Zum Konzert am 28. März 1972 in Salzburg    


     Süddeutsche Zeitung, München, 30./31. März 1972     

Karajan monumentalisiert Johann Sebastian Bach

Die Matthäus-Passion bei den Salzburger Osterfestspielen

     

Beim Anblick der zum Konzertpodium umgebauten Bühne des Großen Festspielhauses staunt man: Wird hier Bachs Matthäus-Passion aufgeführt oder Mahlers Achte, die "Symphonie der Tausend"?

Zwei Orchesterblöcke mit der vollen Streicherbesetzung der Berliner Philharmoniker (vier Kontrabässe in jedem Block) beherrschen das Bild, dahinter in voller Frontbreite und voller Kopfzahl der Singverein der Wiener "Gesellschaft der Musikfreunde", davor, aus den Lamellen des Bühnenportals heraustretend, der Tölzer Knabenchor, und ganz vorn, abgesenkt zum Orchestergraben, ein einsames Sängerpult, daneben ein Cembalo. Es ist der Platz des Evangelisten, der "Ambo" für die Lesung der Passionsgeschichte. Erst hinter ihm, zwischen den beiden Orchestern und der Reihe der Solisten, steht der Dirigent: Herbert von Karajan, wie immer ohne Pult, Bachs Partitur im Kopf und Bruckners Klangmonumentalität im Sinn. Unsichtbar hängen in den großen kahlen Raum, der als Szenarium für eine pietistische Betrachtung der Leiden des Herrn, wie sie Picanders Text der Matthäus-Passion darstellt, gar nicht so außerhalb der Vorstellung liegt, die Draperien des 19. Jahrhunderts hinein: Bach als Zeitgenosse der Epoche der Monumentalromane, der Monumentalopern, der Monumentalsymphonien.

Man muß sich damit abfinden, daß an diesem Bach-Bild Karajans nichts zu ändern, ist, wie man sich auch bei Furtwängler damit abfinden mußte. Eine Bach-Passion außerhalb symphonischer Dimensionen ist für ihn nicht denkbar, und auch das dramatische Moment, das ja mindestens seit Beethoven ein Element alles Symphonischen ist, steht bei ihm vor dem epischen, in dessen Bahnen Bachs Passionsdarstellungen verlaufen. Bachs Dramatik ist nicht symphonisch, sondern entsteht aus dem Rhetorischen; ob man dies akzeptiert oder nicht, daraus ergeben sich – unter anderem – die Auffassungsdifferenzen bei der Wiedergabe. Karajan neigt offensichtlich dazu, die Affekte der Passionsmusik nach dem Matthäus-Evangelium symphonisch-dramatisch zu artikulieren. Ich will jedoch hier nicht wieder den viel strapazierten Begriff "Romantisieren" anwenden, denn Gefühlswelten, die die unerbittliche Diktion Bachs aufweichen, liefen eigentlich nicht durch die Salzburger Aufführung; eher war eine gewisse Schwerfälligkeit bei dem Chor festzustellen, in dessen kompakte Masse die innere Lebendigkeit Bachs, sein Pulsieren nicht einzuströmen schien. Die Choräle wurden "schön" gesungen, gewiß. Aber wenn in dem Einleitungschor "Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen" der Cantus firmus des "O Lamm Gottes" im Ripieno der Knabenstimmen im polyphonen Satz nicht ganz klar durchzuhören ist, muß irgend etwas in der Klangdisposition verfehlt sein. Von klassischem Ebenmaß dagegen alles Orchestrale, und daß die Solisten der Philharmoniker in das Geheimnis der Affektmelodik der Arienbegleitung und ihres Vortrags eingedrungen sind, bewiesen die Konzertmeister Michel Schwalbé und Léon Spierer (Violine), die Flötisten Andreas Blau, Johannes Mertens, James Galway, Fritz Demmler, der Meisteroboer Lothar Koch und seine Kollegen Helmut Schlövogt, Heinrich Kärcher (Oboe d’amore) und Gerhard Stempnik, Gerhard Koch (Oboe da caccia) mit jedem Takt ihres Spiels.

Das Ereignis der Aufführung war zweifellos der Evangelist Peter Schreiers, obwohl er eigentlich gegen Karajans Intention war. Denn er beherrscht vollkommmen die Kunst, die Dramatik seines Berichts aus dem Epischen heraus zu entwickeln, er weiß, was alles im "Rhetorischen" seines Parts enthalten ist, die Erregtheit des Erzählens, die Eindringlichkeit des Betrachtens und die innere Not des Zeugen, der seine Aufgewühltheit durch das Mitabschreiten des Leidenswegs Christi in den neutralen Berichtston des Chronisten zurücknehmen muß. Sein Vortrag hatte etwas Leidenschaftliches, Einhämmerndes, oft auch im Tempo seiner Rezitative, und im ganzen eine Expressivität, die sich von Karajans symphonischem Klangrelief nicht nur aufs schärfste abhob, sondern es zuweilen, etwa bei der Schilderung der dreimaligen Verleugnung Jesu durch Petrus, fast zu durchbrechen schien. War nicht geradezu etwas Zorniges in Schreiers Tonfall, wenn er die fanatischen Ausbrüche der Hohenpriester und Ältesten anzukündigen hatte. Und wem hätte nicht der Atem gestockt bei dem "und verschied", das dieser Evangelist nach einer Pause (es sind nicht mehr als zwei Achtel), in der die Welt zu verstummen schien, dem letzten Todesschrei des Gekreuzigten folgen ließ?

Um so mehr mußte es auffallen, daß Fischer-Dieskau die Christus-Partie diesmal fast theatralisch akzentuierte; fern von jeder Angst und Qual des Passionsleidens betonte er die Gewißheit der Gottessohnschaft fast selbstbewußt – in seiner tiefsten Erniedrigung sprach da schon der Höchsterhöhte, der "Herr". Von Walter Berrys Baßarien ist zu sagen, daß in ihnen eher verdische Amonasro-Emphase zu spüren war als Bachsches Affettuoso und auch Anton Diakow legte in die Charakterisierung des Petrus, Judas und Pilatus mehr "Oper" hinein als besonderes Bach-Verständnis. Werner Krenn mußte infolge einer schon in seinem ersten Rezitativ spürbaren Indisposition die Tenorarie "Geduld, wenn mich die falschen Zungen stechen" im zweiten Teil ausfallen lassen, und da auch Gundula Janowitz sich im Ausdruck ziemlich zurückhielt (vielleicht fürchtete auch sie, durch den jähen Wetterumschwung nicht ganz im Vollbesitz ihrer stimmlichen Mittel zu sein), stand Christa Ludwig allein für den mächtigen Affekt der "Buß und Reu"-Arie und die flehentliche Bitte des "Erbarme dich, mein Gott", ein, Protagonistin eines Ensembles, das zwar von der Qualität der Stimmen her als Spitzenbesetzung intendiert war, aber stilistisch offenbar nicht auf eine gemeinsame Linie gebracht werden konnte.

Fast scheint es, als habe Karajan für diese strichlose Aufführung, die den ersten Teil der Passion am Vormittag, den zweiten am Nachmittag brachte, nicht genügend Zeit zu Proben gefunden. Man schied auch hier, wie von seinem "Tristan", mit zwiespältigen Eindrücken – nicht nur, was das Prinzipielle seiner Bachauffassung betrifft, sondern auch infolge irgendwelcher Umstände, die, verhalte es sich mit diesem Prinzipiellen wie es wolle, in ihrer Gegenwärtigkeit kein ungetrübtes Gesamtbild aufkommen ließen.

K. H. Ruppel


   

     Kurier, Wien, 30. März 1972     

Großformat-Passion

Osterfestspiele: Karajan dirigiert Bach

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Obwohl die Solopartien mit Gundula Janowitz, Christa Ludwig, Werner Krenn, Walter Berry und Anton Diakov großartig besetzt waren, kam das Ereignishafte der Aufführung durch den Evangelisten Peter Schreiers und den Jesus Dietrich Fischer-Dieskaus zustande. Die Vermenschlichung dieser Partien durch die beiden Sänger führte direkt ins Herz der großen Tragödie von Golgatha.

[...]

Rudolf Weishappel


   

     Die Welt, Ausgabe H, Hamburg, 30. März 1972     

Passion in Salzburg

Konzerte der Osterfestspiele mit Herbert von Karajan

[...]

Jeglichen Beifall unterband Karajan mit einer abwehrenden Handbewegung nach der Matthäus-Passion, die er ungekürzt in zwei Abschnitten, einmal vormittags, einmal nachmittags, aufgeführt hat und am Karfreitag noch einmal wiederholen wird. Die Passion wird von ihm gleichsam abgelöst von der Leidens- und Auferstehungsgeschichte, wird zum weltlichen Kunstereignis, zur reinen Musik - fern aller Skrupel über historische Authentizität, fern aller liturgischen Fixierung, fern aber auch aller Espressivo-Dynamik, wie etwa Karl Richter sie pflegt. Karajan läßt die Musik ruhig und gelassen ausschwingen und hinströmen, was am meisten natürlich den Chorälen zugute kommt. Sie werden, vom Wiener Singverein ganz schlackenfrei und absolut sicher in der Intonation gesungen, zu dem einen Zentralpunkt dieser Passion. Der andere ist die Christuspartie, die Dietrich Fischer-Dieskau singt: schlicht und verhalten, aber doch mit einer Andeutung innerer Beteiligung, die mehr als die Aufführung sonst deutlich macht, was hier eigentlich verhandelt wird. Nächst ihm ragt aus dem solistischen Vokalensemble, in dem es mit Werner Krenn einen krankheitsbedingten und mit Walter Berry einen stilbedingten Ausfall gibt, Peter Schreier als Evangelist hervor. Karajan hat ihn mitsamt der Continuo-Gruppe hinter seinem Rücken vor der ersten Zuschauerreihe postiert und läßt ihn an einem Pult singen. Gebändigte Erregung schwingt in Schreiers edler Tenorstimme mit, die keinerlei technische Probleme zu kennen scheint. [...]

Peter Dannenberg


    

     Salzburger Nachrichten, 30. März 1972     

Bachs "Matthäus-Passion" als Weihefestspiel

Herbert v. Karajan leitete im Großen Festspielhaus ein Riesenaufgebot von mehr als 300 Musikern

[...]

Die stärksten Momente der Aufführung gehen einerseits von der Gestaltung des Evangelientextes durch Peter Schreier aus, der trotz der getragenen Breite, zu der Karajans Konzept ihn zwingt, lebendig und anschaulich, ja bisweilen sogar erregend dramatisch deklamiert und musikalisch wie stimmlich schlechthin vollkommen ist; anderseits von den lebhaften Chorsätzen und den von Karajan liebevoll ausgeformten Chorälen. Hier gibt der Dirigent, was man in den Arien oft vermißt, Spannung und – insbesondere im Schlußchor – monumentale Klangwirkung.

Unabhängig von diesen stilistischen und im einzelnen musikalischen Einwänden steht freilich das hohe Niveau fast aller Mitwirkenden. Der klanglich in seiner Fülle und dennoch erzielten Weichheit hervorragende Wiener Singverein und die Berliner Philharmoniker mit einer langen Reihe vorzüglicher Instrumentalsolisten, die Continuo-Gruppen mit den Organisten Rudolf Scholz und Oskar Peter, von denen der zweite leider an einem im Effekt wenig schönen elektronischen Instrument mit rechts und links postierten Lautsprechern sitzen muß, geben dem Klangbild ohne jede Einschränkung die von Karajan angestrebte ästhetische Wirkung. Dazu ist eine Solistenbesetzung aufgeboten, die illustre Namen vereint: Dietrich Fischer-Dieskau singt die Worte Christi mit dem ganzen Gewicht seiner Persönlichkeit und Stilkenntnis, freilich – wohl durch die Größe des Raumes verführt – mit allzu nachdrücklichem Pathos. Gundula Janowitz gibt ihrer Stimme unter weitgehendem Verzicht auf Textverständlichkeit den nötigen instrumentalen Charakter, Christa Ludwig findet nach anfänglichen Intonationsschwierigkeiten im zweiten Teil die richtige Dosierung ihres heute wohl mehr der Oper zugehörigen Mezzos. Walter Berry singt seine Arien ungewohnt verhalten, aber mit sicherer Musikalität und Stilgefühl. Nicht ganz dem Anspruch der übrigen genügen Werner Krenn, dem Karajan, vielleicht wegen einer Indisposition, die zweite Tenorarie erließ, und Anton Diakov, der Sprach- und Intonationsschwierigkeiten nicht restlos besiegen kann.

Insgesamt ist diese "Matthäus-Passion", die am Karfreitag noch einmal wiederholt wird und zum Teil bereits für die Schallplatte aufgezeichnet ist, doch wohl weniger als ein Beispiel zeitgemäßer Bach-Interpretation denn als ein Aspekt in dem vielschichtigen Erscheinungsbild des Künstlers Herbert von Karajan zu werten, der, seiner österlichen Salzburger Festidee huldigend, aus Bachs Passionsmusik ein großes "Weihefestspiel" gewonnen hat.

Gottfried Kraus


    

     Hamburger Abendblatt, 30. März 1972     

Orchesterglanz und Passionstheater

Karajans Frühlingsfest in Salzburg wird zum Fest der Berliner Philharmoniker

[...]

Auf dem Podium ein Klangapparat, vergleichbar dem Aufgebot für Mahlers "Sinfonie der Tausend": im Hintergrund etwa 200 Choristen (Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien), dazu der Tölzer Knabenchor in je drei Staffeln seitlich rechts und links aufgestellt, in der Mitte die sechs Starsolisten mit Fischer-Dieskau auf Vorposten. [...]

Zwei Sänger von Ausnahmerang entwickelten souverän interpretatorische Initiative: Dietrich Fischer-Dieskau und Peter Schreier verstanden sich als Zentrum eines mystischen Dramas und Verkündiger des Bibelworts. Beide sangen mit beispielhafter Deklamationsschärfe und empfindungsstarker Ausdruckskraft. Sie hielten auch das absichtsvolle Sich-in-Szene-setzen durch: Zielsichere musikalische Intelligenz glich dirigentische Übertreibung aus. Schreier, ein wahrhaft entflammter Evangelist, ein impulsiver und inspirierter Kommentator - Fischer-Dieskau, ein gebieterischer Christus von bekenntnishaftem Temperament und vergeistigter Würde.

Sabine Tomzig


   

     Nürnberger Zeitung, 30. März 1972     

Salzburger Osterfestspiele: Die Matthäus-Passion von Bach aufgeführt

Allzu glatte Deutung der Passion

"Spätromantische" Interpretation durch Karajan - Tiefe Durchseelung nur bei Peter Schreier und Dietrich Fischer-Dieskau - Zwei getrennte Teile mit vier Stunden Pause

[...]

Peter Schreier (Dresden), der als Evangelist zu hören war - er hat ihn schon unter Rudolf Mauersberger gesungen und steht als ehemaliger Thomaner in einer langen Tradition -, fügte sich der allzu glatten Deutung Karajans ebenso wenig ein wie Dietrich Fischer-Dieskau (Jesus). Bei ihnen war jene tiefe Durchseelung der Partien zu vernehmen, die heute große Aufführungen dieser Passion bestimmen. Eine fast dramatisch anmutende Diskrepanz war die Folge, die eine faszinierende, wenn auch werkfremde Spannung entstehen ließ.

[...]

Horst Ziermann


   

     Südkurier, Konstanz, 30. März 1972     

Passion und Salzburger Heiterkeit

Bach, Brahms, Strawinsky und Mozart bei den Osterfestspielen

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Ein überdimensionaler Chor, schönste und bewegendste Solistenstimmen, die Berliner Philharmoniker und Herbert von Karajan machten den letzten Tag des ersten Zyklus der Salzburger Osterfestspiele mit Johann Sebastian Bachs "Matthäus-Passion" zum überwältigenden Höhepunkt. Karl Richters Bach-Zuschnitt ist sicherlich authentischer, aber die Ausstrahlung der Mitwirkenden war stark und unmittelbar.

Peter Schreier sang keinen emotionslosen Chronisten, sondern sein Evangelist erschien als leidenschaftlich beteiligter Verkünder der Passion Christi. Die ungewöhnlich schöne Klangfarbe seines hohen Tenors machte zuweilen fast betroffen. Dietrich Fischer-Dieskau gilt - wie sich auch in Salzburg zeigte - zu Recht als ideale Besetzung für die Jesus-Stimme, wenn sein unverwechselbares prononciertes dramatisches Temperament auch manchmal außerhalb von Karajans Passions-Konzeption zu stehen schien.

[...]

Hans Lehmann


   

     Rheinische Post, Düsseldorf, 30. März 1972     

Die Poesie des Evangeliums

Bachs "Matthäus-Passion" in Karajans ungekürzter Salzburger Fassung

[...]

Durch Peter Schreiers Evangelisten erhielt die Salzburger Aufführung das Gewicht des Wortes, wie es wohl durch keinen großen Namen dieser Rolle, Erb nicht ausgenommen, in die musikalischen Waagschalen der Leidensgeschichte je gebracht wurde. Der Ostberliner Schreier scheint in objektiver Berichterstattung, lyrischem Atem und dramatischer Akzentuierung der heiligen Erzählung noch von dem Geist der Thomaskirche berührt zu sein. Es klingt bei ihm, als hätte er einen Auftrag wie Johannes der Wegbereiter. Dietrich Fischer-Dieskau ist dazu mit männlichem Ernst und klangvoller Monumentalität in sprachlicher Herbheit und schöner Kraft ein Jesus, der so gar nichts von dem Pietismus des "Blute nur, du liebes Herz" hat.

[...]

Paul Hübner


   

     Berliner Morgenpost, 31. März 1972

Ruhig und mild wurde hier Bach Reverenz erwiesen

Salzburger Osterfestspiele: Karajans "Matthäus-Passion"

[...]

Peter Schreier war die tragende Säule der Aufführung. Die Ausdruckskraft seiner Deklamation und das unerschöpfliche Stimmvolumen grenzen ans Fabelhafte. Ihm ebenbürtig Dietrich Fischer-Dieskau, der den Text Jesu nicht zelebrierte, sondern hingebungsvoll sang. [...]

Horst Feige


   

     Badische Zeitung, Freiburg i. Br., 1. April 1972     

Salzburger Osterfestspiele

Passion in Wohlklang - Wohlklang als Passion

Die drei Konzerte: Triumphe für Herbert von Karajan und die Berliner Philharmoniker

[...]

Dafür profitiert die Aufführung von einem Evangelisten, der immer wieder zu einem vom Geschehen hingerissenen Erzähler wird und für den keine Lobesvokabel zu hoch gegriffen ist (Peter Schreier), und von einem Jesus, über dessen Eigenwilligkeit sich immer wieder das enorme Können erhob, mit dem eine Ausdrucksbesessenheit erst Profil bekommt (Dietrich Fischer-Dieskau).

Heinz W. Koch


   

     Mannheimer Morgen, 2. April 1972     

Musikdramatisches Passions-Geschehen

Die Konzerte der Salzburger Osterfestspiele mit Karajans Darstellung der Matthäus-Passion

[...]

Die Aufstellung der musikalischen Streitmacht: im Hintergrund die geballte Kraft des Singvereins der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde, davor das Orchester und die Gesangs-Solisten. Aus den Gassen der Seitenbühne trat bei Bedarf der Tölzer Knabenchor, und vor dem Dirigenten, also hinter seinem Rücken gleich vor dem Publikum stand an seinem Lektoren-Pult neben Orgel und Kontrabaß der Evangelist.

Peter Schreier setzte nicht nur seine heute für diese Partie konkurrenzlose Stimme ein. Er war wie der Kommentator eines Passionsspiels, der die Vorgänge verdeutlicht. Sein Gesang machte das Ungeheuerliche dieses Martertodes klar, und selbst Randerscheinungen wie Simon von Kyrene ("den zwangen sie, daß er ihm sein Kreuz trug") erlebt man mit Betroffenheit. Entsprechend der Christus von Dietrich Fischer-Dieskau. Wenn er den Verräter bedroht ("Es wäre ihm besser, daß derselbige Mensch noch nie geboren wäre"), klingt es wie Donnergrollen. Die spröde Härte mancher Choräle ("Was mein Gott will, das g’scheh’ allzeit") klang so protestantisch, beinahe hussitisch, wie man es in Salzburg und von Karajan nicht erwartet hätte.

[...]

Autor unbekannt


    

     Generalanzeiger, Bonn, 2. April 1972

Osterfestspiele Salzburg 1972:

Karajans Glück überwiegt alles andere

Ein Festival ohne alle Probleme? – Zwei Konzerte und die Matthäus-Passion

[...]

Am ehesten jedoch ging das Flair des Besonderen und im gewissen Sinne Modellhaften bei diesen Osterfestspielen 1972 noch von der Aufführung der Matthäus-Passion aus. Wenn Karajan dabei den gesamten, ihm verfügbaren Riesenapparat des 200-Mann-Chors des Wiener Singvereins (mit den Tölzer Chorknaben) und des 100-Mann-Orchesters der Berliner Philharmoniker aufbot, so hob er sicherlich nur jene unterschwelligen Geschmackstendenzen ins Bewußtsein, denen die im vergangenen Vierteljahrhundert fast zum Gesetz erhobene Reduzierung des Bachklangs auf barocke Trockenheit und strenge Transparenzkühle langsam über werden. Die Mahler-Renaissance scheint jedenfalls auch hier nicht ohne Wirkung gewesen zu sein, und die Möglichkeit eines klangmonumentalen, in großsinfonischen Dimensionen gedachten Bach wieder einsehbar gemacht zu haben. Das Modellhafte nun zeigte sich darin, wie Karajan in den so gesetzten Dimensionen praktiziert, wie er bei aller sinfonischen Klangschwere "Bachisch" musiziert, gelenkig und flüssig, und nirgendwo in naheliegende Fallen des dynamisch überbordenden Espressivo oder der Rubato-Gefühligkeit geht. Ihm scheint die Monumentalität lediglich die Konsequenz aus moderner Konzertsaalakustik und Hörerfahrung zu sein, in die das Wesen und die "Aussage" des Bachschen Passionswerks mit möglichst angemessener Wirkkraft einzupassen sei. Das gelang ihm hier sicherlich noch nicht bis ins letzte Detail überzeugend, blieb manches inkonsequent und widersprüchlich, die Dramatik mancher Passagen zu unterkühlt, wirkten ganze Strecken sogar schwerfällig (viele Chöre!) und schien auch die ja nun wichtige Klangdramaturgie (zur Organisation der "stereophonen" Effekte der Doppelchörigkeit) nicht folgerichtig durchdacht. Bei dem hochprominenten Solistenaufgebot gab es dagegen weniges, das den Intentionen Karajans diametral entgegengelaufen wäre; das Ereignis war hier der Evangelist Peter Schreiers, der gegen die ausschwingende, relative Breite der choristischen und solistischen Betrachtungen knapp und dramatisch erregend den Bibelbericht vortrug und keine stimmlichen Schwierigkeiten zu kennen schien. Schlicht und verhalten sang Dietrich Fischer-Dieskau die Christus-Worte, die Arien waren bei Gundula Janowitz, Christa Ludwig, Werner Krenn und Walter Berry nicht überall gleich gut, aber doch insgesamt gut aufgehoben.

[...]

Hans G. Schürmann


   

     Augsburger Allgemeine, 3. April 1972     

Monumentaler Bach

[...]

Im Kreise erstklassiger Solisten, wie der Sopranistin Gundula Janowitz, der Altistin Christa Ludwig und des Bassisten Walter Berry, dominierten der herrliche Evangelist Peter Schreier, der in dieser eminent schwierigen Partie die Nachfolge Karl Erbs und Julius Patzaks angetreten hat, und der von Dietrich Fischer-Dieskau mit bewegender Größe und verzehrendem inneren Ausdruck gesungene Christus.

[...]

Dr. Karl Ganzer, Salzburg


    

     Badische neueste Nachrichten, Karlsruhe, 4. April 1972     

Aspekte von Bachs Matthäus-Passion

Notizen zu ihrer Aufführung anläßlich der Osterfestspiele in Salzburg

[...]

Bei einigen Vokalsolisten schien sich, vielleicht bedingt durch einen plötzlichen Wettersturz, eine gewisse Indisposition bemerkbar zu machen. Weder war Gundula Janowitz auf der gewohnten Höhe, noch Walter Berry, und auch Christa Ludwig fand erst im zweiten Teil zu ihrer üblichen Form. Der Tenor Werner Krenn stand von vornherein im Schlagschatten eines Evangelisten-Tenors, der sich heute mit den ganz großen Vorbildern dieses "Fachs" in eine Reihe stellt: Peter Schreier. Die Dramatik seines Berichts, die innere Erregtheit seines Erzählens, die nachdenkliche Verhaltenheit seiner Betrachtungen, die stimmliche Schönheit, mit der er dies alles bewirkte, sind beinahe ohne Vergleich. Und der Jesus Dietrich Fischer-Dieskaus stellte sich ihm als eine Gestalt gegenüber, die zu erschütternder Größe aufwuchs und vollends vergessen ließ, daß man einem sehr weltlichen Festspiel, nicht einer kirchlichen Feier beiwohnte.

[...]

Eb.


    

     Neue Zürcher Zeitung, 7. April 1972     

Osterfestspiele in Salzburg

Konzerte der Berliner Philharmoniker mit Karajan

[...]

Für die Jesusworte steht Dietrich Fischer-Dieskau auf. Er setzt sie, singt sie, ohne die geringste seiner Manieren. Man lauscht, vergißt Zeit und Umstände, ist nur dankbar, daß eine solche Stimme und ein solcher Künstler dafür zur Verfügung stehen.

[...]

Autor unbekannt (vermutlich K. H. Ruppel)


   

     Stuttgarter Nachrichten, 1. April 1972     

Der beste Evangelist seit Erb

Karajan führte die Matthäus-Passion von Bach auf

    

Alljährlich bietet Karajan bei seinen Salzburger Osterfestspielen auch ein klassisches Chorwerk. Dieses Jahr war es Bachs Matthäus-Passion. Bach-Offenbarungen hatte wohl niemand von Karajan erwartet, die wahrhaft luxuriöse Besetzung - wann und wo erlebt man die Berliner Philharmoniker als "Begleitorchester", Peter Schreier neben Fischer-Dieskau und Christa Ludwig? - verhieß andererseits klanglich Außerordentliches.

Natürlich ist der Aufführungsapparat ein großes Orchester mit acht Bässen, ein über 200 Stimmen starker Doppelchor (der von Helmuth Frischauer vorzüglich einstudierte, plastisch und klar gestaltende des Singvereins der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde, zu dem noch etwa siebzig Tölzer Sängerknaben traten) - weit entfernt von Bachs eigenen Verhältnissen: Der Thomaskantor hatte sich ja bei der ersten Wiedergabe der Matthäus-Passion im Jahr 1729 mit je dreizehn Stimmen für seine Doppelchöre begnügen müssen! Solche Dürftigkeit erscheint heute, zumal in einer Festival-Riesenhalle, unwiederholbar. Mehr als auf die Proportionen der Mittel kommt es auf den Geist des Bach-Musizierens an. Und hier zeigte sich Karajan, für viele überraschend, als ein bescheidener, uneitler Diener Bachs.

Die Sparsamkeit seiner Gesten (er dirigierte den Dreistundenkoloß in zwei Aufführungsteilen, vormittags und nachmittags, mit untrüglichem Gedächtnis auswendig!) harmonierte mit der Sachlichkeit einer Bach-Aufführung, die sich durch makelloses Handwerk der Schwelle des Mysteriums zu nähern sucht: Das ist ehrlich und unprätentiös. Daß die Dramatik des Passionsgeschehens kraftvoll herausgearbeitet wurde, bedeutet noch nicht Theatralik, sowenig wie die verschiedenartige dynamische Stufung der Choräle; nur bei einem einzigen "Wenn ich einmal soll scheiden", wich Karajan von der Partitur ab, indem er a cappella, in Pianissimo-Entrückung, singen ließ. Um die Einheitlichkeit der Appeggiaturen hätte sich der Dirigent sorgfältiger kümmern können.

Nicht ganz gleichwertig wirkte das solistische Ensemble. Dietrich Fischer-Dieskau, weniger "verklärt" denn menschlich bewegend als Sänger der Jesus-Worte, Christa Ludwig und Gundula Janowitz überragten deutlich die übrigen (Walter Berry, Werner Krenn, Anton Diakow). Peter Schreier als Evangelist schließlich: das ist ein Erlebnis, das wohl zuletzt in solcher Intensität Karl Erb vermittelte. Aber Erb verfügte niemals über so vollendete Stimmtechnik. Man müßte spaltenlang über die Kongruenz von Ausdruck und Schöngesang, von tiefen Einblicken und großer Perspektive schreiben können. Schreiers unerhört beteiligter, mitleidender Evangelist verführte zu der Meinung, daß man ihn eigentlich "nur so" vollkommen gestalten könne; Karajans Gesamtleitung legte immerhin nahe, daß viele Wege zu Bach führen.

Kurt Honolka

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