Zum Liederabend am 27. Oktober 1969 in Kassel


Hessische Allgemeine, Kasseler Post, 29. Oktober 1969

Wort, Musik und Stimme

Dietrich Fischer-Dieskau sang Goethe-Vertonungen

Dietrich Fischer-Dieskau hat ein Programm unter das Motto "Lieder nach Gedichten von Johann Wolfgang von Goethe" gestellt (1. Sonderkonzert der Konzertdirektion Hans Laugs, Montag in der Kasseler Stadthalle). Das, was man auf den ersten Blick als Begrenzung befürchten konnte, wurde ein unerwartet farbiges und vielfältiges Bild. Fischer-Dieskau hat für dieses Programm einen sehr aufschlußreichen Essay geschrieben, in dem er nicht nur einen kulturhistorischen Aufriß gibt, sondern auch erläutert, was ihn an dieser Themenstellung gelockt hat: die weite Skala musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten, wie sie bis in unser Jahrhundert hinein durch Goethes Sprache gegeben ist.

Die auf Goethes Lyrik und Balladen bezogenen Beispiele reichen von der einfachen Vertonung der Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar über Johann Friedrich Reichardts pathetisches "Feiger Gedanken bängliches Schwanken" und Carl Friedrich Zelter bis zu Beethoven, Schubert, Schumann, schließlich Strauss, Schoeck, Reger, Busoni und Wolf. Selbst das reiche Angebinde an Zugaben sprengte diesen Rahmen nicht.

In dieser Vielfalt fand Dietrich Fischer-Dieskau die musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten, um die es ihm ging. Um die es ihm heute wieder geht. Denn es hat Jahre gegeben, da schienen seine Lieder-Programme, oft in einem durchgehenden, kaum nuancierten Mezzoforte und auf einem nicht selten bis an die Grenze zur Manieriertheit stoßenden larmoyanten Unterton, schwer erträglich.

Nichts davon heute mehr. Fischer-Dieskau setzt, bei einem so großen und intelligenten Künstler selbstverständlich unaufdringlich, sehr genaue auffallende dynamische Akzente, er stellt Dramatik gegen Lyrik, wobei Dramatik niemals in Opernnähe gerät, Lyrik nicht zum Überladenen hin neigt.

Er bringt zum Beispiel Schuberts "Meeres Stille" in einem fast herben Pianissimo, das den Hörer in Bann schlägt. Ihm gelingen in diesen Lied der "fürchterlichen" Stille hohle Klänge, die bewußt leblos erscheinen adäquat der "Todesstille", die über dem letzten Vers ruht, als hätte er seiner Stimme die Obertöne genommen. Wir erleben Liedinterpretationen, die eine mehr und mehr faszinierende Identität der (gestalteten) Form und der Sprache offenbaren - Töne werden eine Dimension der Sprache. Und einen Atemzug später stürzt sich die Stimme in die balladeske Dramatik des Schubertschen "Erlkönigs", für den der Sänger nun alle Register zieht.

Es gibt kaum eine Liedzeile, die Fischer-Dieskau so singt, wie...; das heißt auf Schumann bezogen, daß für jeden neuen literarischen und musikalischen Gedanken neue interpretatorische Ansätze gefunden werden. Hört man in Schumanns "Sitz ich allein" das dreimalige "Wo kann ich besser sein?", so erklingt das dreimal in einer anderen Stimmfarbe. Wiederholung ist Wiederkehr des gleichen Gedankens mit einem neuen Ausdruck umhängt. Nuancen sind das oft nur, aber sie sind von eminenter Wichtigkeit, sie machen erst den Wert der Interpretation aus. Oder: wenn Fischer-Dieskau Brahms singt (Serenade aus "Claudine v. Villa Bella"), so geraten Zeilen wie "zärtliche Seelen" oder "liebliches Kind" in eine bewußt distanzierte Herbheit, die Sentimentalität als unstatthaft abweist.

Man erinnere sich schließlich an Max Regers elegische "Einsamkeit" (Die ihr Felsen und Bäume bewohnt), wenn der Sänger mit großem Pathos den dritten Vers "Denn euch haben die Götter" anhebt, um dann über ein sorgfältig gestaltetes Decrescendo die letzten "tröstlich und hilfreichen" Worte als Sublimierung der Dichtung in der Musik zu deuten. Überhaupt erhält in so disziplinierter Interpretation Regers expressive Chromatik einen ungeahnten Reiz. Hugo Wolfs Lieder, die zum Teil viel stärker "überholt" erscheinen als Reger, Schoeck oder Strauss, raffen in dieser Auswahl noch einmal den Reichtum der stimmlichen Darstellungsmöglichkeiten, bis zum heute schwer erträglichen Durchhalte-Sieges-Pathos des Cophtischen Liedes "Geh’ gehorche meinen Winken", wie Wolf es musikalisch übersteigert.

Wie "macht" der Sänger das? Dietrich Fischer-Dieskau beherrscht sein Instrument Stimme so perfekt, wie ein großer Pianist oder Geiger das Seine als Voraussetzung jeder guten Interpretation. Er ist ein Sänger, den hohe, nicht nur musikalische Intelligenz auszeichnet und eine Musikalität, die der Musiker schlicht mit "Herz" zu bezeichnen pflegt, was im üblichen "Herz"-Sinn aber nicht gemeint und auch nicht erklärbar ist. Fischer-Dieskau setzt jeden Ton sicher und exakt in hervorragender Artikulation und ohne Vokalverfärbung, er trifft den Stimmungsgehalt so sehr bewußt, daß man befürchten müßte, zu viel Kalkül zerstöre die Spontaneität des Vortrags. Mir schien es oft, als stehe er so weit über der Interpretation, daß bereits das wieder spontan wirkt, was bewußt eingeplant ist.

In Günther Weißenborn, seinem Lehrer, hat Fischer-Dieskau einen idealen Begleiter, der den im romantischen Lied wichtigen Klavierpart gleichberechtigt neben der Stimme darbietet; daß der Pianist nicht ungebührlich hervortritt, ist hier selbstverständlich. - Stürmischer Beifall und viele Zugaben.

Bernd Müllmann

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