Zum Liederabend am 10. Mai 1971 in Wuppertal


     General-Anzeiger Wuppertal, 11. Mai 1971     

Im Wunderreich Franz Schuberts

Dietrich Fischer-Dieskau wurde im Wuppertaler Meisterkonzert umjubelt

     

Seit zwei Jahrzehnten kommt er nun in fast regelmäßigen Abständen in die Wuppertaler Stadthalle, und wer den begnadeten Sänger Dietrich Fischer-Dieskau schon längst zu kennen glaubt, entdeckt jedes Mal Neues und wird der Bewunderung nicht überdrüssig. Auch gestern abend, im letzten Wylach'schen Meisterkonzert dieser Saison, wurde wiederum hohe und höchste Liedkunst das erregende und bewegende Ereignis. Der Große Saal war so gut wie ausverkauft; alte und junge Besucher waren gleichermaßen enthusiasmiert und schieden von dem Künstler erst eine halbe Stunde nach Ende der Programm-Folge. Schuberts "Abschied" ("Ade, du muntre, du fröhliche Stadt") war seine herzlich-zärtliche Schluß-Reverenz.

Dem Romantiker war das ganze Konzert gewidmet, vor allem dem weitgehend unbekannten Schubert, und in diesem Bereich überwog der verhaltene, zwischen Glück und Trauer schwebende Lyriker. An Stimmkraft und -volumen hat Fischer-Dieskau nicht das Geringste eingebüßt, ist eher noch gewachsen. Sein "Prometheus" (nach Goethe) ist unüberbietbar an titanischem Aufbegehren, eine dramatische Synthese von Trotz und Hohn.

Dabei hütet sich - hier wie in anderen Liedern - der erfahrene Bühnensänger vor forcierter Deklamation, die seinen Liedgesang in früheren Jahren mitunter trübte. Dagegen trog der Eindruck wohl nicht, daß Fischer-Dieskaus Wortprägnanz schon klarer, schärfer war als diesmal, vor allem im Rezitativischen und im hurtig dahinsprudelnden Parlando.

Es wäre Beckmesserei, sich daran festzubeißen. Entscheidend bleibt, daß der Sänger mit sensibler Intelligenz den Sinn- und Stimmungsgehalt eines jeden Liedes bis auf den Grund ausschöpft, daß er sich nicht auf den zauberhaften Schmelz seines Baritons verläßt. Dieser Wohllaut, in dem die ganze dynamische Skala vom hauchzarten Pianissimo bis zum strahlkräftigen Ausbruch eingebettet ist, hat an bestrickendem Reiz nicht seinesgleichen - der hohe Grad der Interpretation wird jedoch erst dadurch erreicht, daß die kleinste Nuance in Phrasierung und Klangfarbe dem jeweiligen Ausdruck gemäß ist.

Im Piano-Bereich ist die Artikulation des Tons besonders feinsinnig. Das fließende Legato der "Litanei" gewinnt die Größe eines demütigen Requiems. Ins Überirdische wächst "Totengräbers Heimweh" empor. Die Erinnerung an "Die Götter Griechenlands" (nach Schiller) wird zur sehnsuchtsvollen Elegie, und selbst in "Des Fischers Liebesglück" wird das Idyll ins Metaphysische entrückt. Das unirdisch Ewige ist diesen wie den meisten der gewählten Lieder immanent - Fischer-Dieskau bringt es mit einer Suggestivkraft ohnegleichen zum Klingen.

Wie schon seit Jahren war Günther Weißenborn der ideale Partner am Flügel, der die Melodie des Gesangs feinnervig stützte und weiterspann.

Ein anspruchsvoller, attraktiven Gefälligkeiten abholder Abend, der zum Horchen in die Tiefe zwang.

Alfred Mayerhofer

zurück zur Übersicht 1971
zurück zur Übersicht Kalendarium