Zum Liederabend am 4. August 1972 in Salzburg


     Frankfurter Allgemeine Zeitung,   29. August 1972     

Vollendung durch Partnerschaft

Kammerkonzerte in Salzburg

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In Salzburgs großem Festspielhaus intim zu musizieren ist ein Wagnis. Lieder sind intime Formen; sie erweitern den Geist der Kammermusik ins Vokale. Wenn zwei überragende Künstler wie Dietrich Fischer-Dieskau und Svjatoslaw Richter sich zu einem Hugo-Wolf-Programm zusammentun, kann man Außerordentliches erwarten. Was sich in Salzburg ereignete, ging über jede Erwartung hinaus. Es war der Glücksfall einer künstlerischen Symbiose, bei der sich Noten und Verse in Klang, in Leben verwandelten. Schon die Auswahl der zwanzig Mörike-Lieder, vom Genesenen an die Hoffnung über Fußreise, Feuerreiter und Jägerlied zur Storchenbotschaft, nach der Pause vom Frühlingshügel über die zwei Peregrina-Gesänge, das Lebewohl und den Jäger zu den komischen Schlussnummern mit dem Rezensentenabschied, war für Wolf-Kenner ein Genuß. Jeder dieser kleinen und großen Szenen ihre unverwechselbare Gestalt zu geben und dabei die Einheit des romantisch-lyrischen Geistes ebenso konstant zu erhalten wie die deklamatorische Melodik der Musik war Fischer-Dieskaus Kunst seit seinen Anfängen. Er hat sie an Stücken wie dem "Feuerreiter" durch die eigene Bühnenerfahrung bis zu suggestiver Meisterschaft entwickelt. Er umspannt singend eine Welt des Ausdrucks vom Todesschmerz bis zur Persiflage und zum rächenden Fußtritt.

Und nun geschieht das Unwahrscheinliche: daß Richters Partnerschaft am Flügel diese Impulse aufnimmt, spielend reflektiert, mit der eigenen Pianistenleistung verbindet, in den solistischen Vor-, Zwischen- und Nachspielen zu eigenem, hinreißendem Leben verdichtet. Es ist ein Zusammenwirken zweier Temperamente und Geister, wie man es selten erlebt hat.

H. H. Stuckenschmidt

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     Kurier, Wien, 7. August 1972     

Liederabend "Fi-Di"

     Der Bariton und sein Begleiter

    

Dietrich Fischer-Dieskau hat im Großen Festspielhaus in Salzburg am Freitag einen Liederabend gegeben, den ersten, der – wenn die Erinnerung nicht trügt – in solchem Rahmen stattfand. Zusammen mit dem Deutsch-Russen Svjatoslav Richter brachte der Berliner Kammersänger ein Stilprogramm: Hugo-Wolf-Lieder nach Gedichten von Eduard Mörike.

"Fi-Di", wie ihn seine Freunde nennen, war seit jeher ein hochintelligenter, außerordentlich musikalischer Liedinterpret von nicht alltäglichem Konzentrationsvermögen und souveräner Nuancierungskunst. Der Ernst seiner Gestaltungskraft stand stets außer Zweifel, die Klarheit der Deklamation nicht minder.

Beides ist auch heute noch bewundernswert, wenngleich die Stimme an Farbe, Durchschlagskraft, Modulationsfähigkeit einiges verloren hat. Worauf der Sänger durch unpassende Sprechpassagen oder überpointierte Akzentuierung leider selber aufmerksam macht.

Dennoch war es Glückes genug, wieder einmal die "Fußreise" mit dem "frischgeschnittnen Wanderstab" zu hören, die bezaubernde "Storchenbotschaft", die vielen kurzen lyrischen Impressionen ("In der Frühe", "Neue Liebe", "Um Mitternacht", "An den Schlaf" usw.); da war der Sänger in seinem Element. Weniger, offen gesagt gar nicht, lag ihm der "Feuerreiter"; er wurde glattweg verbellt.

Effektvoll gewählt das Finale mit dem Hinausschmiß des Rezensenten ("Abschied"); das Publikum jubelte. So manche schienen den ersten Liederabend erlebt zu haben. Dieskau und Richter wurden laut gefeiert.

Herbert Schneiber

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     Die Presse, Wien, 7. August 1972     

Ein attraktives Duo

Fischer-Dieskau und Svjatoslav Richter im Großen Haus

  

Eine im Prinzip gelungene Premiere im Großen Festspielhaus. Vor dem eisernen Vorhang, einem überaus ansehnlichen Prunkstück Salzburgs, interpretierten Dietrich Fischer-Dieskau und Svjatoslav Richter Lieder von Hugo Wolf. Der vorwiegend kommerzielle Sinn dieser Premiere, ein attraktives Duo nicht in einem zu kleinen Saal vor einem Bruchteil des interessierten und zahlenden Publikums auftreten zu lassen, wurde erstens durch das Signum "Ausverkauft" und zweitens durch die Tatsache gerechtfertigt, dass es bei diesem Abend keinerlei akustische Probleme gab, was den Saal anlangt.

Im Gegensatz zu einigen Erwartungen ist es durchaus möglich, ein sehr intimes und eher auf Kammermusikformat zugeschnittenes Programm in diesem Riesensaal durchzuführen, ohne dem Publikum den Eindruck zu vermitteln, es verlöre etwas an Intensität oder Nuance. Wo immer man sitzt, Sänger und Pianist kommen auch im Pianissimo durchaus hin, und wenn der Klaviersessel oder eines der Pedale knarrt, dann hört man leider auch das noch überdeutlich.

Trotz des Jubels aber wären Einschränkungen angebracht, die nicht den Saal, wohl aber Fischer-Dieskau betreffen. Der souverän und in aller Welt gleichermaßen als Liedinterpret unangefochtene Meister hat sein Programm und seine Darstellung nicht so vorbereitet, wie man das von ihm erhofft.

Im Programm, nur Mörike-Lieder, waren vier Gruppen mit jeweils herrlichen, ruhigen, ernsten Gesängen und neckischen, überpointierten, allzu theatralischen Liedern, die bei aller Kunstfertigkeit vor allem durch ihre Witzigkeit gefallen. In der Gestaltung, nur bei Fischer-Dieskau, einige unvergessliche Momente ernsten, erschütternden Gesanges und zwischendurch immer wieder zu forcierte, zu spaßhafte Interpretation, die man sonst nur von geschmacksschwachen Damen gewohnt ist.

Gewiss, Fischer-Dieskau musste ein übergroßes Auditorium in seinen Bann schlagen. Wenn es ihm jedoch mit "Um Mitternacht" und "Im Frühling" gelang, so wären doch "Der Jäger" oder "Abschied" nicht notwendig gewesen. Bei letzterem gab es die zu oft hingesetzte Pointe vom mit einem Fußtritt hinausbeförderten Rezensenten, das freute das Publikum, heidideldumdei, so sehr, dass es sich selbst als nicht sehr sicher erwies und das Nachspiel auf dem Klavier erst einmal in Beifall erstickte – Svjatoslav Richter, der schon lange nicht so delikat und munter zugleich gespielt hatte, brauchte pantomimische Unterstützung von seiten seines Partners, um auch zu Gehör zu kommen.

Immerhin, im Prinzip war alles in Ordnung. Fortan kann man vorhersehbare Erfolgsabende im großen Saal ansetzen und maximal ertragreich gestalten. Und, so alles gut geht, sogar ohne künstlerische Verluste, das war zu beweisen.

f. e.

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     Salzburger Nachrichten, 7. August 1972     

Laß, o Welt, o laß mich sein!

Mörike-Lieder von Hugo Wolf im Großen Festspielhaus mit Fischer-Dieskau/Richter

    

Das Außerordentliche der Begegnung, hier war es wie eine Schrift auf den Gesichtern zu lesen. Ein Publikum so alt wie jung, und neben dem gewöhnlichen Dabeisein das romantische Ganz-zugegen-Sein, die Anwesenheit von Gemüt, der Strom der Musikalität, das Mitsingen so vieler Gedanken der Erinnerung, der Wiederkehr, des neuen, ersten Verstehens.

Diese Beobachtung ist zunächst unbestreitbar. Hier ereignet sich ein Versuch zur Teilhabe, der nicht aufrichtiger – wohl auch nicht angestrengter sein könnte. Ist es den Zuhörern bewußt geworden, daß sie zum erstenmal nicht achthundert (wie im Mozarteum), sondern weit über zweitausend zählen? So groß ist in Salzburg das größte Haus; in Chikago faßt das Auditorium viereinhalbtausend, die Carnegie Hall läßt dreitausend ein, nicht viel weniger die Berliner Philharmonie, und überall hört man den Sänger, und überall weiß man, daß ihn noch mehr hören wollten. So breit ist der Horizont des Intimen, heute? So sehr hat, mit den Raumdimensionen, die innere Proportionalität des Kunstlieds sich ausgeweitet, so groß, so riesenhaft – zur Speisung der Zwei- oder Viertausend – ist die Amplitude des Liedgesangs angewachsen? So mitteilsam, aufs Geheime, aufs Gedicht hin zielend sind die akustischen Verhältnisse dieser Säle? So hörsam schmiegen sie die Flanken links und rechts vom Platz des Sängers, die so lang sind wie die Säle lang waren, an die Wendungen der Deklamation, an die Grade des Sagbaren, die Hauche eines Tonfalls im Wort?

Dietrich Fischer-Dieskau hat hier im Festspielalmanach einmal, 1958, das Besondere der "Liederabende in Salzburg" charakterisiert, indem er die "Begebnisse" dieser Kunstübung von einer ähnlichen Bedingung herleitete, wie sie die Seele von der "tiefen Ruhe der Bergseen" gewinnt: "Hier ist das Ufer absehbar. Hier sagt man das Seine im kleinen Kreise." Und über die Liedersänger, die "so auf ihre Weise am Fest teilhaben", liest man von dem damals dreiunddreißigjährigen Künstler: "Einzelgängerisch ist, was für sie geschrieben wurde, allein sind sie auch mit dem, was sie singen".

Ist es nicht gerecht, um der Sache, um dieser "stilleren Kunstübung" willen, hier in Salzburg, von wo aus sie – eigentlich durch Fischer-Dieskau – den neuen Weg und zuletzt die breite Bahn in die Massenauditorien eingeschlagen hat, zu fragen, anders zu fragen als irgendwo? Jeder kennt die trauliche Szene von Moritz von Schwind "Ein Schubert-Abend bei Ritter von Spaun". Das ist fern-ferne Idylle. Auch das Ereignis sechs Dezennien später, 1888, im "Mörike-Jahr" des jungen Liedschöpfers Hugo Wolf, als die Altistin Rosa Papier (die Mutter unseres Bernhard Paumgartner) in Wien zwei seiner Mörike-Vertonungen zum erstenmal öffentlich sang, kann nur historisch voll gewertet werden; "musiksoziologisch", nach jetzigen Begriffen, fand das Ereignis kaum statt, denn der noch heute bestehende Bösendorfer-Saal faßt gut 100 Personen. Niemand wird so fern zurückträumen, daß ein großer Sänger, der der Welt gehört, ihr am Ort eines Festspiels unserer Zeit wirklich noch so weit "abhanden kommen" könnte, wie Rückert es gemeint und Mahler, am Beginn des Jahrhunderts, in einem seiner schönsten Lieder uns nahegebracht hat. Ich will nicht an Unmögliches mahnen, aber ich denke an die Festspielsommer um 1958/60, als man diesen begehrtesten Liedersänger im Mozarteum je an zwei Abenden, einmal allein und einmal im Duo mit Irmgard Seefried, hören durfte. Gewiß ist auch jener kleinere Saal nicht ideal und auf allen Plätzen gleichwertig für die Gattung Lied, doch die extreme Dimension, in die Sänger und Begleiter mit ihrem "Alleinsein" nun hier gestellt sind, nimmt den Vortragsformen und den wie am Kristall sich wandelnden Facetten des Ausdrucks – gerade bei Hugo Wolf – etwas Wesentliches fort: es trifft oft die Substanz der musikalischen Linie, einer Jambenbewegung, eines melodischen Flusses ("Fußreise", "Im Frühling", 1. Strophe) oder zugleich auch die Dichte des deklamatorischen Duktus ("Begegnung"); ja das unerreicht Kostbare an Fischer-Dieskaus melodischer Rezitation, und gerade dieses, bleibt nicht verschont, da man (im großen Mittelbereich des Parketts beispielsweise) sein sensibelstes Spiel mit der Wortnähe, mit der Schmiegsamkeit der Wolfschen Diktion, das ihm keiner gleichtut, nur noch aus Kenntnis und Nachlauschen von früheren, unvergessenen Eindrücken her sich wieder gegenwärtig machen kann.

Der Raum verschlingt es. Beklemmendstes Beispiel dieser Erfahrung: "Der Feuerreiter", ein balladesker Dreikampf – Mühle (Großes Festspielhaus), Gesang und Klavier. Erst mit der letzten Strophe, der Asche des Ganzen, was da unter dem irrlichternden Plafond verlorenging, sammelte man die Erinnerung an das Kunstwerk auf. 2200 Hörer waren dabei, aber was hatten sie, was hielten sie -.

Dennoch, hier müßte endlich gesagt werden, was das künstlerische Begebnis des Abends mit den beiden herrlichen Interpreten war. Am "Feuerreiter", dem in diesem Hause kein Maß gerecht werden konnte, wäre das Unüberbietbare zu hören gewesen. Er war ganz als Klavierszene angelegt, wie der Komponist selbst solche Stücke, mit wenig Rücksicht auf den Gesangspart, vorgetragen haben soll. Und Svjatoslav Richter entfaltete seine höchste Individualität im rhythmischen Furor, in der mimosenhaften, graphisch-malerischen Schattierung des Anschlags, in der denaturierenden Gespenstigkeit des Klangbilds, wenn es absinkt zur Zäsur der Legende: "Nach der Zeit..."

Es gab auch im übrigen Momente genug, wenn man sich mit den akustisch günstigsten begnügte, in denen das Einmalige dieses Duos Fischer-Dieskau / Richter offenkundig war. Am sichersten war es zugegen in den leisen, getragenen Liedern: Ihre Resonanz widerstand den Tücken erstaunlich besser, als es die Forte-Ballungen von Klavierton und Stimme vermochten. Die Phrasierungen, der gestufte Ausdruck, die kontrapunktische Transparenz kamen in der Eingangsgruppe bei dem zarten lyrischen Monolog "In der Frühe", bei den verwandten, harmonisch feingliedrigen Stücken "An den Schlaf", "Um Mitternacht", mit dem tiefgründig verschwisterten Legatissimo von Bariton und Klavierstimme, am schönsten zur Geltung, mehr als die schweren, symphonisch-orchestralen Stilelemente in "Neue Liebe" und später "An die Geliebte".

Die Meisterschaft des großen Pianisten, der als Liedbegleiter seine wunderbar einfühlsame, zugleich kraftvoll bis ins letzte profilierte Partnerschaft bewies, trat nirgends aus dem Rahmen, sie verlangte nicht mehr und nicht weniger, als auf die originale Dualität zu hören, die Wolf der Diktion zweier Stimmcharaktere zugedacht hat. In der chromatischen Farbgebung etwa der Peregrina-Lieder, in motivischen Überleitungen und in den vielen Nachspielen hat der kongeniale Gefährte des Sängers etwas vom letzten Wort, wie es nur sein "Text" sagen kann. Die Deutlichkeit, der musikalische Tonfall, die vollkommene Idee vom Poetischen sind die eigenen Faktoren in der Gleichung. Man erlebte eine künstlerische Lösung, die zeichenhaft im Raum stand. Man feierte sie und konnte doch nicht vergessen, daß uns die wahren Relationen künftig nur immer ferner rücken können. Salzburg war ein Vorbild. Fischer-Dieskau hat es beschrieben. Im Jahre 1958.

Max Kaindl-Hönig

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     Münchner Merkur, 7. August 1972     

Fischer-Dieskau singt Kommentare zu Wolf-Liedern

Salzburger Festspiele: Svjatoslav Richter begleitet den Bariton

    

Der erste Salzburger Liederabend von Dietrich Fischer-Dieskau und Svjatoslav Richter vor zwei Jahren im Mozarteum mit Brahms’ "Schöne Magelone" war ein künstlerisches Ereignis (wir haben an dieser Stelle bewundernd darüber berichtet). Das muß vorausgeschickt werden, denn der Hugo-Wolf-Abend dieses zugkräftigsten aller Festspiel-Gespanne entließ einen voller Skrupel.

Die Salzburger Festspiele fressen längst selbst ihre Verteidiger; zu viele wollen Mozart hören, und ein riesiges Haus wird gebaut, in dem ihn dann niemand mehr richtig hören kann. Zu viele wollen die große (aber intime) Liedkunst Fischer-Dieskaus und Richters erleben und bekommen kaum eine Ahnung davon, weil sie ihnen auf der gigantischen Festspielbühne präsentiert wird. Verloren steht da ein (Bösendorfer-) Flügel herum, und das Lied hat von vornherein keine Chance.

Es gäbe die Möglichkeit, sich um die Dimensionen des Hauses nicht zu kümmern, so zu tun, als sänge man noch im Mozarteum-Saal für 900 Leute. Aber dazu ist Fischer-Dieskau zu wenig zynisch. Auch der 2300. Hörer auf dem Rang soll noch was von ihm haben, und so gibt er mehr Ton, mehr Mimik, mehr Geste, mehr Deutlichkeit, Überdeutlichkeit – und schließlich immer weniger Gesang.

Das war der manieristischste Liederabend, den wir je von ihm hörten, erschreckend für jene, die ihn immer noch für den besten Sänger unserer Tage halten, Wasser auf die Mühle von Leuten, die schon lange an ihm herummäkeln, von Mythosbildung reden und für singende Naturburschen plädieren.

Richter und Fischer-Dieskau hatten sich Wolfs Mörike-Lieder vorgenommen. Man weiß, welche akribische, jeder Nuance der Gedichte nachspürende musikalische Deutung Wolf den Texten gegeben hat. Ein kluger, empfindsamer Sänger könnte sich getrost vom Komponisten führen lassen.

Aber das genügt Fischer-Dieskau nicht. Er deutet, wie Wolf Mörike deutet, stößt einzelne Worte, ja Silben demonstrativ heraus, dehnt und färbt Vokale, zerbricht musikalische Phrasen – ein Josef Kainz des Gesanges. Das waren nicht mehr die Lieder selber, nur noch Kommentare dazu (beim "Feuerreiter" einer zu Peter Weiss). Indem er sie derart grell beleuchtete, nahm er den Liedern das Geheimnis. Sie rückten ihm zu nahe auf die Haut und wurden peinlich.

Solche einen glückhaften Liederabend verhindernde Eigenheiten sind nicht die Mängel eines, der zuwenig, sondern dessen, der zuviel über sein Metier nachgedacht hat. Es gab bei Fischer-Dieskau schon öfter Zeiten, in denen er sich an die Manier verlor, der eigenen Stimme und den Komponisten zuwenig traute. An diesem Abend konnte man sich über die Gefährdung, der ein großer Sänger ausgesetzt ist, Gedanken machen.

Es ist phantasielos, einem Star über Jahre hinweg ein gleichbleibendes Niveau abzufordern, abrufbar, wenn man gerade in seinem Konzert sitzt. Das Beispiel Fischer-Dieskau zeigt, wie schwer es sein mag, einen immer geschärfteren Kunstverstand nicht über den ursprünglichen Impuls siegen zu lassen, zwischen Artistik und Natur die Balance zu halten.

Svjatoslav Richter, selber grüblerisch und hochbewusst wie Fischer-Dieskau, war wie ein eineiiger Zwilling; er tat Ton für Ton dasselbe wie der Sänger und verhalf mit zu verdoppeln und verdreifachen. Doch die Einfühlungskraft, überhaupt – bei einem großen autonomen Pianisten – die Bereitschaft dazu ist faszinierend.

Vor- und Nachspiele übrigens sind ganz ohne die Vorzeigegeste Fischer-Dieskaus. Er bringt sie wunderbar frei und musikalisch, lässt plötzliche Tonwechsel durch eine fast nicht wahrnehmbare Pause spüren und kann – dies vor allem – eine musikalische Phrase in Ruhe sich zu Ende reden lassen.

In ganz wenigen Augenblicken gelang das auch dem Sänger, am reinsten bei der Zugabe "Laß o Welt".

Beate Kayser

 

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     Stuttgarter Zeitung,  9. August 1972     

Der Berühmteste und der Beste

Fischer-Dieskau und Peter Schreier in Salzburg

    

Seit je sind es immer nur die Auserwählten, die bei den Salzburger Festspielen zu Liederabenden gebeten werden. Meist sind sie auch in den Opernaufführungen vertreten, einzeln, hier und dort – leicht läßt sich der Rang eines Salzburger Opernensembles daran ermessen, wie viele Liedersänger in ihm vertreten sind. Den Vogel schießt diesmal Karl Böhms "Cosi fan tutte"-Ensemble ab, aus dem nicht weniger als vier Liedersänger kommen: alle drei Männer – Fischer-Dieskau, Prey und Peter Schreier – und Gundula Janowitz. Für die drei übrigen Liederabende waren Teresa Berganza, Helen Donath und Christa Ludwig vorgesehen, von denen aber die beiden ersteren wegen Indispositionen abgesagt haben.

An zwei aufeinanderfolgenden Abenden haben Dietrich Fischer-Dieskau und Peter Schreier gesungen, und es war hochinteressant, sie beide so dicht nebeneinander hören zu können. Seit zwei Jahren ist Schreier nämlich drauf und dran, Fischer-Dieskau den Liedersängerthron streitig zu machen. Er versuchte das nie mit Imitationen (wie früher einmal Hermann Prey), sondern indem er sich strikt ans Gegenteil hielt – ans pure Singen. Wo Fischer-Dieskau sich ins Überinterpretieren der Texte verstieg, blieb Schreier immer dicht an der Komposition. Und so war es auch diesmal, fast krasser noch als früher. Der Berühmteste ist nun keinesfalls mehr der Beste; vielmehr hat Schreier heute als Liedersänger nicht seinesgleichen.

Fischer-Dieskau war auch etwas das Opfer unseliger Festspielregie; denn die Rechner an der Kasse hatten den (für sie sehr einträglichen) Einfall, drei der sieben Liederabende im riesigen Großen Festspielhaus stattfinden zu lassen – neben Fischer-Dieskaus auch noch die von Prey und Christa Ludwig. Und das ist für die intime Liedkunst natürlich tödlich. So zischte Fischer-Dieskau mehr Konsonanten denn je, um sich auch dem zweitausendfünfhundertsten Zuhörer noch verständlich zu machen, und er gestikulierte auch viel mehr als sonst. Doch davon abgesehen: er scheint Hugo Wolf, mit dem allein er sein Programm bestritt, als Liederkomponisten abgeschrieben zu haben – fest der Meinung, dessen Gesänge seien alles kleine Szenen oder Melodramen. Nie zuvor hat er so viel deklamiert anstatt gesungen – sicher nicht nur, um erste Mangelerscheinungen an seinem Gesangsorgan zu vertuschen, sondern gewiß in der Absicht, bei Wolf müsse es so sein. Denn daß er noch wundervoll singen kann, hat er nicht nur als Alfonso in "Cosi fan tutte" gerade bewiesen, sondern vereinzelt auch im zweiten Teil seines Wolf-Programms, am reinsten in der zugegebenen "Verborgenheit" (Laß o Welt). Da strömte seine Stimme in wunderbarem Gleichmaß, und man war sehr, sehr traurig, daß er sich das erst in der Zugabe erlaubte.

Sein Programm, höchst geschmackvoll wie immer aufgebaut, bestand ausschließlich aus Mörike-Vertonungen, und gleich bei der ersten "Der Genesene an die Hoffnung", steigerte er sich in eine Emphase, bei der Intonationstrübungen unterliefen, die es früher bei ihm ganz einfach nicht gab. Und immer wieder passierte es dann, daß selbst bei lyrischen Stücken ein Überespressivo die musikalische Linie zerschlug. Die heitere Gelassenheit eines Wanderlieds ("Fußreise") gelang ihm kaum, Fröhlichkeit geriet recht manieriert. Und selbst volksliedhafte Melodik ("Storchenbotschaft") schlug ihm allzusehr in bizarre Skurrilität um.

Neben dem "Feuerreiter" als einer großen dramatischen Szene stand später "Zur Warnung" als regelrechte Klamotte, da wurde Katzenjammer mit den Mitteln der Schmiere verdeutlicht. Es fehlte dann nur noch der "Abschied", um endgültig klarzumachen: wenn man früher dachte und hoffte, Fischer-Dieskau könnte in Wagners "Meistersingern" mal ein herrlicher Hans Sachs werden, so weiß man heute gewiß, daß er ein glänzender Beckmesser sein würde.

Längst müßte davon gesprochen werden, daß für Fischer-Dieskau bei seinem Wolf-Abend auch Swjatoslaw Richter am Klavier der Grund gewesen sein könnte, als Rezitator hinter der Musik zurückzutreten, um diese vielmehr weitgehend dem berühmten Pianisten zu überlassen. Denn der ist natürlich kein Begleiter, sondern ein Partner – und darin bestand auch der Hauptreiz dieses Abends. Von Anbeginn herrschte eine Spannung, wie man sie bei Liedinterpretationen nur sehr selten erlebt. Beim "Feuerreiter" ersetzte Richter natürlich ein ganzes Orchester. Aber auch da, wo dieser unerhörte Pianist nur den Klanghintergrund zu geben hatte ("Um Mitternacht"), war sein Spiel von einer schier sagenhaften Intensität erfüllt. Und welche Klavier- kantilenen hörte man "Im Frühling", welche hochpoetischen Klangewunder "Auf einer Wanderung"! Ganz zu schweigen von der "Begegnung", aus der Richter ein hinreißendes Klavierstück machte. Und daß Richter aus dem deftigen Nachspiel zum "Abschied" einen Kehraus-Knüller machen würde – wer hätte es nicht erhofft.

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Wolfram Schwinger

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     Stuttgarter Nachrichten,  8. August 1972     

Ein Herz und eine Seele

Dietrich Fischer-Dieskau und Swjatoslaw Richter musizieren Wolf-Lieder

 

Das gab es schon, Liedpartnerschaft Fischer-Dieskaus mit Swjatoslaw Richter. Aber das gab es noch nicht: Dass ein Liederabend im riesigen Auditorium des Großen Festspielhauses stattfindet und es gänzlich füllt. Seltsame Erscheinung, Zeichen der Zeit: Während Liederabende des musikalischen Alltags praktisch ausgestorben sind, florieren die Star-Recitals, freilich auf eine Handvoll Sänger mit Schallplattenberühmtheit beschränkt.

Dass Lieder gesungen werden, erscheint weniger wichtig als wer singt. Wenn sich dann Dietrich Fischer-Dieskau, dem diese erstaunliche Lied-Renaissance zu verdanken ist, mit einem König seines Instruments wie Swjatoslaw Richter verbindet, so potenziert sich zunächst die Prominenten-Attraktion. Potenzierte Kunst gewährleistet ein solches Gipfeltreffen nicht zugleich. Ein pianistischer Virtuose muß kein idealer Begleiter, ein idealer Begleiter muß kein Solist mit Marktwert sein. Das Beglückende dieser leider nur flüchtigen, nur von Festspielanlaß ermöglichten Künstlergemeinschaft liegt aber darin, dass beide ein Herz und eine Seele sind.

Wenn Fischer-Dieskau am Ende seinen Kompagnon umarmte, wenn er das vorzeitig ausbrechende Klatschen im Lied "Abschied" mit der resoluten Geste eines Verkehrsschutzmanns stoppte und mit der anderen Hand zum Klavier wies, damit Richter ungestört das Walzer-Nachspiel zu Ende donnern konnte, so war das mehr als Ausdruck fairer Kameradschaft. Richter revanchierte sich, indem er seine große Kunst, alle Virtuosität, die ganze ungebärdige Persönlichkeit in den gemeinsamen Dienst an Hugo Wolf stellte, sich dem Stil unterordnete, der nun einmal von Fischer-Dieskau geprägt ist: gefühlsgeladen, hochexpressiv in der Umsetzung jedes einzelnen Wortes in klangliches Symbol, Romantik psychologisch angereichert.

Swjatoslaw Richter vollzog alles das mit, im Anschlag so nuancenreich wie der Sänger in der Stimme, bis zu den anfechtbaren ritardandi beispielsweise in dem Lied "Im Frühling". Ganz uneitel und doch wahrhaft mitgestaltend. Den "Feuerreiter" erlebte man nicht so sehr als epische Ballade, sondern als eine Szene von furioser Dramatik – in einem Tempo, das der Traum manches Sängers sein mag, der sich aber nur erfüllen kann, wenn er auf einen so virtuosen Partner bauen kann.

Der Abend wurde ganz mit Mörike-Liedern Hugo Wolfs bestritten. Zwanzig von dreiundfünfzig, eine stattliche Auswahl, eine wahrhaft repräsentative. Denn sie ließ den vergrübelten Mörike zu Worte kommen – in dem mystischen Gesang "Neue Liebe" -, den Idylliker, den Humoristen, dem die ganze Schlussgruppe gewidmet war.

Dietrich Fischer-Dieskau steht heute auf der vollen, souveränen Höhe seiner Kunst. Es gibt üppigere, größere Baritonstimmen, man mag diesem Vorbild eines denkenden Sängers das Kehrbild solchen Vorzugs, nämlich mangelnde Naivität, ankreiden – in der Suggestivität seines Singens ist er nach wie vor unvergleichlich. Und gerade mit Hugo Wolf gibt er vielleicht sein stilistisch Vollkommenstes. Naiv war ja das größte Liedgenie nach Schubert auch nicht. Der Hauch von Sentimentalischem (im Sinne Schillers), von Spätlings-Kunst, den Fischer-Dieskau mitteilt, erscheint ganz als legitime Werkerfüllung.

Kurt Honolka

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