Zum Konzert am 23. und 24. September 1972


     Tagesspiegel, Berlin, Datum unbekannt    

Fahle Verzweiflung, zarte Hoffnung

Karajan dirigierte "Ein deutsches Requiem"

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Karajan, und das machte seine Interpretation des Requiems perspektivenreich, deutete die Leidenschaftlichkeit der Musik eher behutsam aus. Verhalten setzt er die jambischen Akzente des zweiten Satzes an, um nur in wenigen Augenblicken den Satz dramatisch kulminieren zu lassen. So wird auch der etwas leerlaufende Allegro-Anhang in seiner rhetorischen Gestik weniger fühlbar. Andererseits aber bemüht sich die Interpretation, wo immer es angeht, um Konturierung des oft genug plätschernden Orchesterklangs. So war es ein besonderes Vergnügen, den chorischen Streicherwirkungen zu lauschen, den Pizzikatobewegungen von dumpf-herber Gewalt.

Vorzüglich geriet auch die Zusammenarbeit mit dem "Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde Wien". Bewunderungswürdig, wie geistesgegenwärtig dieses große Instrument reagierte und wie glanzvoll die einzelnen Chorgruppen sich zu artikulieren vermochten.

Dietrich Fischer-Dieskaus Fähigkeit, der Hiobschen Gewalt des Textes beredt Ausdruck zu verleihen, ging hier nun mit einer musikalisch wundervoll belebten Gestaltung Hand in Hand. So entstanden Interpretationen von hohem stimmlich-artistischem Reiz, die zugleich den fahlen Ton der Verzweiflung erschütternd ausfigurierten. Gundula Janowitz, die das Solo des fünften Satzes "Ihr habt nun Traurigkeit" sang, stellte ihre Botschaft von Beginn an auf einen voluminösen und dennoch zärtlich schwebenden Ton der Hoffnung, dem es ein wenig an innerer Dramatik gebrach.

Am Ende wollte das große Auditorium in Beifall ausbrechen, der aber vom Maestro mit Entschiedenheit abgewehrt wurde.

Wolfgang Burde

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     Der Abend, Berlin-West, 25. September 1972     

   

Gedämpftes und Rares

Das "Deutsche Requiem" von Brahms auf Bibelworte als Festwochen-Bonbon: Die Philharmoniker, Karajan, zwei berühmte Solisten, ein eigens herangeflogener großer Chor aus Wien - höher geht’s nimmer. Fünf Viertelstunden ohne Pause in der natürlich vollbesetzten Philharmonie. Dem Beifall kommt eine kurz abwehrende Handbewegung des Dirigenten zuvor. Warum eigentlich? Scharouns Rundbau ist doch keine Kirche.

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Mit diesem Requiem lernte Berlin übrigens den damals jungen Karajan kennen: Im Mai 1939 dirigierte er es in seinem ersten Berliner Chorkonzert mit einer Sängerschar aus Aachen zum Brahms-Fest in der alten Philharmonie.

Die jetzige Aufführung bevorzugt auffallend gedämpfte Farben und Töne. Sie ist gleichmäßig und kontrastarm; kein Forte wird voll ausgesungen. Beispielhaft ist ihre Geschlossenheit. Der "Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde Wien", ein hervorragender, kopfstarker Laienchor (welch Vorteil, daß er seine Partien auswendig beherrscht) und die äußerst dezent spielenden Philharmoniker bilden eine nahtlose Einheit. Karajan geht jeder Ausdrucksmodulation sorgfältig nach.

Auch die Solisten halten sich zurück. Der Engelssopran von Gundula Janowitz ist um ebensoviel schlanker geworden wie ihre Figur. Dietrich Fischer-Dieskau, offenbar nicht bestens disponiert, prägt jede Silbe seines Textes nachformend aus und wahrt dabei stimmliche Verhaltenheit. Das unvergleichliche Werk übte in dieser durchgefeilten und in allen Teilen aufeinander bezogenen Wiedergabe abermals seine nie versagende, tiefe Wirkung aus.

W. S.

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     Die Welt, Ausgabe B, Berlin-West,  25. September 1972     

Kräftige Kolossal-Kontraste

RSO-Konzert unter Maazel - Karajan dirigierte Brahms’ "Requiem"

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Auf ihn (Anm.: Beifall) verzichtete Karajan nach seiner Aufführung des "Deutschen Requiems" von Brahms in der Philharmonie. Mit leicht indignierter Geste wies er den am Ende aufflackernden Beifall zurück - und es bleibt ungeklärt, ob er es diesmal vielleicht aus Mißvergnügen an der eigenen Leistung tat. Denn sie war diesmal wahrhaft des Beifalls nicht wert.

Karajan zelebrierte ein Desinteresse, eine geschleckte Glätte, die nur an wenigen Stellen zum Kern des Werkes vorstieß - im Chorsatz "Wie lieblich sind deine Wohnungen" etwa, den der Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde Wien mit einer zarten Inbrunst vortrug, die leider nicht auf die ganze Aufführung abfärbte. Der - übrigens auswendig singende - prachtvolle Chor war überhaupt Stab und Stütze dieser Interpretation, die sich selbst nicht allzu ernst zu nehmen schien. Sogar die Philharmoniker spielten unter ihrem Niveau, und die Solisten, Gundula Janowitz mit ihren textfernen, blühenden Vokalisen und Dietrich Fischer-Dieskau, eher matt als inspiriert singend, bezeugten eine Wesenlosigkeit, die sich der ihres Dirigenten verband. Zwischen den Polen einer öden Vollkommenheit und einer vollkommenen Öde schwang die Aufführung hin und her. Ein Trauerspiel mehr als ein Requiem.

Klaus Geitel

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     Kurier, Wien, 27. September 1972    

Berliner Festwochen

Karajan ohne Applaus

    

Seit langem ausverkauft waren die beiden Abende in der Berliner Philharmonie, an denen Herbert von Karajan und seine Philharmoniker zusammen mit dem Wiener Singverein (und Gundula Janowitz und Dietrich Fischer-Dieskau als Solisten) das Brahms-Rquiem aufführten.

Der Dirigent war ganz auf "geistlich" gestimmt; er verzichtete auf Kontrasteffekte zugunsten einer poetischen, allen Ausdrucksvarianten gerecht werdenden Interpretation. Das Ergebnis förderte den Eindruck der Geschlossenheit wie jenen der Langeweile, zumal auch der Wiener Chor und die Berliner Musiker in diesen Rahmen eingespannt waren.

Gundula Janowitz sang ihr Solo klar, empfunden und verhalten, Fischer-Dieskau hielt es mehr mit dem Wort und seiner Deutlichkeit. Ganz besonders imponierte meinen Berliner Kollegen der Wiener Singverein (Einstudierung: Helmuth Froschauer), der seinen Part auswendig sang.

Ohne Noten kam auch Karajan aus, sogar ohne Pause, aber leider nicht ohne die Pose, in einer Kirche musiziert zu haben; der rechtens zu erwartende Applaus wurde mit einer Handbewegung des Dirigenten "abberufen". Man wird die Berliner Philharmonie über kurz oder lang einer Diözese unterstellen müssen....

Herbert Schneiber

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     Spandauer Volksblatt, Berlin-West, 26. September 1972     

Vorbildlich im Zusammenklang

Wiener Singverein unter Karajan mit dem "Deutschen Requiem" von Brahms

    

Mit abwehrender Handbewegung enthielt Herbert von Karajan den Mitwirkenden und sich selber allen Schlußapplaus vor. Da das Publikum in der Philharmonie zu Beginn auch den Begrüßungsbeifall für die Choristen versäumt hatte, blieb der Besuch des Singvereins der Gesellschaft der Musikfreunde Wien ganz ohne hörbares Echo.

Die rund 150 Sängerinnen und Sänger des berühmten Chores werden es verschmerzen. Er hat nicht bloß eine lange Tradition (immerhin jetzt 160 Jahre), seine Mitglieder sind Erfolg gewohnt. Sie wissen, daß sie gut sind. Mit den Berliner Philharmonikern, ihren Partnern in diesem Festwochenkonzert, haben sie eines gemeinsam: Seit langer Zeit ist Herbert von Karajan ihr künstlerischer Leiter. Mit diesem Chor musiziert er schon seit einem Vierteljahrhundert regelmäßig.

Das Stigma des Außergewöhnlichen, auf das Karajan selten verzichtet, ist denn auch diesem Zweig seiner "Familie" anzumerken. Das Brahms-Requiem kennt anderthalb Stunden lang für den Chor kaum eine Pause (nur in einem der sieben Abschnitte singt er im Sitzen), und trotzdem muß er sich überwiegend einer gespannten Verhaltenheit befleißigen. In allen Stimmen gleichmäßig besetzt und "rund" im Zusammenklang, löst er diese Aufgabe hervorragend. Wie etwa im Schlußsatz die Führung unmerklich von einer Stimme auf die nächste übergeht, ist vorbildlich. Alle singen auswendig.

So hat Karajan alle Möglichkeiten, gliedernd zu gestalten. Er sorgt für lange Crescendi, für ruhige Ausdauer im verhangenen Anfangssatz oder in der Seligpreisung des Schlusses. Und natürlich hebt er den düsteren ("Denn alles Fleisch ist wie Gras") wie den dramatischen Höhepunkt des Werkes ("Der Tod ist verschlungen in den Sieg") nach Gebühr hervor. Er leitet ohne Stab, die Augen offen, und der Chor folgt seinen Winken, die manchmal energischer sind als gewohnt, mit wachem Verständnis. Chordirektor Helmut Froschauer dürfte daran seinen Anteil haben.

Dietrich Fischer-Dieskau gestaltete zudem die Baritonpartie in - wie nicht anders zu erwarten - idealer Eindringlichkeit. Nicht so Gundula Janowitz ihr Sopransolo: Sie mühte sich etwas in der höheren Stimmlage, und überhaupt scheint ihr Organ mittlerweile zu groß und operngerecht für die liebliche Lyrik dieses Stücks.

Trotzdem eine Aufführung, die Maßstäbe hochriß. Als Leiter großer vokaler Werke kennt man Karajan hier kaum. Wen wundert’s, daß er auch darin seine Klasse beweist? Nur wird er für Berlin kaum Schule machen in dieser Funktion.

Hans-Jörg von Jena

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