Zum Liederabend am 22. März 1973 in Essen   


     Westdeutsche Allgemeine Zeitung, Essen, 24. März 1973     

Diesmal nur Brahms

Dietrich Fischer-Dieskau sang Lieder

     

Die Säle werden zu klein, wenn Dietrich Fischer-Dieskau singt. So viele Leute wollten ihn hören, dass im Saalbau auch das Podium besetzt war. Ein paar Tage vorher mußten in Duisburgs noch größerer Mercatorhalle Stuhlreihen eingeschoben werden. Wem nützt der an sich erfreuliche Andrang?

Der Kasse bestimmt, der Sache weniger, denn für das "Auditorium maximum" ist die Intimität des Kunstliedes nun mal nicht geschaffen. Im weiten Raum gehen seine feinsten Wirkungen hoffnungslos unter. Auch Fischer-Dieskau kommt an diesem Dilemma nicht vorbei.

Diesmal galt seine sensible Interpretationskunst Liedern von Brahms. Die Texte waren dem Publikum im Programmheft an die Hand gegeben, am angeführten orchesterdimensionalen Ort zweifellos, zumal wenn man hinten saß, eine unerläßliche Hilfe. Und weil der Sänger etwa nicht deutlich genug deklamiere? Gerade darin ist Fischer-Dieskau unantastbar. Man kennt seine Bemühung um ausgefeilte Wortverständlichkeit und akzentuierte Wortbedeutung seit langem. Früher wurde sie fast zur Manier.

Jetzt, bei Brahms, erlebte man differenziertesten poetischen Sinngehalt stärker aus dem Melos und der nuancierten musikalischen Konzentration des Vortrags, gefiltert durch eine unnachahmliche gestalterische Geistigkeit, die sich freilich auch vor dynamischen Eigenwilligkeiten nicht scheut, wenn sie nur (subjektiv) stimmen. Die "besondere" Interpretation Fischer-Dieskaus triumphierte mal wieder. Wer mit Brahms’ spezifischem Liederstil vertraut war, dem vermittelte sie mehr als bloß ästhetischen Genuß, der vermochte auch zu erkennen, wie musikalisch kongruent die romantischen Gedichte von Eichendorff, Platen, Heine, Simrock, Kalbeck, Schack und Daumer sich auf echt "brahmsische Weise" veredelten. Dieser Vollkommenheit diente auch Günther Weißenborns Begleitung am Flügel, im gleichgewichtigen Zusammenklang mit des Sängers beseelter Darstellung.

A. v. D.

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     Ruhr-Nachrichten – Essener Tageblatt, 24. März 1973     

Kunst des Gesangs in hoher Vollendung

Dietrich Fischer-Dieskau sang im Essener Saalbau

    

Einen Abend lang empfindsame Liederkunst im riesigen, akustisch arg trockenen großen Saal des Essener Saalbaus könnte für Sänger und Publikum zu einem strapaziösen Unterfangen werden. Ein Abend mit Dietrich Fischer-Dieskau allerdings nicht. Denn der Meisterbariton ist nach wie vor unglaublich präsent, im Technischen wie in den künstlerischen Dingen.

Zum nachhaltigen Erlebnis wurde das Meisterkonzert am Donnerstagabend mit Dietrich Fischer-Dieskau. Ausgewählte Lieder von Johannes Brahms standen auf dem Programm. Und Brahms bedeutet bei Fischer-Dieskau: ausloten aller kleinen und kleinsten Wendungen im harmonischen Bereich, minutiöses Erfassen der reichen Ausdrucksskala im Text, im Melos.

Hinter diesem mehr rationalen Begreifen aber steht eine unglaublich dichte Künstlerpersönlichkeit. Gleichsam aus der Stille (oder war es schon das allerleiseste Piano?) entwickelt Fischer-Dieskau das Lied "Nachtwandler". Hauchzart setzt er die Töne an, hält sie im Pianissimo, wird eine Idee lauter, wieder leiser. Für einen durchschnittlichen Sänger bleiben das Wunschträume. Bei Fischer-Dieskau ist es der Punkt, an dem vollendetes Handwerk und künstlerischer Gestaltungswille eins werden.

Und dann gibt es noch ein spezifisches Merkmal der Kunst Fischer-Dieskaus, das Bewunderung verdient; die enorme Bildhaftigkeit seines Vortrags. Ohne im Detail zu überziehen, mit einem Schuß Dramatik, im Lyrischen manchmal an der Grenze des Zerfließens, singt er das berühmte "Regenlied" oder das Daumer-Lied "Wie bist du, meine Königin". Trotz aller Freiheiten im Agogischen versteht er sich glänzend mit seinem Klavierpartner Günther Weissenborn.

Das Publikum im völlig überfüllten Saalbau klatschte enthusiastisch. Aber: Kein Star wurde verehrt, ein Künstler wurde bedankt.

Johannes K. Glauber

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