Zum Liederabend am 19. Januar 1971 in New York


New York Times, 21. Januar 1971

Music: Fischer-Dieskau

Take any song by Hugo Wolf and it is a complete, self-containes expression of a mood, an incident, a bit of introspection, a dramatic story. Their individual totality could not have been more completely encompassed than they were in the recital of Wolf songs given by Dietrich Fischer-Dieskau and Daniel Barenboim in Carnegie Hall on Tuesday night.

The program was drawn from the composer’s settings of poems by Eduard Mörike, which include some of his best-known songs. It was typical of the baritone that he also sang a large share of works that are rarely performed - possibly because they are so difficult. He is such a consummate vocal technician as well as interpreter that he brings off the hard songs with apparent ease, and they can be listened to as music. Which is one secret of Mr. Fischer-Dieskau’s greatness.

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There was, for example, the opening song. "Der Genesene an die Hoffnung," which rises in a single stanza from its low soft "Tödlich" to a note of strong affirmation. At the end, the work’s musical arch is completed where it began. The baritone outlined this arch with unerring sense, decorating it with every possible nuance. The performance of the long and brilliant "Feuerreiter" was no less vivid in its sepulchral final phrases than it was in early brazen ones that they echoed.

Mr. Fischer-Dieskau sang the two unusual "Peregrina" songs, with their curious and beautiful chromatic vocal phrases; "Bei einer Trauung," a portrait of an unhappy wedding almost too bitter to be funny, with Mr. Barenboim making the most of the acid little phrases in the accompaniment, and "Zur Warnung," which began with the singer’s use of a marvelously husky tone to suggest the drinker hung over in the morning.

One could go on detailing the effects, always sounding spontaneous, that two artists achieved - the intense ecstasy of "Auf einer Wanderung" the sustained quiet invocation of "An den Schlaf," the comic drama of "Abschied."

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Both Mr. Fischer-Dieskau and Mr. Barenboim seemed intent on getting everything out of each song. There were a few instances where it was possible to feel they got too much. In "Im Frühling," that perfect embodiment of uncertain yearning, neither sad nor happy, the dreamlike spell was broken - if barely - by phrases sung more strongly than expected. "Neue Liebe" was turned into a much more dramatic song than usual.

Singer and pianist, however, were in constant agreement on interpretation. Where Mr. Fischer-Dieskau had been a more reserved singer when he appeared with Gerald Moore, he matched Mr. Barenboim’s sensitive but more ebullient playing. With artists of this quality, one accepts their performance gratefully, even when one mildly questions them.

Raymond Ericson


Aufbau, New York, 29. Januar 1971     

    

Fischer-Dieskau singt Hugo Wolf

     

Wie Dietrich Fischer-Dieskau die Liedkunst Hugo Wolfs auffasst, kann man in seinem "Versuch über das Klavierlied deutscher Sprache" nachlesen. Zwei Sätze: "Die Schwierigkeiten, mit denen Wolf dem Ausführenden wie dem Hörer aufwartete, waren neu und vielfältig" und "Sein ureigenster Bezirk ist in der geistgetragenen Innerlichkeit zu finden, wie sie sich leidenschaftlicher und erlesener als in den Mörike- und Eichendorff-Gesängen nicht ausdrücken konnte" fanden ihre Bewahrheitung im zweiten diesjährigen Konzert des Künstlers, das er zwanzig der 53 Mörike-Lieder widmete, die Wolf achtundzwanzigjährig, in weniger als vier Monaten geschrieben hat.

Die Auslese, von einem Meistersänger auf dem Gipfel seiner Künstlerschaft interpretiert, umfasste das bildhaft-Lyrische, das Balladeske, und das idyllisch-Volksliedhafte von Mörikes unvergilbter Poetik, deren Wortgestalt Hugo Wolf durch Aufspaltung der Harmonik und des Klanges musikalisch bis auf die kleinsten Verästelungen sinnvoll entsprochen hat. Oft wurde auf die Gefühlsintensität und auch auf die Gefühlsseligkeit Fischer-Dieskaus hingewiesen, aber beide arten nie zu Überschwang aus, sind bei aller Beherrschung dennoch spür- und hörbar.

Was das Charisma eines Sängers ist, dessen in allen Lagen vollendeten Ausdrucks sicherem Bariton erotisierendes Fluidum fehlt, sind Einmaligkeiten, deren Summe letzthin nur Begnadung genannt werden kann. Das Angeborene, das Erworbene, das immer neu und wieder neu Erlernte (und welcher Sänger kann sich an dem von Fischer-Dieskau beherrschten Repertoire messen?) kulminieren in einem Vortragsstil, der weitere Perfektibilität nahezu ausschliesst.

Und so waren die Momente unnennbar, in denen man während zweier Weihestunden die Augen schloss, um die Lieder in sich einzutrinken und berauscht zu sein von der mit jeder Silbe, mit jedem Vokal sich neu verwandelnden Stimme, von der überwältigenden, trotz seines Namens nicht selbstherrlich dargebrachten Klavierbegleitung Daniel Barenboims. "Der Feuerreiter" hetzte spukhaft erschreckend in wilder Dämonie zur brennenden Mühle; "An den Schlaf" war ein weltentrückendes Wiegenlied; "Storchenbotschaft" und (in anderen Liedergruppen) "Zur Warnung", "Bei einer Trauung" und (fulminat gesungen und gespielt!) "Abschied" ließen den doppelbödigen Humor Mörikes und Wolfs schelmisch-verschlagen auffunkeln; "An die Geliebte" (dem ich die Perle der Lobesperlen geben möchte) war wahrhaft dem Lauschen des Lichtgesanges der Sterne gleichzusetzen.

Die Carnegie Hall glich einem Gotteshaus: man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so andächtig empfing die Gemeinde den Hohepriester des Liedes. Zum Schluss Jubel, dem fünf Zugaben das unweigerliche Ende setzten.

Robert Breuer

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