Zur Oper am 16. Juli 1971 in München


  Süddeutsche Zeitung, Datum unbekannt

Münchner Kulturberichte

Rücksicht auf die Stimmen

Wolfgang Sawallisch dirigiert "Figaros Hochzeit" im Nationaltheater

Die Bühne barst vor Sängerprominenz, und doch ärgerte kein isolierter Star, der wider Mozarts dramatisches Grundprinzip des permanenten Kontakts zu den Partnern verstoßen hätte. Das Werk - die Krone der Opera buffa, ja der musikalischen Dramaturgie überhaupt - regierte den Abend. Jedem ging es um das Stück, sogar dem Regisseur und dem Bühnenbildner. Günther Rennert hat "Figaros Hochzeit" in den wuchtigen Schloßinterieurs von Rudolf Heinrich ganz realistisch als Charakterkomödie inszeniert; nur am Rande schießt noch Typenkomik ins Kraut; bei Marzelline, Dr. Bartolo und dem zu einem grauen Irrwisch denaturierten Musikmeister Basilio.

Ganz Kavalier am Pult nahm Wolfgang Sawallisch Rücksicht auf die Sänger. Über den Ehrgeiz, "seinen" Mozart auf Biegen und Erbrechen durchzusetzen, ist ein Könner seines Ranges hinweg. Er begleitet, flink, wendig, unpathetisch, mit delikaten Holzbläserfarben und seidenem Streicherton. Treibt ein Sänger das Tempo etwas voran, jagt er sogleich hinterher, denn er liebt die Geschwindigkeit, selbst wenn sie, wie bei Cherubinos erster Arie, den Ausdrucksgehalt aufzehrt und bagatellisiert. Von der Eilfertigkeit wurde Brigitte Fassbaenders glühendes, nerviges Espressivo einigermaßen bedrängt. Aber trotzdem behaupteten sich das Feuer einer unverbrauchten, dramatischen Stimme und der Elan einer Darstellerin, die alle disparaten Eigenschaften des hin- und hergerissenen Pubertanten mitschwingen läßt.

Aus dem Andante der Rosenarie wurde ein Allegretto. Das unterstrich den Sechsachteltakt und rechtfertigte sich als Akt der Menschenfreundlichkeit gegenüber der Susanna, die drei Stunden lang über die Bühne tollen muß und dann kurz vor dem Finale eine Arie, die unangenehm liegt, aufgebürdet bekommt. Anneliese Rothenbergers Szene der Susanna war eitel Konzentration, Sicherheit und Dezenz. Die Spannweite von zwei Oktaven wurde lyrisch und klar durchmessen. Die Partie der Susanna, die Frau Rothenberger erstmals in München sang, war durchdacht und durchgearbeitet bis in die kleinste italienische Rezitativsilbe und bis in den flüchtigsten Augenaufschlag. Man sieht eine mondäne, gewitzte Susanna, eine Kammerzofe auf dem zweiten Bildungsweg, ja fast das Fräulein Schwester der Gräfin. Die naive Schläue blieb dem Figaro vorbehalten; Raimund Grumbach, der von einem Festspieljahr zum anderen an Gelöstheit, Farben und verschmitztem Naturburschentum gewinnt, vertrat resolut, doch glücklicherweise ohne erhobenen, sozialkritischen Zeigefinger den emporkommenden dritten Stand.

Beweglichkeit allenthalben. Das Grundgesetz von "La nozze di Figaro" war erfüllt. Susannas G-Dur-Arietta, das Duett mit der Gräfin (Leonore Kirschstein in edler Haltung, untadelig in Timbre, Ansatz und Ausdruck), die frühimpressionistische Arie der Barbarina (von Ingeborg Schneider federleicht gesungen) und der Auftritt des von Gerhard Auer nicht outrierten Gärtners huschten vorbei, ohne zu "Oper" ausgewalzt zu werden. Das Brio der Opera buffa kulminierte in Dietrich Fischer-Dieskaus Grafen. Ihm geht das Italienische von der Zunge, als sei es ihm angeboren. Er agiert mit der Prachtstimme, souverän bis ins letzte Sechzehntel. Als Komödiant großen Stils - seine Nuancen des Erstaunens, der Wut, des Herrenstolzes und der Versessenheit auf Susanna! - schafft er eine wirkliche Komödienfigur, eine Gestalt, die charakterkomisch wird durch ihren geozentrischen "Wahn", durch ihr gerüttelt Maß an Selbstsucht. Ein überlegener Humor dirigiert die vokalen und darstellerischen Mittel. Mozarts Komik ist von Humor überbaut. Fischer-Dieskau singt und agiert aus dieser letzten Einsicht in die menschliche Hinfälligkeit.

Der Beifall war ausgiebig, aber nicht hektisch. Es galt ja auch nicht, Einzelleistungen abzutaxieren und anzuhimmeln, sondern ein Ensemble zu würdigen, das sich bemühte, ein herrliches Werk so adäquat wie möglich aufzuführen.

K. Sch.


    

     Münchner Merkur, 19. Juli 1971     

   

Münchner Festspiele: Gäste in Mozarts "Figaro"

Die Rothenberger - Kammerzofe von blauem Blut

    

Günther Rennerts einfallsreiche und fein pointierte Inszenierung ist ohnehin eine Attraktion im Repertoire der Staatsoper. Einige wenige Lockerungsübungen genügten da schon, um ihr die gewünschten Festspiel-Glanzlichter aufzusetzen. Und wenn noch dazu zwei Hauptpartien prominent besetzt werden, sind alle Vorbedingungen für einen großen Abend gegeben.

Anneliese Rothenberger stellte sich zum erstenmal dem Münchner Publikum in der Rolle der Susanna vor: so anmutig und lieblich sanft, wie es ihrem künstlerischen Naturell entspricht. Eine Susanna mit vornehm abgedämpftem Mutterwitz, elegant beweglich, federnd im koketten Parlando, holdselig verträumt in ihrer bestrickend schön gesungenen Rosenarie.

Eine Susanna mit dem aparten Anhauch von Noblesse. Man wäre kaum überrascht gewesen, wenn sich am Schluß herausgestellt hätte, daß das blitzgescheite Mädchen aus dem Volke in Wirklichkeit eine unternehmungslustige Komtesse ist, die um der Liebe und der Komödie willen in das kleidsame Gewand der Kammerzofe geschlüpft ist.

Mit Dietrich Fischer-Dieskau stand ein zweiter Aristokrat auf der Bühne. Ein Graf vom Scheitel bis zur Sohle, stimmgewaltig aufbrausend in hochherrschaftlichem Zorn, souverän im Nuancieren der Verlegenheitsgesten enttäuschter Hoffnungen: rundherum ein Schwerenöter von filouhaftem Charme.

Große Spielfreude und stimmlicher Wohlklang in dem gleichmäßig gut besetzten Standard-Ensemble. Wolfgang Sawallisch dirigierte: hell leuchtend und geschliffen präzis kam die Ouvertüre, und behutsam geschmeidig stützt er die Sänger.

Eitel Freude beim Publikum, das mit ostentativem Szenenapplaus und lauten Schlußovationen dankte.

Helmut Lohmüller


    

     Abendzeitung, München, 19. Juli 1971     

    

Günther Rennerts "Figaro":

Ideal besetzt

    

Münchner Festspiele: Mozarts "Figaro" mit Dietrich Fischer-Dieskau (Graf) und Anneliese Rothenberger (Susanne). Wolfgang Sawallisch dirigierte (Nationaltheater).

Wenn im nächsten Jahr Rennerts Salzburger Festspiel-"Figaro" durch eine Karajan-Version abgelöst wird, bleibt den Enttäuschten nur ein Trost: der Münchner "Figaro" von Günther Rennert, eine modellhafte Mozart-Inszenierung, frisch wie am Tag der Premiere.

Von der Münchner Aufführung läßt sich nur schwärmen, vor allem wenn sie, wie diesmal, nahezu ideal besetzt ist. Fischer-Dieskaus Graf ist von einer schauspielerischen Delikatesse, die jeden Theatermann begeistern muß. Bis in die kleinsten Gesten hinein hat er die Rolle durchdacht. Fischer-Dieskau balanciert mit unvergleichlichem Können auf dem schmalen Grat der Selbstsicherheit eines Menschen, der sich permanent selbst ein Bein stellt. Er verwendet dazu ein sehr subjektives Rezitativ-Parlando, das stark nach Fischer-Dieskau und weniger nach Mozart klingt.

Wozu Anneliese Rothenberger tatsächlich in der Lage ist, bewies sie als Susanne. Der Vertreterin des pseudokünstlerischen TV-Kitsches hätte ich diese bezwingende Natürlichkeit kaum mehr zugetraut.

Es spricht sehr für die Qualität der Münchner "Figaro"-Mannschaft, daß die beiden berühmten Gäste nahtlos integriert werden konnten. Von Raimund Grumbachs Figaro-Strizzi, Brigitte Fassbaenders idealem Cherubin, der Gräfin Leonore Kirschsteins, die ihre Sinnlichkeit nach wie vor hartnäckig hinter mehreren Reifröcken unter Verschluß hält, bis hin zur Barbarina Ingeborg Schneiders, einer nicht unflotten Topfpflanze aus dem Treibhaus des Grafen und David Thaws grotesk fiesem Musikmeister - eine Aufführung voll von Höhepunkten, zwischen denen Wolfgang Sawallisch im Geschwindschritt vermittelte.

Helmut Lesch


    

     tz, München, 19. Juli 1971     

    

Mozart: "Die Hochzeit des Figaro"

    

Diese Rennert-Inszenierung wächst von Jahr zu Jahr. Ganz wesentlich auch, daß in Wolfgang Sawallisch ein Mozart-Dirigent von außergewöhnlichem Format zur Verfügung steht. So springt vom Dirigierpult der Funke über, der bekanntlich entscheidet, ob ein Abend Routinearbeit ist oder von der Gunst des unwiederholbaren Augenblicks lebt. Diese Gunst breitete sich über den ersten Münchner Festspiel-Figaro 1971.

Neben der vielgerühmten Besetzung mit Brigitte Fassbaender, Raimund Grumbach, Lilian Benningsen, Benno Kusche, David Thaw, Ingeborg Schneider und Lorenz Fehenberger ist zu berichten, daß Leonore Kirschstein in der Rolle der Gräfin sehr gewonnen hat. Sie ist freier im Spiel und sicherer im Ansatz der Stimme und im Legatosingen geworden.

Aber es gab auch illustre Gäste. Fischer-Dieskau sang schon im vergangenen Jahr den Grafen, fiel damals aber etwas aus der Regiekonzeption. Jetzt ist er integriert, und sein Parlando ist allein schon den Besuch der Aufführung wert.

Zu ihm gesellt sich Anneliese Rothenberger als Susanne. Zunächst wollte die Sängerin langsamere Tempi durchsetzen, doch schien sie rasch von Sawallisch überzeugt, der selbstverständlich nicht mit sich handeln läßt. Auch darstellerisch kämpfe Frau Rothenberger zunächst zwischen Televisionsposen und der natürlichen Anmut der Mozartschen Susanne, doch schon im 2. Akt war Anneliese Rothenberger wieder eine Meisterin ihres Faches.

Karl-Robert Danler


     

     "Oper und Konzert", München, 8/1971     

    

Nationaltheater

Figaros Hochzeit

    

Die beherrschende Gestalt der Aufführung war Dietrich Fischer-Dieskau als Graf. Ihm steht in Spiel und Gesang eine einzigartige Vielfalt von Farben zur Verfügung: vom herrischen Auftrumpfen und Losdonnern zum zartesten, schmeichelnden Werben, von der höchst effektvollen Zurschaustellung von Eifersucht und gekränktem Stolz zum arrogant-genüßlichen Ausspielen seiner Trümpfe. Auch in der peinlichsten Verlegenheit bleibt er stets der Herr, der Graf. Wie als Gestalt stand er auch sängerisch weit über dem übrigen Ensemble: ich wüßte keinen nichtitalienischen Sänger, bei dem Singen, Sprechen und Ausdruck so eins sind wie bei Fischer-Dieskau. [...]

Hans Huber

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