Zum Liederabend am 26. Mai 1972 in Hamburg


    

     Hamburger Abendblatt, 27. Mai 1972     

Seltener Schubert neu erobert

     

Daß in einer Folge von 18 Schubert-Liedern mehr als die Hälfte dem Publikum völlig unbekannt war, ein solches Programm kann nur ein Sänger wie Dietrich Fischer-Dieskau anbieten. Seine Kennerschaft, seine intellektuelle Eroberungslust sind zudem durch sein 1971 erschienenes Schubert-Buch legitimiert.

Vorurteile gegenüber dem im Schatten der Klassiker verkannten Komponisten ausräumend, ließ Fischer-Dieskau den volksliednahen, den romantischen "Belcanto-Lyriker" fast ganz aus dem Spiel. Doch wendete er sich hin und wieder auch reinen Liedmelodien zu wie in "Litanei", "Nacht und Träume" oder der "Fischerweise" – Entspannungsmomente in dem anstrengenden Programm

Wie ungeheuer variabel die Kunst dieses unvergleichlichen Interpreten ist, das zeigte sich in der Textformulierung, in der Art, für jedes Lied den richtigen Stil zu finden. So verwandelte sich auch die in den verschiedenen Registerlagen verblüffend differenziert eingesetzte Stimme unaufhörlich vom luftigsten Pianissimo bis zum lodernd-dramatischen Forte. Durch die pointierte Phrasierung, die impulsive Kraft der Aufschwünge ("Prometheus", "Gruppe aus dem Tartarus"), die plastische Übersetzung der Gedanken und Stimmungen ("Totengräbers Heimweh", "Freiwilliges Versinken") war der Zuhörer stets auch geistig angespannt und ließ sich nicht einfach fortreißen vom schwelgerischen Fluß der Musik. Und sogar dort, wo rezitativische Deklamationsmanier den Melodiebogen bisweilen zerreißt, wirkt der Ausdruckswille so zwingend, daß man die Übertreibung nicht mehr registriert. Mit Wolfgang Sawallisch am Flügel als sensibel und dynamisch äußerst prägnant gestaltender Begleiter wurde der Liederabend in der bis zum Podium ausverkauften Musikhalle ein triumphaler Erfolg. Sechs Zugaben.

S.T.

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     Die Welt, Hamburg,  29. Mai 1972     

Nachhilfeunterricht in Sachen Schubert

Fischer-Dieskaus Liederabend in der Musikhalle

     

So wenig Rücksicht auf die geheimen (oder auch uneingestandenen) Wünsche seiner Bewunderer hat Dietrich Fischer-Dieskau wohl selten genommen wie jetzt bei seinem Hamburger Schubert-Konzert. Doch wie gut war das, wie erfrischend, wie kühn auch, daß der Sänger sich und seinem Publikum das Allzubekannte, die Schubertschen "Ohrwürmer", versagte und statt dessen mit Vernachlässigtem, ja Unerschlossenem aus dem riesigen Lied-Kosmos Schuberts konfrontierte, das er selbst im Laufe seines sich jetzt den Fünfzigern nähernden Lebens mit exemplarischer Geduld ausgegraben und in seiner monumentalen Schubert-Einspielung bei der Deutschen Grammophon erstmals in unser Bewußtsein zurückgeholt hat.

So kam denn in der bis aufs Podium dicht besetzten Großen Musikhalle weihevolle Euphorie gottlob gar nicht erst auf, die so leicht aus nur genüßlichem Nachschmecken des wieder und wieder Gehörten erwächst. Dieser Hamburger Liederabend war – geben wir’s ruhig zu – von Anfang an eine strenge, anstrengende Lektion: Zweistündiger Nachhilfeunterricht in Sachen unbekannter Schubert. Zu schlürfen gab’s dabei wenig, zu beißen dagegen viel. Und erst, nachdem das offizielle Programm ganz zu Ende gebracht war, kam die Erholung in Gestalt von "Silvia" und dem geradezu übermütig herausgesungenen "Musensohn"...

Imponierte nun mehr das Furiose, die hochdramatischen, die ins kolossalische drängenden Gesänge wie "Prometheus", Schillers "Gruppe aus dem Tartarus", die Dieskau mit hochexpressionistischem Gestus scharfkontrastig herausmeißelte? Oder aber die innigeren, verhaltenen, "helleren" Lieder, die ganz aus romantischem Geist geborenen Stücke wie die Schlegel-Vertonungen "Die Vögel" und "Der Wanderer", die reinen Melancholien von "Nacht und Träume" nach Versen von Collin? Nun, den vollkommeneren Genuß, ohne Zweifel, brachten die intimeren Stücke, die "kammermusikalischen" Liedkompositionen. Schwerelos nämlich, fern allem stimmlichen Überdruck (der etwa beim "Prometheus" gewisse Grenzen sichtbar gemacht hatte, Stimmgefährdungen), mit uneitler und unaufdringlicher Empfindsamkeit zog Fischer-Dieskau in das Innere dieser Lieder hinein. Kein überflüssiges Zerdehnen der Höhepunkte, keine mutwillige Zäsur störten den Vorstoß zur musikalischen Essenz.

Man wird lange in Erinnerung behalten, mit welch unnachahmlichem Legato der Sänger die nach dem Anakreontiker J.G. Jacobi komponierte "Litanei" zu einer einzigen, weit gespannten Linie band, ohne daß auch nur ein einziges Wort zu Bedeutungslosigkeit verdammt gewesen wäre. Und – um noch eine der Köstlichkeiten dieses Abends herauszugreifen: Wie wohltuend war das leichte, komödiantische Augenzwinkern bei den Schlegelschen "Vögeln", die Selbstverständlichkeit und der Ernst, mit dem Fischer-Dieskau "Totengräbers Heimweh", ein Stück schwarzer, sentimentalischer Romantik, mit vielen Text-Trivialitäten, der Lächerlichkeit entzog. Er, Fischer-Dieskau, nimmt eben alles ernst, was auch Schubert selbst ernst genommen hat. Welch Glück, daß ihn ein pädagogischer Eros treibt, seiner Mitwelt dies zu demonstrieren. Wolfgang Sawallisch, der mit dem Sänger jüngst eine Reihe großartiger Mendelssohn-Lieder eingespielt hat, war ihm ein eindrucksvoll kommunizierender Partner.

Apropos Mendelssohn: Nach diesem Plädoyer für den unbekannteren Schubert wünschte man sich ein Konzert, in dem auch die Lieder dieses so lange Verfemten zu hören sind. Am besten gleich in der nächsten Saison!

Kläre Warnecke

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