Zum Konzert am 1. Oktober 1972 in Berlin


    

     Der Tagesspiegel, 3. Oktober 1972     

Leuchtendes 19. Jahrhundert

Maazel dirigierte Mendelssohns "Paulus"

[...]

Wie man Festwochen-Gelder sinnvoll anlegt, wurde mit diesem Konzert in der Philharmonie exemplarisch vorgeführt: alle Mittel für eine Komposition, der möglicherweise zu Unrecht Vergessenheit droht. Das Ergebnis war ein musikalischer Festwochen-Höhepunkt.

[...] Das subjektive Empfinden, daß mir bei der rund zweieinhalbstündigen Wiedergabe (inklusive Pause) kein Takt zu lang geworden ist, mag nicht jeder teilen, die Qualität und Intensität des Ganzen aber fanden im überaus beteiligten Beifall des Auditoriums zur Pause und am Ende ihre Bestätigung.

[...]

Diese Ouvertüre setzte den hohen Maßstab für das ganze Konzert: makellos die Streicher im fugierten Allegro, triumphal, obwohl dynamisch gebändigt, das romantische Aufgipfeln des Chorals, keine Bach-Händel-Imitation sondern leuchtendes 19. Jahrhundert. Das Verfolgen der instrumentalen Ereignisse, die Maazel im folgenden äußerst sorgfältig aufdeckte - mit besonderer Liebe für die tiefen Streicher -, hätte allein die Aufmerksamkeit voll beanspruchen können.

Alle verfügbaren Mittel: Dazu gehörte auch der Chor der Deutschen Oper. [...] Dann die Solisten: Gerti Zeumer, Marga Höffgen und Werner Hollweg mit individuellen Schattierungen lyrischen Espressivos, und in der Titelrolle, von der schließlich in diesem Werk der geistigen Auseinandersetzungen alles abhängt, Dietrich Fischer-Dieskau. Seine Interpretation, die auf unvergleichliche Art Geradheit mit sehr vorsichtigen Manierismen verband, gab der Musik ihre so diskrete wie sprechende innere Dynamik: etwa im Allegro-maestoso-Teil der zweiten Paulus-Arie, "Herr tue meine Lippen auf, daß mein Mund deinen Ruhm verkündige" - man muß gehört haben, wie Fischer-Dieskau bei dem Wort Ruhm leise wird.

Sybill Mahlke

__________________________________

   

     Der Abend, Berlin-West, 4. Oktober 1972     

Harmonien und Sirenen

   

Die Oratorien "Paulus" und "Elias" von Felix Mendelssohn Bartholdy waren ehedem ein fester Besitz jedes Chorvereins. Nach 1945 erreichten sie ihre frühere Bekanntheit nicht wieder. Die Zeit war der lyrischen Weichheit und Spannungsarmut ihrer melodischen und harmonischen Machart abhold. Aber vielleicht gehen diese Werke unter den Vorzeichen der Wiederanknüpfung an romantische Vorbilder einer neuen Wertschätzung entgegen.

Lorin Maazel hatte für sein Konzert in der Philharmonie den an Gedanken und Einfällen reichen "Paulus" ausersehen und eine Aufführung erarbeitet, die dem musikalischen Teil der Festwochen ein Glanzlicht aufsetzte. Selten war er künstlerisch so hervorragend disponiert und wohl auch innerlich beteiligt wie gestern. Er nahm dem zweistündign Werk des damals erst 27jährigen Tonschöpfers das Odium der Sentimentalität und gab den komponierten Worten der Heiligen Schrift eine ruhige, ernste Auslegung. Das Radio-Symphonie-Orchester folgte seinem Ausdruckswillen mit sensibler Klangfeinheit.

Als ein ideales Instrument der Schönheit, Kraft und Sinngebung bewährte sich der von Walter Hagen-Groll vorbereitete Chor der Deutschen Oper. Mit dieser Leistung zeigte er sich auch als Konzertchor allen anderen Berliner Chören überlegen.

Auch das Solistenquartett war erstklassig besetzt. Gerti Zeumers glasklarer und biegsamer jugendlicher Sopran, Marga Höffgens profunder Alt und Dietrich Fischer-Dieskaus wiedererstarkter expressiver Baßbariton gaben sich nichts nach. An die Spitze rückte Werner Hollweg vor, der als Oratorientenor ebenso geschmeidig genau artikulierte und gestaltete.

Diese abgerundete Mendelssohn-Aufführung erzielte im vollen Haus einen tiefen Eindruck und nachwirkenden Erfolg.

W. S.

__________________________________

   

     Frankfurter Neue Presse, 5. Oktober 1972     

Frankenstein und der Selbstmord des Genossen

Auf den Berliner Festwochen weckten die Klassiker mehr Interesse als die Modernen

[...]

Da gab es bei den Festwochen-Klassikern schließlich doch mehr zu entdecken. Mendelssohn erfuhr durch die Aufführung seines "Paulus"-Oratoriums mit Lorin Maazel und dem Radio-Sinfonie-Orchester Berlin eine notwendige Wiedergutmachung (ähnlich wie in Frankfurt durch den "Elias").

Die große deutsche Oratorien-Tradition ist doch umfassender, als man aus musik-ideologischen Gründen anzunehmen gewillt war. Dieser "Paulus" besaß dank der Intelligenz und Hingabe Maazels Kraft, Würde und lyrische Schönheit. Eine überragende Leistung vollbrachte dabei der Chor der Deutschen Oper, dazu kam ein vortreffliches Solistenensemble mit dem sichtlich aufblühenden Dietrich Fischer-Dieskau und der wunderschön phrasierenden Sopranistin Gerti Zeumer an der Spitze.

Rudolf Jöckle

__________________________________

   

     B. Z., Berlin-West, 4. Oktober 1972     

Den Ton getroffen

    

Lag es an der Häufung attraktiver musikalischer Veranstaltungen in den Festwochen oder an dem Mißtrauen des Publikums gegen ein halb vergessenes Oratorium, daß die Philharmonie trotz eines wahrhaft blendenden Aufgebots an Mitwirkenden bemerkenswerte Lücken aufwies? "Paulus" von Mendelssohn ist in Berlin selten geworden. Weit mehr als dem rund ein Jahrzehnt später entstandenen "Elias" haften ihm die Schwächen ihres Schöpfers an: die musikalisch wohlrednerische Glätte, die salbungsvolle Frömmigkeit.

Wenn jedoch die Arie "Jerusalem" so empfindungstief und schwingend schön im schmelzreichen Sopran klang wie von der künstlerisch noch immer auf steigender Linie befindlichen Gerti Zeumer, das einst populäre "Doch der Herr" so nobel wie von Marga Höffgen, die Rezitative so kraftvoll-lebendig wie von dem ausgezeichneten Tenor Werner Hollweg gesungen werden und in der Titelpartie des Saulus-Paulus ein Dietrich Fischer-Dieskau seine fanatisch eifernde Stimme erhebt, dann spürt man die Mängel des trotz mancher Striche immer noch über zwei Stunden dauernden Werkes kaum noch.

Schon gar nicht bei der Szene der Erleuchtung Sauls auf dem Wege nach Damaskus. Hier hatte Lorin Maazel als Dirigent die Frauenstimmen, denen Mendelssohn die Worte Jesu "Saul, was verfolgst du mich?" singen läßt, auf der höchsten linken Empore aufgestellt und damit dieser Stelle den überirdischen Glanz plötzlicher religiöser Erleuchtung gegeben.

Gegen Paulus wetterten Chöre

Von starker Wirkung waren auch die Chöre der gegen Paulus wetternden Juden, in denen der für Oratorien-Aufführungen wenig geeignete Chor der Deutschen Oper (dessen Männerstimmen im Verhältnis zu den Frauenstimmen viel zu stark besetzt waren) seine Stimmkraft einsetzen konnte (Einstudierung HagenGroll). Das RSO traf unter Maazels ruhiger Führung genau den Ton Mendelssohns.

K. W.

__________________________________

  

     Spandauer Volksblatt, 4. Oktober 1972     

Lyrisches dominierte

Das "Paulus"-Oratorium in der Philharmonie

   

Mendelssohn läßt in seinem "Paulus"-Oratorium erst den frühesten Märtyrer Stephanus feurig den Herrn bezeugen und zu Tode kommen, ehe der Apostel selbst in den Mittelpunkt rückt. Da er sich versagen muß, bei Paulus ein zweites Mal Märtyrertod zu schildern, bringt er sich auch um einen wirkungsvollen Schluß. Dramaturgisch scheint das schief.

Aber Mendelssohn wollte keine Opernhandlung. Ihn, den Konvertiten, interessierte die seltsame Entwicklungskurve des Mannes aus Tarsos. Deshalb mußte er Paulus Gelegenheit geben, sich schuldig zu zeigen, recht ingrimmig gegen die Christen zu wüten. Das tut er bei des Stephanus Tod.

Seine wilde h-Moll-Arie ist auch einer der musikalischen Höhepunkte des Oratoriums, ebenso sein diskret behandeltes Damaskus-Erlebnis (die Stimme des Herrn ist ein vierstimmiger Frauenchor) und sein lyrisch-elegischer Abschied von der Gemeinde vor seiner letzten Reise. Dietrich Fischer-Dieskau macht die Paulusfigur bei solchen Anlässen, aber auch in seinen Rezitativen - wer erwartet es anders? - zum Erlebnis. Das tatkräftige Eintreten für Christus - Paulus ist ja eine der folgenreichsten Gestalten der Geschichte - erscheint in Fischer-Dieskaus Darstellung mit Recht im Eifern für den einen Gott der Gesetzesreligion vorgezeichnet.

Die Wiederaufführung durch das Radio-Symphonie-Orchester und den Chor der Deutschen Oper unter Lorin Maazel entriß das Werk vielleicht seiner Vergessenheit, die nicht in einem Mangel an musikalischer Qualität begründet liegt. Wir erwarten in einem Oratorium Bachs mystische Versenkung, Händels Macht und Prunk oder eben Oper. Bei Mendelssohn dominiert Mendelssohnsches: geistreiche Feinheit, lyrische Verhaltenheit. Was Stil und Eigenart ist, sollte man nicht Schwäche nennen.

Die raren Auftritte des Opernchors außerhalb des eigenen Hauses sind jedesmal ein Ereignis. Auch diesmal ist seine sängerische, namentlich dynamische Leistung zu rühmen. In der lieblichen Gerti Zeumer, der sonoren Marga Höffgen und dem schmelzend expressiven Werner Hollweg standen Fischer-Dieskau kongeniale Solisten zur Seite. Gibt es ein größeres Lob?

v. J.

zurück zur Übersicht 1972
zurück zur Übersicht Kalendarium