Zum Liederabend am 30. April 1971 in Heidelberg


     Rhein-Neckar-Zeitung, 3. Mai 1971     

Lieder von Beethoven

Dietrich Fischer-Dieskau im achten Heidelberger Meisterkonzert

     

Wenn Beethoven doch ein ganz anderer ist? Wenn er viel einfacher ist, viel offener, viel brüderlicher, weil er viel ehrlicher und bewußter fühlt, weil er Welt und Menschen viel demütiger und liebender in sein Herz gesaugt hat? Wenn sein Glühen viel umspannender ist als der Kult des Wissens, den wir um dieses Leben aufbauen?

Dietrich F i s c h e r - D i e s k a u s Liederabend war in dieser Sensibilität der Aneignung Beethovens ein einzigartiges Bekenntnis. Schuld, Buße, Hoffnung, Liebe, Gott, Natur - wenn Fischer-Dieskau davon singt, dann sind das nach wie vor Dinge, die die Welt bewegen und keine Blümchen auf dem Abfallhaufen vergangener Zeiten. Die schlichte menschliche Geradheit und Nähe im Singen Fischer-Dieskaus bildet in immer weiter ausgreifenden Ringen den Stamm, aus dem heraus seine Kunst blüht und reift. Jede Begegnung mit Fischer-Dieskau bestätigt, daß dieser Sänger wächst. Nicht nur das intensive Volumen der Stimme scheint größer geworden zu sein, auch ihr Modulationsreichtum ist vermehrt, das Crescendo in die Kopfstimme hinein, in "An die Hoffnung" und im Zyklus "An die ferne Geliebte", der ins Innerste der Empfindungswelt Beethovens führende Schlüssel, besitzt in seiner Schönheit eine verklärende, idealisierende Kraft, und auch die Deklamation scheint besonnener, wesentlicher geworden zu sein. Die selbstbewußt herausgekehrten kleinen Spitzen und Ecken, die früher ein jungenhaftes Moment bewirkten, sind reduziert, noch stärker verinnerlicht, so daß sie dort, wo sie erscheinen, unmittelbare seelische Bewegung auslösen.

Die erste Programmhälfte besaß mehr Gewicht. Die sechst geistlichen Lieder von Gellert und der Zyklus "An die ferne Geliebte" glichen einem einzigen Höhenflug. Hier die wunderbar gelöste, befreite, sich verströmende Vision der Geliebten in der Natur, wie sie Fischer-Dieskau traumhaft in der Zartheit des über 12 Takte gleichen Tons im C-Dur-Teil "Dort im ruhigen Tal" des zweiten Liedes aufblühen ließ, dort das unverfänglich beherrschte Gellertsche Pathos, das Thema von Größe und Gnade der Gottheit, eines der Ur-Themen Beethovens, das Fischer-Dieskau mit beispielloser Kraft und Lauterkeit ausfüllt. Die einzige Unstimmigkeit dieses ersten Teils kam dadurch, daß der sonst so nobel begleitende, ganz in der Stimme Fischer-Dieskaus aufgehende und in ihr denkende Günther W e i ß e n b o r n den Schluß des Zyklus "An die ferne Geliebte" verwässert hat, indem er statt Diminuendo ein deutliches Ritardando spielte.

Der zweite Teil mit dem Schwerpunkt der fünf Goethe-Lieder wirkte aufgelockerter und ausgelassener. Wenn Fischer-Dieskau den Bogen von der schwärmerisch gedrängten "Adelaide" nach Matthisson bis zum bissigen Flohlied des Mephisto spannt, wenn er seine kleinen, behenden Staccati blitzen läßt und die ganze lebensvolle Fantasie seines Vortrags ausbreitet, wenn wundert es dann, daß die Ovationen für diesen Sänger quer durch die Generationen gehen?

Mit seiner Liedauswahl hat Fischer-Dieskau den Blick auf einen anderen, dem Impuls des eigenen Fühlens radikal ausgesetzten, in die aufziehende Romantik hinaushorchenden Beethoven gelenkt. Er tat gut daran, diesen Aspekt erst nach der Betriebsamkeit des Beethoven-Jahres aufklingen zu lassen.

Hansdieter Werner


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