternden Memento mori. Fast gespenstisch, in der fahlen Ausdrucksweite zutiefst erfühlt, gestaltet der Sänger den schmerzlichen Epilog. Auf den leeren Baßquinten, über denen sich die hoffnungslose Melodie der Radleier monoton erhebt, verweht schemenhaft das letzte Bild.

Viele Hörer lösen sich nur schwer aus der Trance. Ergriffenes Schweigen ist edler Lohn. Aber dann kommen Bravorufe und Blumenspenden zu ihrem Recht.

Dr. Ludwig Roselius

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