Zur Oper am 26. Juli 1971 in München


Süddeutsche Zeitung, 28. Juli 1971

Münchner Festspiele

Salome strahlt

Leonie Rysanek und Fischer-Dieskau im Nationaltheater

Obwohl Rennerts "Salome"-Inszenierung immerhin drei Jahre alt und mittlerweile oft, in oft wechselnden Besetzungen gespielt worden ist, wirkte sie an diesem Festspielabend keinen Augenblick "abgespielt" und spannungslos routiniert, sondern eher intensiver und freier als damals bei der Premiere.

Und obwohl Stars wie Leonie Rysanek und Dietrich Fischer-Dieskau auftraten, erlebte man keinen jener "Gala-Abende", an denen ein paar Weltberühmte in einer ihnen fremden Szenerie herumstehen und mit ihren hochbezahlten Spitzentönen demonstrieren, wie weit sie den Einheimischen überlegen sind. Im Gegenteil: da agierte ein geschlossenes, glänzend aufeinander eingespieltes Ensemble, in dem jeder, und sänge er die kleinste Partie, mit ganzem Einsatz und voller Stimme bei der Sache war.

Das gilt natürlich für die hinreißend "ordinäre" Herodias der Astrid Varnay, die, eine prächtig aufgedonnerte Fregatte, überlegen die Szene beherrschte. Das gilt nicht minder für den an ihrer mächtigen Seite beinahe schon bemitleidenswerten Herodes des Gerhard Stolze. Das trifft aber ebenso für Kurt Böhme zu, der dem kurzen, schönen Auftritt des ersten Nazareners Gewicht gab, oder für Heinz Imdahl, der sein Wotans-Organ für eine "Wurz’n" wie den ersten Soldaten zur Verfügung stellte. Und nicht weniger für zwei Neulinge: für Marga Schiml, die gleich am Anfang als Page mit fester, sicher geführter Stimme auf weitere Proben neugierig machte, und auf Wieslaw Ochman, dessen kraftvoller, dabei biegsamer Tenor dem unselig verliebten Narraboth endlich einmal zu der ihm zukommenden Stellung im Drama verhalf.

Angesichts eines solchen Ensembles braucht der Dirigent das Riesenorchester nicht überängstlich zu dämpfen, sondern darf voll entfalten, was die Partitur an symbolischen Steigerungen enthält. Ferdinand Leitner machte von diesem Vorrecht mehr Gebrauch, als man erwartet hatte. Von ihm hätte man sich auch eine kammermusikalisch aufgelichtete "Salome" vorstellen können, jenes "Scherzo mit tödlichem Ausgang", von dem Strauss gelegentlich sprach. Aber nein, auch er ging aufs Ganze und provozierte dadurch die Sänger, ihrerseits das Äußerste herzugeben. Selten hat man eine "Salome" erlebt, die so wie diese mit dramatischer Spannung bis zum Bersten erfüllt war.

Eine solche Spannung gewann dabei vor allem die eine große Szene zwischen Salome und Jochanaan. Was oft nur wirkt wie die Begegnung einer schmeichelnden Katze mit einem Prophetendenkmal aus Stein, wurde hier zum Angelpunkt des Dramas. Denn Fischer-Dieskau lieh dem Propheten nicht bloß seine mitunter bis an die Grenzen ihrer erstaunlichen Möglichkeiten strapazierte, dann wieder wundervoll schmelzende Stimme, sondern auch den Ernst und das Gewicht seiner Person. Solange der Prophet unsichtbar aus seinem Brunnen herauftönt, scheint, was er singt, zwar arg verzerrt, und man wünscht ihm dringend eine Zisterne mit besserer Akustik. Doch wenn er dann heraufgestiegen ist und schließlich die Prinzessin zu bekehren versucht, wenn er sie mahnt, am See von Galiläa niederzuknien - dann tut er das so eindringlich, daß man fast bangt, Salome könnte ihm folgen und das Drama käme damit zu einem unerwarteten Ende.

Doch es nimmt natürlich seinen wohlbekannten Lauf und gibt Leonie Rysanek viele Gelegenheiten, ihren alles mühelos überstrahlenden, hellen, leuchtenden Sopran aufblühen zu lassen. Ermüdungen scheint sie nicht zu kennen, ihre Höhe zeigt keine Schärfe und kein Flackern. Nach ihrem triumphalen Schlußgesang erübrigt sich die Frage, ob die Rysanek "eigentlich" eine Salome sei, ob dazu ihrem Naturell nicht mancher Zug fehlt und ihrer Stimme die Mittellage und Tiefe. Gewiß sieht sie am Anfang nicht aus, wie man sich die zierliche, eigensinnige Prinzessin bisher vorgestellt hatte, sie macht die Salome zu einer wilden Schwester Elektras, dunkel gewandet, das bleiche Gesicht von rotem Haar umwallt. Wie sie noch als Schweigende Mittelpunkt allen Geschehens bleibt, wie sie ihren Schleiertanz zugleich dezent und wild verwegen aufbaut, wie sie sich die ganze Figur auf ihre intelligente Weise zurechtgelegt hat - das alles zeigte: Hier hat sich eine große Sängerin, im Zenit ihrer Laufbahn, klug und (warum nicht?) ehrgeizig der kleinen Prinzessin Salome bemächtigt. Es gab Jubel wie selten in diesem Haus, viertelstundenlang, und Salome strahlte.

Rudolf Goldschmit


  

     Münchner Merkur, 28. Juli 1971     

   

Münchner Festspiele: Die Rysanek als Salome

So furios ist die Prinzessin Leonie

    

Auf welche Aufführung der Münchner Festspiele war das Publikum am neugierigsten? Daß Abbado, Schenk, Janowitz, Waechter, Raimondi ein glänzender "Boccanegra" gelingen würde, war vorauszusehen. Aber Leonie Rysanek, der geradezu fanatisch geliebte, lange entbehrte Star, als Salome?

Die Ankündigung dieses Rollen-Debüts peitschte die Erwartungen hoch. Wie wird sie die Figur formen? Wie tanzen? Ist sie vielleicht sogar "die" Salome? Oder doch eine Enttäuschung?

Um Frau Rysaneks Erfolg zu beschreiben, müßte man neue Superlative erfinden. Noch nie habe ich derart massive Ovationen gehört, nie so hingerissene Zuhörer erlebt. Klatschen, Jubeln, Trampeln - eine gute Viertelstunde lang.

*

Leonie Rysanek hat an der Salome-Partie ein Jahr lang gearbeitet, und zwar offenkundig so sorgfältig wie besessen. Ihre Vorgängerinnen in Rennerts Inszenierung spielten lediglich nach Regie-Anweisung, doch sie geht über die bloße Anlage der Rolle hinaus, gibt eine genau charakterisierte Gestalt.

Diese Salome - schwarzer Umhang, rotes, aufgelöstes Undinen-Haar - tritt tatsächlich "wie eine verirrte Taube" auf: leichtfüßig, flatternd, erregt. Ganz verwöhntes, apartes, müßiges, morbides Kind. Die Hände zucken, der Kopf wiegt sich wie lauschend, die großen Augen wandern umher. Kaum hat sie Jochanaans Stimme gehört, umkreist sie gazellenhaft, lauernd die Zisterne.

Dann - und da geht Frau Rysanek mit Rennert vermutlich nicht konform - legt die Prinzessin alles Kindhafte ab, dann wird aus Trotz und Begehren ein Elektra-Furioso. Wild, mit phänomenaler Intensität steigert sie sich in Leidenschaft: sie gestikuliert mit aller Heftigkeit, rauft sich das Haar, wälzt sich am Boden. Bewährte Primadonnen-Mittel, aber virtuos eingesetzt. Ob sie diese Version revidieren wird?

Ein Wunder, wenn Leonie Rysanek angesichts dieser komplizierten anstrengenden Partie kein Lampenfieber gehabt hätte. Im Spiel war es ihr nicht anzumerken, aber mit ihrer Stimme mußte sie zunächst kämpfen. Für ein zusätzliches Handycap sorgte Ferdinand Leitner: er ließ das durchweg präzise Staatsorchester zu laut spielen, schwelgte weniger in Farbreizen als in Exzeß und Hysterie. Die Musik wurde so streckenweise zur Wand zwischen Bühne und Zuschauerraum.

Nach dem Tanz - wenn nicht mehr dabei herauskommt als Fahriges, ist’s die reine Kraftverschwendung - hatte Leonie Rysanek noch falbelhafte Reserven für den Schlußgesang. Jetzt war sie ihrer Stimme ganz sicher, wurde der Text immer deutlich artikuliert. Flammend, mit äußerster Vehemenz begann sie, triumphal hielt sie durch: herrlich leuchtende, gleißende Höhe, Stimmprunk sondergleichen. Ich wüßte nicht, welche Sopranistin da mit der Rysanek konkurrieren könnte.

*

Alles in allem ein aufregender, ein großer Abend. Dietrich Fischer-Dieskaus Jochanaan war mit schneidender Schärfe gezeichnet, hatte stimmlich großartiges Propheten-Pathos. Gerhard Stolze (Herodes) und Astrid Varnay (Herodias): unvergleichlich in der Hektik der Deklamation, in der Plastik, dem Raffinement der Darstellung. Dieses "Salome"-Ensemble gehört zu Rennerts größten Trümpfen.

*

Vor dem Vorhang: Blumensträuße fliegen an die Rampe; Leonie Rysanek kommen die Tränen, sie wird von Rennert, Fischer-Dieskau, Stolze umarmt, geküßt. Die Primadonna ist selig, das Publikum außer Rand und Band.

Man wird noch lange von diesem Debüt reden.

Hans Göhl


    

     tz, München, 28. Juli 1971     

   

Höhepunkt eines winzigen Lebens

Opernfestspiele: Triumph für Rysaneks "Salome"

    

Mit dem letzten, von strahlender Leuchtkraft getragenen Ton des Schlußgesangs entwich aus Leonie Rysaneks Salome alles Leben. Übrig blieb ein seelisch und körperlich zerstörter Kadaver, dem die Soldaten in einer Routine-Aktion bloß noch den Rest gaben. Mit ihrem ersten kühnen Zugriff auf die Partie (sie hatte im Nationaltheater ihr Rollen-Debüt) gab Leonie Rysanek Günther Rennerts aufregend analysierender Inszenierung die Vollendung, bescherte den in diesem Jahr besonders glanzvollen Münchner Opernfestspielen ein überdimensionales Ereignis und deutete die Salome für unsere Zeit verbindlich.

Das Publikum raste und trampelte, im Parkett blieb man zum Applaus lange wie sonst nie sitzen, und manchem Zuschauer mag, was er erlebt hatte, in der Nacht Alpträume gebracht haben: Das perverse Panorama des im Genuß verfaulenden Herodes-Hofs wurde scharfsichtig nahegerückt - es konnte einen bis in den Schlaf verfolgen.

Attraktive Mißgeburt

Was war geschehen, daß die Jahrhundertwende-Kolportage über die Unsitten antiker High-Society plötzlich berührte, unter die Haut ging? Diese Salome ist keine exotische Blume, die giftig ist, weil Oscar Wilde zu viel Parfüm über sie vergossen hat: Die Rysanek stellt an einer attraktiven Mißgeburt (die Kombination ist in so monströser Umgebung nicht verwunderlich) kreatürlichen Jammer dar.

Wenn sie als tapsig liebreizende Kindfrau dahertrippelt - klein der Körper in Pluderhosen und persischem Rock, der Kopf mit flachgeschminktem Gesicht und einer roten Mähne etwas zu groß -, dann wird klar: Hier haben bei der Zeugung ein paar Chromosomen gewackelt. Zudem schwere Milieuschädigung, ein Fall fürs Jugendamt, wäre die Mutter nicht Königin.

Wo Salome sonst ladylike überspannt und zerstreut ist, spielt die Rysanek mit sparsamsten Mitteln eine seelisch Verkrüppelte, die wie ein Hund nach einem Herrn schnuppert. His Masters Voice kommt aus der Zisterne: Dietrich Fischer-Dieskaus Prophet Jochanaan ist kein schmuddeliger Asket, sondern das einzige Mannsbild weit und breit - auch Wieslaw Ochmans betörend gesungener syrischer Hauptmann (sekundiert vom nicht minder klangschönen Pagen Marga Schimls) wird neben ihm zum Hampelmann.

Daß dieser Jochanaan sich so ganz und gar verweigert, ist nicht missionarische Sendung, sondern seelische Grausamkeit. Der Frustrations-Orgasmus, der Salome zu seinen Füßen befällt, entlarvt er ihn nicht als unfähigen Welt-Verschlimmbesserer?

Rysanek/Dieskau können es sich leisten, einander gegen alle Libretto-Vorschriften Aug in Auge zu messen: Um so erschütternder ist Salomes hoffnungsloser Selbstbetrug im "Hättest du mich angesehn, du hättest mich geliebt" des Schlußgesangs.

Die Fronten sind gesetzt: Das Rübe-runter-Spektakel (Kirmes-Attraktion einer Zivilisationsgesellschaft, die Mord aus verschmähter Liebe zwar fast täglich in der Zeitung liest, aber doch nicht daran glaubt) wird zur unausweichlichen Konsequenz. Zum vorweggenommenen Orchester-Zitat "Ich will den Kopf des Jochanaan" ist Salomes Plan gefaßt.

Und gleich wieder eine Verwandlung: Neben den monströsen lebenden Leichen Herodes und Herodias wird Salome schön und edel, eine arme Jungfrau, von Drachen belagert (was Astrid Varnay und Gerhard Stolze durch ebenso grandiosen wie schonungslosen Einsatz und ohne jeden Porno-Kniff an Verworfenheit auf die Bühne bringen, würde die Druckerschwärze erröten lassen, wollte man es adäquat beschreiben). Salome als Opfer ihres Milieus - offensichtlicher nicht zu schildern.

Großkopferte Familie

Der schweinbäuchige Herodes, angeödet vom abgeschlafften Superballon-Kopf seiner Gemahlin (man sieht, das "Großkopferte" liegt in der Familie), will Salome tanzen sehen. Leonie Rysanek ist hier außerordentlich geschmackvoll, macht weniger als ihre Kolleginnen: Dennoch macht sie paradoxerweise noch zu viel - ein Blick, eine Geste von ihr entsprechen der aufgepeitschten Musik mehr als tänzerische Klischees.

Als sie den Kopfpreis auf einer Silberschüssel serviert bekommt, vermissen nicht einmal Zyniker, daß der Kopf des Jochanaan nicht mit Petersilie und Zitronenstücken garniert ist. Die Ersatzhandlung, wahnsinniger Höhepunkt und Abschluß eines wimmernd winzigen Lebens, ist erbarmungswürdig. An ihrem kaputten Spielzeug, in Ekel und infantiler Lust zerstört Salome auch sich selbst.

In dieser lebenswahrscheinlichen psychopathischen Interpretation, in Rennerts genialer Inszenierung (in der auch die kleinsten Rollen durch große Sänger wie Böhme und Imdahl Gewicht erhielten) und unter Ferdinand Leitners musikalischer Führung - die zwar manchmal zu laut war, aber alle Süße aus der Partitur jagte - ist Richard Strauss’ "Salome" in eine neue Ära eingetreten: In ihrer bis an die Karikatur vorgetriebenen Unerbittlichkeit wirkt sie wie das grauenhafte Dolce-Vita-Pendant zum "Wozzeck", dem Aufschrei der kleinen Leute.

Maurus Pacher


    

     Bayern-Kurier, München, 7. August 1971     

   

Opernfestspiele

Jubel um Salome

[...]

Eine noch großartigere Steigerung, ja die Erfüllung schlechthin erfuhr Rennerts Salome durch Leonie Rysanek in der Titelpartie. Ihr ist der hinreißendste Abend dieser Festspiele zu verdanken. Ihre Salome ist gefährlich, böse, Raubtier und Hexe, Auswurf einer verderbten Umgebung, eine Verlorene, Verfluchte - genauso wie sie Jochanaan erscheinen muß - und noch viel mehr. Dieskau (Jochanaan) war ein Partner, an dem sie sich entzünden konnte. Nie wurde so klar, daß diese beiden aus zwei einander unverständlich bleibenden Welten kommen und daß Salome notwendig untergehen muß.

Unvergleichliche Rysanek

Und doch ist sie nicht statisch, sondern in unaufhörlicher Verwandlung begriffen. Selbstvergessen in der Freude am Tanz, an Bewegung, an Rhythmus, dann wieder bewußt im Einsatz dieser Mittel zu ihrem Zweck, die Wirkung ihres Körpers und seiner obszönen Bewegung kühl kalkulierend, zynisch und merkwürdig orientalisch. Sie "macht" wenig, aber lebt in rauschhafter Intensität. Die Konzentration wächst zielbewußt auf das unbeirrbar verfolgte "ich will den Kopf des Jochanaan", das ganze Wesen ist einzig darauf reduziert, nur das umfaßt Gedanken, Gefühl und Körper; so bekommt das böse, frivole Spiel archetypische Wucht und Größe. Und dazu singt diese Frau ungeheuer schön; typisch Straussisch aufleuchtende, glühende, zärtliche und wilde Töne, mit denen sie die Sinne betört, die sie durch ihre Darstellung beklemmt, in der Grauen gegenwärtig wird. - Unbeschreiblicher Jubel dankte ihr.

A. B.


    

     "Oper und Konzert", München, 8/1971     

   

Nationaltheater

Salome

[...]

Dietrich Fischer-Dieskaus Jochanaan ist kein Schönsänger, er schreit seine Anklagen hinaus, und sie treffen, wühlen auf. Wieder sind Sprache und Gesang bei ihm in unerhörter Vollkommenheit eins. Der abgezehrte Körper, die Skeletthände, die fanatischen Seheraugen, die nur Gott sehen und sehen wollen, sind wahrhaft schrecklich.

[...]

Hans Huber


    

     Neue Zürcher Zeitung, 17. August 1971     

    

Münchner Opernfestspiele 1971

"Simon Boccanegra" - "Titus" - "Salome"

[…]

Von den aus dem Repertoire übernommenen, keineswegs nur "aufpolierten", sondern in sorgfältig vorbereiteter Höchstform präsentierten Festspielaufführungen ist neben "Entführung" und "Figaro", den "Meistersingern", "Wozzeck", "Ariadne auf Naxos" und Capriccio" noch eine großartige "Salome" (in Rennerts nun drei Jahre alter Inszenierung) besonders hervorzuheben. Von Ferdinand Leitner musikalisch zu gewaltiger dramatischer Spannung und leuchtender Klangpracht entfacht - wie fabelhaft suggestiv ist der raffinierte instrumentale Kolorismus dieser bald 70 Jahre alten Partitur noch immer! -, wurde die Aufführung zu einem Triumph für Leonie Rysanek, die die Titelpartie zum erstenmal sang und mit ihrem strahlenden, blühenden Sopran die ganze melodische Sinnlichkeit der faszinierendsten Frauenrolle, die Richard Strauss geschrieben hat, verströmte, aber ebenso auch durch die sehr persönliche, fast möchte man sagen: verwegene psychologische Deutung der Figur fesselte, die primär ihrem künstlerischen Naturell doch gar nicht so sehr zu liegen schien. Ihre Salome ist eher wild als launisch, eher rabiat als verzogen, eher eine (wenn auch luxuriöse) Schwester der Elektra als eine Tochter der grandios-bizarren "Hure Babylon", als die Astrid Varnay in Gestalt der Königin Herodias an der Seite eines depravierten Gatten (Gerhard Stolze, ein in der Charakteristik kühn bis an die Grenze der Karikatur vorstoßender Herodes) geradezu majestätisch-vulgär erschien. Und welch ebenbürtigeren Gegenspieler könnte diese Salome von Leonie Rysanek haben als den Jochanaan von Dietrich Fischer-Dieskau? Wenn er seine Visionen herausschleudert, ist alles "Mendelssohnsche" von der musikalischen Figurierung des Propheten abgefallen, und man meint, Sehertum könne sich gesanglich gar nicht anders verlautbaren als in dieser As-Dur-Sonorität, die doch durchlässig ist für den Ausdruck einer einzigartigen künstlerischen Persönlichkeit. Kein Wunder, daß der Jubel der Festspielbesucher auch in dieser Aufführung schier nicht enden wollte.

[...]

K. H. Ruppel


   

     Trierische Landeszeitung, 4. August 1971     

   

Leonie Rysanek - eine furiose Salome

Eine musikalische Interpretation, die zur Zeit konkurrenzlos ist

    

"Salome", ein "Scherzo mit tödlichem Ausgang", 1968 zu den Festspielen neu herausgebracht und damals arg gehandicapt durch Absagen, wurde jetzt endlich festspielreif aufgeführt: Fischer-Dieskau kam als Jochanaan, Leonie Rysanek, Strauss-Interpretin von Weltruf, wagte nach jahrelangem Zögern endlich ihr Salome-Debüt und ließ die Erwartungen ansteigen.

Die Sängerin hat, das wurde sofort deutlich, dieses Rollendebüt mit Sorgfalt und künstlerischer Besessenheit vorbereitet. Da wurde stimmlich und schauspielerisch nichts dem Zufall überlassen. Die Erscheinung, bleiches Gesicht, rotes aufgelöstes Haar über schwarzem Gewand, weckte eher Reminiszenzen an die Atridentochter Elektra als an die exotische Sumpfblume. Aber das Spiel fügte sich zunächst nahtlos in Rennerts Regiekonzept: leichtfüßig, erregt, voll flatternder Unruhe, ganz apartes, morbides Geschöpf ihrer dekadenten Umwelt, steuert diese Salome nachtwandlerisch auf die schicksalhafte Begegnung mit Jochanaan zu. Nach dieser Begegnung bricht die Rysanek mit der ihr eigenen Vehemenz aus der Konzeption aus, steigert die Figur mit leidenschaftlich lodernder Intensität ins Wilde, Mänadenhafte und entfesselt ein Elektra-Furioso, das die subtilen Konturen der Wilde-Figur sprengt. Der Tanz ist ein einziges Crescendo ekstatischer Verlorenheit und gilt mehr dem Propheten als dem begehrlichen Despoten Herodes. Aber das Spiel, am eindringlichsten in den stillen Momenten unheilbrütenden Trotzes und lauernder Verhaltenheit, verliert auch in den dramatischen Exzessen nichts an Überzeugungskraft. Stimmlich konnte die Sängerin an die große Zeit ihrer ersten Strauss-Interpretationen anknüpfen und führte ihre Leistung nach anfänglichen Schwankungen in immer neuen Steigerungen zu einem gesanglichen Triumph. Die riesigen melodischen Bögen, die verzehrende Sinnlichkeit des Klanges wurden mit einer hinreißenden Leuchtkraft und Mühelosigkeit lebendig, der bravouröse Schlußgesang krönte eine Gesangsleistung, die trotz der relativ schwachen Mittellage und Tiefe, trotz zunächst undeutlicher Artikulation bedeutendes sängerisches Format hatte. Die Opernszene hat eine neue Salome, zwar keine Idealbesetzung vom Typ her, aber zweifellos eine mögliche Variante und eine musikalische Interpretation, die zur Zeit konkurrenzlos sein dürfte.

Zweiter Brennpunkt des Interesses war Fischer-Dieskaus Jochanaan. Er singt ihn seit Beginn seiner Laufbahn und hat die Suggestion seiner Gestaltung zu einer Eindringlichkeit verdichtet, die keinen Vergleich kennt. Die Wucht seiner prophetischen Mahnung wird stimmlich bis an die Grenzen des Möglichen intensiviert, die plastische Deklamation, die beherrschende Bühnenpersönlichkeit machen seine Begegnung mit Salome zum Zentralpunkt der Aufführung. Daneben Astrid Varnay und Gerhard Stolze als Herodias und Herodes hundertfach bewährt, immer wieder neu faszinierend, eine exemplarische Besetzung. In kleinen Rollen leisten Wieslaw Ochman (Narraboth), Marga Schiml (Page), Kurt Böhme, Max Proebstl (Nazarener) Vorzügliches, in dieser von Rennert psychologisch äußerst nuanciert aufgebauten, theatralisch bis zum Bersten mit Spannung geladenen Aufführung gibt es keinen schwachen Punkt.

Wesentlichen Anteil hat auch das atmosphärisch mit der gespenstisch wechselnden Mondscheibe so packende Szenenbild Rudolf Heinrichs an der Suggestivkraft dieser Inszenierung. Ferdinand Leitner arbeitete am Pult vor allem die Steigerungen heraus, ging musikalisch aufs Ganze und ließ die schillernden Klangreize, die Raffinesse der Farben und Nuancen weitgehend ausgespart. So entstand eine etwas großflächige, kompakte, aber aufwühlende Realisierung der Partitur. Das Publikum saß wie gebannt bis zum letzten Ton und befreite sich aus seiner Beklemmung durch einen Beifallsturm, der nicht enden wollte. Ein vielleicht nicht makelloser, aber ein bedeutsamer und großer Opernabend, der das vermittelte, was auch Oper sein sollte: lebendiges Drama.

Ingeborg Koehler


    

     Rhein-Zeitung, Koblenz, 31. Juli 1971     

    

Ein Hauch antiker Tragödie

Salome-Debüt von Leonie Rysanek in München

    

Ein Mägdlein, wie der Evangelist Markus Salome, die Tochter der Herodias, nennt, betritt die Terrasse eines wind- und sandzerfressenen Palastes in Judäa; eine Orchidee, wie sie nur auf den Gipfeln der Gesellschaft blüht, eins sind Verlangen und Gewährung, unbeschränkt ist die Macht, aus der sie stammt, das Wort "nein" hat sie nie gehört. Unberührt ist sie, aber bis in den Grund ihres Wesens verdorben. Noch schlummert das Wissen darum in ihr, sie spürt nur, daß sie schön ist, und nutzt diese Ahnung.

Die ersten Prophetentöne aus der Zisterne treffen sie wie ein Blitz, die Sprache einer anderen Welt rührt sie an, ihre Phantasie entzündet sich, und das Drama des unbefriedigten Wünschens nimmt seinen Lauf, Salome wird zum Raubtier, die Laszivität bricht aus ihr, die Sinne stehen in Aufruhr, das Ungeheuerliche wird zum Ereignis.

Leonie Rysanek ist das "intakte Reptil", sie spannt bei ihrer ersten Salome den Bogen vom Kind bis zur perversen Eruption und ihrer Auflösung in die allgemeinere große Klage über Liebe und Tod. Stimme und Gestaltung machen die Verwandlung hörbar und sichtbar, auch im Schweigen ist sie stets Mittelpunkt des Dramas, nichts geschieht ohne Bezug auf Salome. Ein paar Takte Anfangsnervosität, dann steigert sich Leonie Rysanek trotz der gnadenlosen Lautstärke des Orchesters unaufhörlich, unentrinnbar der Sog zum Exzeß, der Sog zum Untergang, reich an Farben und schillerndem Raffinement der Gesang. Und am erstaunlichsten: Leonie Rysaneks animalisches Temperament potenziert hier den dekadenten Geist des Fin de siècle, um diese Fleur du Mal weht ein Hauch antiker Tragödie. Nach einer Sekunde des Schweigens ein tausendstimmiges Bravo: die Musikbühne hat nicht eine Salome mehr, sondern d i e Salome.

Die Bayerische Staatsoper wußte das Juwel eines Rysanek-Debüts zu fassen: Dietrich Fischer-Dieskau mit der hochfahrenden Geste des Sektierers, der konzessionslosen Kraft des Auserwählten, das abgründig geile Herrscherpaar Astrid Varnay und Gerhard Stolze, der belkantosüchtige Narraboth Wieslaw Ochmans, Luxus bis zum ersten Nazarener (Kurt Böhme) und ersten Soldaten (Heinz Imdahl) in der atmosphärischen, ungemein packenden Szene Günther Rennerts. Ferdinand Leitner hatte Sinn für die gleißenden Farben, die symphonischen Ballungen der Partitur, war nur zu sehr bemüht. Salome & Co. mit seiner Fortissimo-Hundertschaft zu erschlagen.

Musiktheater einsamen Ranges, ein Abend Operngeschichte!

Klaus Adam


    

     Saarbrücker Zeitung, 29. Juli 1971     

    

Die Salome der siebziger Jahre

Ovationen für Leonie Rysanek bei den Münchner Festspielen

    

Die Welt hat eine neue Salome, die großen Bühnen buchten bereits vor der Premiere Termine bei ihr: Leonie Rysanek. Die berühmte Sopranistin aus Neubeuern am Inn war für einige Monate in ihre engere Heimat zurückgekehrt, um hier in aller Ruhe die neue Partie vorzubereiten. Ihr Mentor war Günther Rennert - in großer Spannung sah man dem Festspielabend entgegen, an dem das Mischungsverhältnis von Rysanek-Temperament und Rennert-Psychologie evident werden würde.

Das Ergebnis ist ein Glücksfall. Rennert hat den Ausdruck der Unschuld, der Rechtschaffenheit, den man aus dem Gesicht der Rysanek nicht weginszenieren kann, offenbar mit berücksichtigt. Er zeigt, wie schon ganz ungewöhnliche Umstände zusammenkommen müssen, um ein Geschöpf in eine solche Perversion der Gefühle zu treiben: Von den schlimmen Verhältnissen am Hof des Herodes, aus denen sie heraus möchte, bis zur Begegnung mit Jochanaan ein Weg in die Sackgasse. In der (besitz)ergreifenden Geste, mit der sie noch einmal die Hände nach ihm ausstreckt, um in gleicher Bewegung seinen Fluch abzuwehren, spiegelt sich beispielhaft - wie in vielen anderen Details - und konsequent diese Führungslinie ins Unheil.

Richard Strauss müßte, wenn er sie noch hätte hören können, an dieser Salome seine Freude gehabt haben. Man erinnert sich keiner Vorgängerin in den letzten zwanzig Jahren, die bei solcher Durchschlagskraft so viel lyrische Weichheit und Farbe in diese schillernde Musik einbrachte. In idealer Übereinstimmung hiermit war das Musizieren Ferdinand Leitners, eines bedeutenden Strauss-Interpreten, um Licht, Farbe und Lyrik bemüht, vielleicht unter gelegentlichem Verzicht auf eine sonst mögliche Steigerungsrate.

Mit Sängerdarstellern wie Astrid Varnay (Herodias), Gerhard Stolze (Herodes), Dietrich Fischer-Dieskau (Jochanaan), mit Kurt Böhme und Heinz Imdahl war ein bedeutendes Personal am Hof des Herodes versammelt, wie man es von einer Festspielaufführung in der Strauss-Metropole erwarten durfte.

Leonie Rysanek gestaltete den Abend unter dem vollen Einsatz ihrer Kräfte. Beim Tanz der sieben Schleier, den sie selbst tanzte, kam unter dem aufspringenden Kostüm ein fleischfarbenes Trikot zum Vorschein. Es saß ihr hauteng - wie die neue Partie. Die Welt hat also auch eine neue Leonie Rysanek. Sie selbst mag diesen Abend jenem anderen an der Met vergleichen, bei dem sie vor Jahren, für die Callas als Lady Macbeth einspringend, die andere Hälfte der Welt für sich eroberte.

In München wurde sie mit Ovationen gefeiert, mit Blumen überschüttet und von ihrem Regisseur herzlich umarmt. Sie war sichtlich zu Tränen gerührt: Salome 1971.

Heinz Weber

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