Zum Konzert am 19. Juni 1970 in Göttingen


Süddeutsche Zeitung, 30. Juni 1970

50 Jahre sind des Guten noch nicht zuviel

      "Salomo" und "Ricardo" von Händel bei den Göttinger Festspielen aufgeführt

Auf einem Empfang nach der Premiere der seit Händels Zeiten nie mehr aufgeführten Oper "Richard Löwenherz" erklärte Göttingens Oberbürgermeister, wie stolz er auf die ungewöhnliche Leistung der nun fünfzig Jahre währenden Händel-Festspiele sei. Davon, daß in seinem Magistrat Kräfte am Werke sind, eben diese Festspiele zu torpedieren und den geringen Zuschuß von etwa zwanzigtausend Mark zu streichen, sagte er nichts. Nun, von der Frage nach Göttingens Kulturimage einmal abgesehen, ist durchaus und ernsthaft zu prüfen, ob fünfzig Jahre Festival für Händel nicht tatsächlich des Guten genug sind.

Diese fünfzig Jahre, seit Oskar Hagen, Privatdozent der Kunstgeschichte und Dirigent zugleich, mit der Erstaufführung der Oper "Rodelinde" den Startschuß gab, hat es in Göttingen immer wieder Entdeckungen gegeben, Ausgrabungen, die nicht nur den Experten interessierten. Der Streit um das, was bei Händel wesentlich ist, was in welcher Form dargeboten werden soll, hier szenisch, dort orchestral -, er ist bis auf den heutigen Tag nicht verebbt. Mit seinen Concerti grossi, den Orgelkonzerten, dem "Messias", einiger Kammermusik ist Händel in unser Musikleben integriert. Aber sind seine Oratorien, seine Opern nicht doch der gewichtigere Teil des Oeuvres?

Göttingen hat ein halbes Jahrhundert hindurch diese Fragen zu beantworten getrachtet. Die Antwort ist eindeutig: auch in den Oratorien und in einigen Opern seien Akzente und Werte gesetzt, auf die man nicht mehr verzichten dürfe.

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Bei der Konzertwiedergabe des Oratoriums "Salomo" besetzte man die Titelrolle mit einem Bariton - wohl deshalb, weil er Dietrich Fischer-Dieskau hieß. Seine Duette, farblich zwar weniger überzeugend wie die in der Oper mit Esswood, nahmen sich doch glaubwürdiger aus, weil der männliche Charakter der Stimme - und das gerade bei dem ereignisartig gut disponierten Fischer-Dieskau, der Verzierungen ebenso wie lyrische Kantilenen mit einer faszinierenden Präsenz versah - den Eindruck bestimmen konnte.

Bei diesem "Salomo", der von Liebe und Weisheit drei Teile hindurch schwelgt und erstaunlich an Haydn denken läßt, überhaupt einen sehr sympathischen, weil unpathetischen Händel vorstellt, bei diesem nun tatsächlich zu Unrecht vernachlässigten Oratorium waren die Zuhörer nicht nur wegen Fischer-Dieskau und seiner Partnerin Emilia Petrescu, des hervorragenden Knabenchors und des Festspielorchesters (hauptsächlich aus dem Südwestdeutschen Kammerorchester gebildet) begeistert - hier zeigte sich Händel mit einer faszinierenden Frische.

So muß man - nach diesen beiden Kompositionen, die Günther Weißenborn dirigierte, eher als nach den weniger aufschlußreichen Konzerten, auch wenn eine Titus-Torso-Partitur gleichsam "uraufgeführt" werden konnte - den Festspielen danken, daß sie sich so entschieden des unbekannten Händel angenommen haben. Und selbst dann, wenn es nun, nach diesen fünfzig Jahren, keine weiteren ebenso wichtigen Entdeckungen zu machen gäbe, müßte jetzt doch durch Wiederholungen auf das erneut aufmerksam gemacht werden, was sich als besonders lohnend hervortat.

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Wolf-Eberhard v. Lewinski


     

     Göttinger Presse, 29.(?) Juni 1970     

    

Solisten von internationalem Rang gaben dem Oratorium und Kammerkonzert das Gepräge

   

Solisten von internationalem Rang gaben den beiden Konzerten das Gepräge, die zum Wochenende anläßlich des 50jährigen Jubiläums der Göttinger Händel-Festspiele in der Stadthalle geboten wurden. Für Freitag hatte die Händel-Gesellschaft zum Oratorium "Salomo" eingeladen, für Sonnabend zu einem Kammerkonzert. Wir berichten hier über jede der beiden Veranstaltungen.

Das dreiteilige Werk, dessen dramatischer Höhepunkt in der Mitte, dessen musikalischer Höhepunkt dagegen in den großen Chorsätzen des Schlußteils liegt, wurde von Günther Weißenborn mit dem Göttinger Knabenchor, dem Süddeutschen Kammerorchester und vier Gesangssolisten aufgeführt. Dietrich Fischer-Dieskau ließ den Kontrast zwischen Rezitativen und Arien deutlich werden und verfügte außerdem noch über zahllose Zwischenstufen, wie z.B. in dem höchst beeindruckend gesungenen salomonischen Urteil: "Zerteilt das Kind." Emilia Petrescus warm und beseelt ausklingende Arien waren ein besonderes Erlebnis. Gertraud Stoklassa, sonst vorwiegend in Bach-Kantaten gehört, zeigte sich hier im hektischen Part der zweiten Mutter von einer ganz anderen, gekonnt dramatischen Seite. Arthur Janzen sang seinen Tenor-Part mit wohltuend elegantem Fluß, aber gelegentlich etwas zu flachem Klang der hellen Vokale.

Günther Weißenborn legt als Dirigent viel Gewicht auf die exakte Angabe des Grundschlages. Alle anderen Zeichengebungen sind dieser Hauptfunktion untergeordnet. Im Gegensatz zu einer allzu willkürlichen Handhabung des Zeitmaßes, wie sie in der Romantik üblich war und vereinzelt bis heute nachwirkt, ist damit eine ganz wesentliche Seite der barocken Klangwelt wieder zu ihrem Recht gekommen: Die Musik hat ihren gesunden "Pulsschlag" zurückerhalten. Dennoch sei hier die Frage erlaubt, ob nicht andere Elemente der Musik noch mehr Gewicht verdienen; zweifellos hat die Musik – und ganz besonders die Musik Händels und Bachs – etwas Motorisches in sich. Aber ist Musik nicht vor allem eine Sprache und als solche Aussage einer geistigen Haltung und eines geistigen Gehaltes? Ähnlich wie das gesprochene Wort entfaltet auch sie durch ihre Töne Spannung und Lösung, Bewegung und Ruhe, Spitzen und Tiefen. Sie tut dies am besten gerade auf dem Hintergrund (nicht Vordergrund) des Metrums. Kaum eine Epoche hat so viel von der Beziehung zwischen Sprache und Musik gewußt wie die Barockzeit. Eine noch "sprechendere" Interpretation im Instrumentalpart wäre darum erwünscht gewesen. So hätte das Gesamtwerk noch mehr von der Spannung gewinnen können, die der dramatische zweite Teil durchaus erhielt.

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Autor unbekannt

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