Zur Oper am 15. April 1973 in München


    

     Süddeutsche Zeitung, 17. April 1973     

Menschlichkeit und Grausamkeit der "Parsifal"-Welt

Kühne Neuinszenierung des Wagnerschen Bühnenweihfestspiels im Münchner Nationaltheater

I.

Noch einige "Parsifal"-Deutungen erwünscht? 1951 schrieb Professor Hans Grunsky tiefenpsychologisch: "Zu einem vollen Verständnis gelangen wir doch erst, wenn wir weiter zurückgehen und Speer und Gral im Sinne C. G. Jungs als archetypische Bilder auffassen. Danach ist der Speer eindeutiges Symbol männlicher Macht und männlicher Zeugungskraft, Waffe des Fruchtbarkeit schaffenden Gewittergottes; die leuchtende Gralsschale weibliches Geschlechtssymbol, als Sonne oder Mond wonnespendendes Rauschtrankgefäß der Götter. Man entsetze sich hierüber nicht!" Also, ein wenig verwundern wird man sich vielleicht doch noch dürfen. Und eher "visionär" als philologisch exakt behauptete Theodor Däubler in einem Wagner-Essay: "Parsifal, Fall-parsy, birgt in seinem Namen die gleiche Wurzel wie Phallos. Kun-dry, Gundrigga, trägt die Wurzel Kun, was weibgeschlechtlich ausdrückt, mit sich herum. Wir haben also nochmals das Paar. Das heroische Paar."

Derartige Spekulationen mögen interessant, vielleicht sogar halbwahr (oder eben doch völliger Unsinn) sein: Auf alle Fälle helfen sie nicht, wenn es um eine szenische Realisierung einer Wagner-Oper geht, die zwar den Anspruch einlöst, "Bühnenweihfestspiel" zu sein, in deren Verlauf es aber gleichwohl, wie immer bei Wagner, um handelnde, brünstige, "interessante" Sünder und Helden geht. Und ganz gewiß ist die Musik, diese hochentwickelte, reiche, im Leisen und Leidenden ausdrucksvolle Partitur, die mit Pausen (und nicht nur mit der Kunst des kleinsten Übergangs) arbeitet, mit Kirchentonarten, aber auch mit überwältigenden Modernismen, dem poetisch gehaltvollen Text noch um eine Genie-Dimension überlegen...

II.

Der von Dietrich Haugk, Günther Schneider-Siemssen und Wolfgang Sawallisch verantworteten, in den ersten beiden Akten alles in allem außerordentlich gelungenen Münchner Neuinszenierung kommt operngeschichtlicher Rang zu. Gewiß nicht, weil die Darbietung im Hinblick auf musikalische Erfüllung und Solistenbesetzung den größten Bayreuther "Parsifal"-Erinnerungen überlegen gewesen wäre (sie war es nicht); doch auch musikalisch wurde Fesselnderes geboten als bei einer mittleren Bayreuth-Aufführung, sondern weil Regisseur und Bühnenbildner sich im Münchner Nationaltheater zu zwei wichtigen und folgenreichen Schritten entschlossen. Zunächst ging man vergegenwärtigungslüstern hinter die bayreuthische Abstraktionskargheit zurück: Man setzte nicht irgendwelche Symbole "für" die von Wagner geforderten Realitäten, was ja der Willkür freien Raum läßt, sondern man bot die von Wagner geforderten Räume. Aber man bot sie nicht lauschig-realistisch, sondern besonnen-stilisiert. Wald, Lichtung, Gralsburg, Zauberschloß und Karfreitagsaue waren materiell und fesselnd da, waren nicht nur Mischung aus Finsternis und Lichtorgel - aber sie wurden in eine ausdrucksstarke und beziehungsvolle, noch immer nicht hinreichend konsequent durchdachte Richtung verfremdet.

III.

Das Vorspiel zum ersten Akt dirigierte Wolfgang Sawallisch, der ja seit einigen Monaten mit einem Glanz und einer Kraft musiziert, wie sie ihm so überzeugend früher nicht zu Gebote standen, außerordentlich. Ruhiger, expressiver, erfüllter und untrivialer ist in München seit Knappertsbuschs Tod nicht mehr Wagner gespielt worden; auch das Orchester schien mit heiligem Eifer bei der Sache. Dann öffnete sich der Vorhang und gab eine Waldlichtung frei: Bäume im Jugendstil-Sinne geformt (keineswegs karikiert), aber eben doch so, daß die Lichtung zugleich Kuppel war, daß Jugendstil-Ornamentik zart mit neugotischem Aufschwung verschmolz. In diesem beziehungvollen Raum handelte und agierte der als Gurnemanz seit Jahren hocherfahrene Franz Crass wie ein "Mensch". Mit schöner, ausdrucksvoller Stimme, nie nazarenerhaft süßlich, nie verkitscht. In diesem Ort kauerte, und das war noch nicht hinreichend gelöst, Kundry wie in einer Grube, da erschien, wirklich naiv, wirklich ahnungslos-unschuldig, souverän bei Stimme, James King als Parsifal. Wer je gelitten hat unter den dicken Schenkeln von Heldentenören im kurzen Hemdchen, die vorgeben, Naturburschen zu sein, der mußte für das geschlossene, bewußt modernistische Kostüm dieses Parsifal dankbar sein.

Dietrich Haugk hatte den ersten Akt so inszeniert, daß nicht alles, im Doppelsinne, feststand, sondern daß der Akt eine Geschichte unter Menschen war. Und zwar unter teils naiven, teils grausam-elitären Menschen: Was diese Gralsritter dem armen, hier wirklich kranken, zu Ohnmachtsanfällen neigenden Amfortas zumuten (man hilft ihm kaum, wenn er zusammenbricht; man nimmt das offenbar ungerührt in Kauf, man will eben "den Gral"), das machte die Notwendigkeit von "Mitleid" wahrhaft plausibel. Fischer-Dieskau sang genau, expressiv, hochintelligent. Er ging bis an die Grenzen des Erträglichen bei der Darstellung seines Leidens-Amfortas - dieser sieche, sich nach Tod oder Selbstmord sehnende Amfortas war tatsächlich ein "Tristan in seiner unendlichen Steigerung".

Bei der ersten Verwandlungsmusik klappte einiges Technische nicht, und Schneider-Siemssen wäre Wagners Spannungs-Konstellation doch entschieden nähergekommen, wenn das Kuppelgewölbe und die Kostüme nicht bloß Jugendstilhaftes und Gotisches, sondern vor allem ein Bild asketisch-spanischen Christentums vermittelt hätten. Spanische und jugendstilhafte Formen widersprechen einander keineswegs.

So wie Debussys Mélisande eine Art Jugendstil-Girlande ist, inszenierte Dietrich Haugk die sündhaften Blumenmädchen des zweiten Aktes als Beardsleysche Sumpfblüten. Klingsor erschien nicht als nur böser Gegenspieler, sondern als Märchen-Magier mit Zauberspiegel, Spinnweben und Teufelsaugen. Wiederum war also eine - im neuen Bayreuth: trostlose - Szenerie aktiviert und konkret stilisiert worden. Aber leider nicht hinreichend nach dem exzessiv Maurisch-Arabischen hin, das im Parsifal streng thematischer Gegensatz ist zur exzessiv christlichen Askese! Mir schienen die Farben und die am Hintergrund aufscheinenden, über Sexuelles und Sonstiges aufklärende Lichtgestalten ein wenig forciert und billig.

Wirkte Heinz Imdahl (Klingsor) mit strahlend heller, manchmal ärgerlich keifender Stimme noch wie eine Mischung aus Wesir, Zauberkünstler und Obereunuch, so vermochte Hildegard Hillebrecht die ungeheuerliche Forderung, zugleich Archetyp, Jugendstilsünde, tragische Verführerin und Unselige mit Lachzwang zu sein, nicht hinreichend zu erfüllen. Es lag weniger an ihrer relativen Unbeweglichkeit, als daran, daß ihre schöne, große, aber für diese Partie doch nicht ganz genügende Stimme nur einen Teil des von Wagner Gemeinten (und von Martha Mödl einst unvergeßlich Gebotenen) auszudrücken vermochte. So wurde die beabsichtigte Umfunktionierung von Mutterliebe in erotische Liebe, von Vergessensschmerz in Leidensassoziation (Parsifal: "Was alles vergaß ich wohl noch?") nur vorgeführt, gesungen, aber nicht zwingend dargestellt, verkörpert.

In den ersten beiden Akten war der "Parsifal" großartig spielerisch angelegt. Die Menschen schritten nicht, sondern sie gingen, sie "zelebrierten" nicht, sondern sie reagierten mit (wenn sie Bescheid wußten), selbst den kräftigen Titurel (Karl Helm) sah man unter Engeln! Oder sie blieben verwundert, aber nicht unberührt, falls sie nicht Bescheid wußten - wie zum Beispiel Parsifal und bestimmt auch derjenige Teil des Publikums, der nicht vorher den Text gelesen hatte.

IV.

Dieser kühn vergegenwärtigende inszenatorische Ansatz forderte im dritten Akt einige Opfer. Es ist gewiß vertretbar, daß Fischer-Dieskau dem Amfortas eine wild verzehrende, fast böse Leidenschaft zukommen läßt und ihn in heftigen Gegensatz zu den Rittern stellt. Es ist vielleicht gerade noch diskutabel, daß die Oper so endet, als sei hauptsächlich Kundry erlöst worden: Parsifal beugt sich (seitenverkehrte Pietà) über die Sterbende - immerhin hat Wagner bei der "Kundry" an den Maria-Magdalena-Konflikt aus seinem "Jesus von Nazareth"-Konzept gedacht, und einiges davon in den "Parsifal" hinübergenommen. Doch wenn wegen allzuviel Licht und Jugendstil im dritten Akt die große Wagner-Fahlheit ausbleibt, jenes ungeheure Verenden und Erstarren, das ja nicht nur in Walhall oder beim Landgrafen Hermann und bei Tristans Tod herrscht, sondern auch im Montsalvat: dann ist dies ein bitterer Kunstfehler. Auch schienen Orchester und Dirigent im letzten Akt nicht ganz so kraftvoll und glücklich bei der Sache. "Parsifal" läßt sich einem laufenden Spielplan eben nur schwer integrieren.

Fazit: Statt symbolischer Frömmelei erlebten wir eine musikalisch große, in ihrer Thematik und Bildlichkeit ans 19. Jahrhundert gebundene Geschichte. Die Bestandteile dieser Geschichte wurden nicht wegmythologisiert, sondern beziehungsvoll dargestellt. Auf einem solchen Wege, der hier freilich nur ansatzweise beschritten wurde, könnte im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts der ganze Wagner zu suchen und zu finden sein.

Joachim Kaiser

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     Die Welt, Ausgabe B, 18. April 1973     

Wagner, wie ihn sein König sah?

Dietrich Haugk inszenierte den "Parsifal" im Münchner Nationaltheater

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Das Stichwort für seine Inszenierung mit dem Bühnenbildner Günther Schneider-Siemssen hat Haugk selbst gegeben: Jugendstil. Intention und Ergebnis indessen differieren sonderbar. Der szenische Entwurf ist nicht vom Uraufführungsjahr 1883 ein wenig in die Zukunft von damals gerückt, sondern eher in die Vergangenheit. Ins Neuschwanstein-Panorama fügte sich dieses üppige, den Synkretismus des Werkes mit vollen Händen greifende Bilderdekor mehr oder minder bruchlos ein: Wagner-Welten wie Ludwig II. sie geschaut hat. Oder genauer: Wagner-Welten wie Visconti meint, daß Ludwig II. sie geschaut habe - überladene, prunkende, sich jeder Symmetrie betont widersetzende, in mildhelles Licht getauchte Ornamentik, die sich in glücklichen Momenten in den über die Bühne ausschwingenden, nazarenisch sanften Gängen und in den weiten Gesten der Sänger ergänzt.

Der Stilwille dieser Aufführung heißt Manierismus - bis ins bewußt Absurde hinein zuweilen, wenn Klingsors Zauberschloß zu einer muschelförmigen Glitschergrotte gefriert, die von einer Art Manhattan-Skyline umstellt wird. Befremdend, daß realistische Relikte in diesem Stilrahmen einfließen. Was soll es, daß ein Knappe gähnend und sich reckend aufwachen muß, wenn der Vorhang aufgeht; was soll es, daß das Heilandsblut umständlich, die Szenenordnung störend, den Gralsrittern, die durstig ihre Kelche herhalten, ausgeschenkt wird; was soll es, daß Kundry unermüdlich an Parsifals Stiefeln herumreiben muß, wenn sie ihm die Füße salbt. Derlei Deutlichkeiten verdeutlichen nicht, sie verkleinern die Symbolkraft des Gemeinten.

Ich gestehe, daß mich an dieser Aufführung zwei Akte lang einiges erbittert hat - am meisten die Blumenmädchen-Szene, ein in tiefes Rosa getauchtes Quirlen hüpfender Schleier, das nahe an eine Venusberg-Persiflage gerät, fern den Baudelaire-Träumen von den Blumen des Bösen ist. Da haben Makart und der Plüsch, denen Haugk entrinnen wollte, den Regisseur wieder eingeholt. Ich gestehe allerdings auch, daß ich im dritten Akt Haugk vieles wieder abgebeten habe - so ruhig, so klar, so zwingend sind ihm die Karfreitags-Aue und das Schlußbild mit betont ausgespielter Kundry-Erlösung gelungen, in denen dann auch Wolfgang Sawallischs musikalische Interpretation beinahe noch stärker als vorher ins Große, Bedeutende wächst.

Sawallisch, vor den einzelnen Akten geradezu triumphal gefeiert, hat hier vielleicht seine bislang zwingendste Münchner Premiere dirigiert. Er imitiert keines der aktuellen Bayreuther Vorbilder, nicht Boulez’ dramatisch Schärfendes und nicht das seraphisch Schöne Jochums, der diesmal als Premierengast im Parkett sitzt. Sawallisch zielt auf einen weichen Mischklang, aus dem zuweilen das Blech sich erheben darf, auf ein gelassenes Fließen, das etwa in den Gesängen der Blumenmädchen in überraschend breiten Tempi verhält, insgesamt aber doch immer wieder durch impulsive Tempo-Akzentuierungen belebt wird. Künstlerische Versprechen, die dieser Dirigent in jungen Jahren für Wagner vor mehr als einem Jahrzehnt verheißen hatte, lösen sich nun spät und glücklich hier ein.

Zwei von der Bayreuther Parsifal-Garde jetzt auch im Münchner Ensemble: James King, im Zenith seines Könnens, in der Titelpartie, Franz Crass, aktiver, dramatischer, als man es von ihm gewohnt ist, als Gurnemanz. Dietrich Fischer-Dieskau singt, zum ersten Male seit 15 Jahren wieder, den Amfortas, verhalten deklamierend zunächst, sich dann in heftige, doch keineswegs larmoyante Leidensausbrüche steigernd, die sich im dirtten Akt gegenüber dem ersten noch potenzieren. Wild und dunkel die Klingsor-Beschwörungen Heinz Imdahls, mehr und mehr sich intensivierend Hildegard Hillebrechts Kundry-Verlockungen im zweiten Akt.

Die gebündelten Buh-Rufe inmitten des Beifalls galten gewiß nicht dieser gestandenen Besetzung, gewiß auch nicht dem Dirigenten. Nachdem sich die Münchner Verantwortlichen zunächst (Alt-)bayreuthischer als die (Neu-)Bayreuther gegeben hatten und den Vorhang nach den ersten beiden Akten geschlossen hielten, verscheuchten die Proteste am Schluß die Mitwirkenden nach einmaligem Aufmarsch von der Bühne. Ein rasches Ende nahm damit die lange Aufführung, die mancherlei Denkanstöße geben kann zum Problem szenischer Wagner-Auslegung heute, selbst wenn sie in dieser Hinsicht nicht die Gültigkeit erreicht, die sie im Musikalischen groß macht.

Peter Dannenberg

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     Münchner Merkur, 17. April 1973     

Nationaltheater: Haugk und Schneider-Siemssen inszenieren "Parsifal"

Der Gral erstrahlt im Jugendstil-Tempel

Sawallisch verzichtet auf Bayreuth-Mystik / Star unter den Sängern: Fischer-Dieskau als Amfortas

   

Eine rundum befriedigende Aufführung des "Parsifal" ist heute fast nicht möglich. Da Wieland Wagners blockhaft statuarischer Inszenierungsstil auch nur vorübergehend faszinierte und bald schon zum Stereotypen erstarrte, dreht sich das Rad wieder nach der anderen Seite - dem Extrem äußerster Vereinfachung folgt jetzt wieder größere szenische Bewegtheit.

Wagner nennt seinen "Parsifal" ein Bühnenweihfestspiel. Der Begriff "Weihe" ist unserer schnellen, oberflächlichen, aber auch sehr kritischen Zeit etwas suspekt, und etwas Weihevolles darzustellen, heutigem Theater kaum möglich. So sind weihevolle Einzelheiten, etwa die Fußwaschung Parsifals durch Kundry, ohne Peinlichkeit fast nicht zu realisieren. Auch die langen Monologe von Gurnemanz, bei denen die Handlung förmlich abstirbt, bringen den Regisseur zur Verzweiflung, denn sie können nur - ganz wörtlich - durchgestanden werden.

Der Regisseur Dietrich Haugk und sein Bühnenbildner Günther Schneider-Siemssen siedeln "Parsifal" dort an, wo er der Entstehungszeit nach hingehört, im Fin de siècle, wohlgemerkt einem Fin de siècle, das bereits - und hier war Wagner nicht nur hellhörig, sondern selber einer der entscheidenden Anreger - tief im 19. Jahrhundert anfängt.

[...]

Gleich beim Aufgehen des Vorhangs zum neuen "Parsifal" fällt der Blick auf die im Hintergrund liegende Gralsburg Monsalvat. Tatsächlich: sie ist eine Reproduktion von Gaudis vielgerühmter und vielgeschmähter Jugendstilkirche "Sagrada Familia" in Barcelona (auf deren Gründungsstein übrigens 1882 steht, das Uraufführungsjahr des "Parsifal"). Die sich präraffaelitisch hochreckenden schmalen Baumstämme des Waldes verwandeln sich im Gralstempel in zur Höhe strebende Säulen, die eine beschwingte Jugendstilkuppel von raffiniert schaukelnder Unregelmäßigkeit tragen.

Farb-Eruptionen bei Klingsor

Das alles nur ein Vorgeplänkel zu dem, was wir in Klingsors Zaubergarten sehen. Schneider-Siemssen taucht die Bühne in schwüles Violett und Rot, malt phantastische Orchideen, die eine einzige züngelnde Jugendstil-Bewegung sind, projiziert wild strudelnde oder sich schlängelnde Farb-Eruptionen auf Schleiervorhänge.

Da hinein läßt Haugk die Zaubermädchen in einer kunstvollen Choreographie - Wagner verwendet selber das Wort - wogen, flattern und schweben. Aber sie sind keine pflanzenhaft-unschuldigen Blumenmädchen, ähnlich den fast vegetativ wirkenden Mädchenköpfen auf Blumenstengeln, wie sie zu Wagners Zeit auch Odilon Redon malte - es sind eher Kokotten aus dem Dunstkreis um Toulouse-Lautrec, angetan mit sinnlich aufreizenden Kostümen und mit wahren Ungetümen von artifiziellen Frisuren. Beim Kreuzeszeichen Parsifals verwandelt sich alles blitzartig in eine Eis- und Trümmerlandschaft, wie sie Becketts Clov aus dem Fenster seines Endspiel-Verlieses sieht.

Von geradezu abstruser Phantastik Klingsors Schloß. Hier mischt Schneider-Siemssen nach Dali-Art, also scheußlich, lächerlich und großartig zugleich, Gruselkabinett, Monstrositäten-Schau und Geisterbahn-Effekte mit Science-fiction und Metropolis-Hintergrund. Hier allerdings verliert er etwas die Kontrolle; und damit rutscht das Klingsor-Bild in eine Addition von Stilen ab, überschreitet es die Grenzen des sonst so konsequent durchgehaltenen Stils.

Ja zum "Unnatürlichen"

Haugk hält sich im ersten und dritten Akt ziemlich präzise an Wagners Vorschriften. Da er die Taste Jugendstil gedrückt hat, gibt er nicht nur seinem Bühnenbildner die Möglichkeit, auf redliche Weise wieder einen Baum oder einen Tisch auf die Bühne zu bringen, sondern kann auch die weitausholenden Bewegungen, zu denen Sänger ja neigen, mit in diesen Stil überführen. Er konnte also "Unnatürliches" tun, ohne damit übertrieben zu wirken. Im ganzen steht Haugk sein Konzept überlegen durch. Und bei den unspielbaren, da keinerlei Handlung nahelegenden Stellen, müßte der Regisseur auch die Möglichkeit haben, die Verantwortung an den Dirigenten weiterzugeben.

Leider treten zu den kaum realisierbaren inszenatorischen Problemen die nicht weniger großen Schwierigkeiten der musikalischen Wiedergabe, die in letzter Vollendung effektiv nur in Bayreuth möglich ist. Denn beim "Parsifal" ist die klangliche Wirkung mit größtem artifiziellen Raffinement genau auf die Struktur des dortigen versenkten Orchesters berechnet (ganz anders als noch im "Ring").

Nur Bayreuth garantiert den typischen "Parsifal"-Klang, das geheimnisvolle Aufsteigen des Tons aus dem Nichts, sein Verhalten und Verklingen, die Dämpfung und Transfigurierung alles Materiellen. Selbst mit einem Schalldeckel - auch er läßt sich im Nationaltheater anscheinend schwer anbringen - wäre nicht viel gewonnen. Denn in Bayreuth sitzen etwa die Posaunen weit hinten und ganz tief unten; und schon der erste Einsatz der Posaunen, Hörner und Fagotte schwebt dort wie eine leichte Klangwolke in den Raum, wogegen er im Nationaltheater massiv und irdisch wirkt.

Fast scheint es, als ob Sawallisch eine Flucht nach vorne anträte. Er versucht erst gar nicht, Bayreuth-Mystik aufkommen zu lassen, sondern musiziert herzhaft, setzt heftige Akzente und nimmt eher zügige denn langsame Tempi. Und in jedem Fall liegen ihm die Dramatik der Musik und musikalische Kontrastwirkungen näher als die raffinierten Zwischentöne und der geheimnisgeladene Untergrund der Musik. Das reicht auf die Dauer allerdings nicht, um die Spannung aufrechtzuerhalten. Er beraubt die Musik ihres eigentlichen Zaubers; die beseligende, ja narkotische Wirkung, die von ihr ausgehen kann, ist nicht Beigabe, sondern ihr Kern.

Dietrich Fischer-Dieskau als Amfortas ist der einzige unter den männlichen Sängern, bei dem Gesang, Darstellung und die verkörperte Figur sich wirklich zur Einheit binden. Jeder Ton ist bei ihm schmerzlich beseelt; die seelische wie körperliche Qual wird gleichermaßen evident.

Schrei und Sprechton

Was alles verlangt die Rolle der Kundry: die Tiefe des Alts und die Höhe des Soprans, die Kantilene, den Schrei, das Lachen, den Sprechton, die Qual der Verfluchten und die Sinnlichkeit der Verführerin. Hildegard Hillebrecht geht mit Intelligenz und großer Musikalität an diese Anforderungen heran, findet im zart Lyrischen bestrickende Töne, mutet ihrer Stimme allerdings schonungslos Dinge zu, die den Zuhörer fürchten lassen, daß hier jemand vom Kapital lebt.

In der Titelpartie James King, der die Rolle seit 1967 auch in Bayreuth singt und dessen Stimme - baritonales Timbre und doch das typisch Metallische des Heldentenors - die Partie ohne Ermüdung durchsteht. Ebenfalls von Bayreuth her bekannt und oft gerühmt Franz Crass’ altväterisch würdevoller Gurnemanz mit dem runden warmen Baßklang. Klingsor ist, wohl weil ein Kastrierter, angetan wie ein weibischer orientalischer Eunuch. Heinz Imdahl singt ihn mit robustem, energischem Ton, leider aber ohne jede schwarze Dämonie. Die Chöre (Wolfgang Baumgart) klingen ausgezeichnet.

Als sich in den von allen Mitwirkenden gemeinsam entgegengenommenen Schlußbeifall plötzlich auch starkes Buh mischte, blieb der Vorhang trotz weiter applaudierenden Publikums geschlossen.

Helmut Schmidt-Garre

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     tz, München, 17. April 1973     

Kommunion - am kalten Buffet

Bayerische Staatsoper: Richard Wagners "Parsifal" wurde total entzaubert

    

Buhs beim "Parsifal" - darf denn das sein? Wo es doch immer noch Leute gibt, die hier sogar Klatschen als Blasphemie empfinden! Regisseur Dietrich Haugk und Bühnenbildner Günther Schneider-Siemssen haben Wagners letztem Werk die pseudochristliche Weihe abgeschminkt - eine Interpretation, die vom Ansatz her fällig war. Unlogisch nach diesem weltlichen Abend, daß man sich nur einmal verbeugte, dann verschreckt hinter dem Vorhang blieb, als ob sich die Buher doch "versündigt" hätten. Unlogisch, daß die Staatsoper den "Parsifal" jeweils nur zu Ostern bringen will - in dieser Fassung, die mit Ironie nicht spart, wäre er auch im Fasching passend...

Wagner - und das hätte Generationen gläubiger Bayreuth-Pilger, die hier ihren Religions-Ersatz fanden, schön geschockt - brauchte als Anregung während der Arbeit am "Parsifal" besonders aparte Reize. Er putzte sich mit monströsen Kreationen aus rosa Seidensatin, die mit Schleifchen, Spitzen, Blümchen, Fransen und Pelzbesatz überladen waren. Unter seinem Arbeitsraum in Wahnfried schwamm das Badezimmer von ungeheuren Mengen Ambra, Iris-Milch und Rose de Bengale - die Düfte stiegen ihm beim Dichten und Komponieren in die Nase.

Diese Grundstimmung eines degenerierten "künstlichen Paradieses" beschworen Haugk und Schneider-Siemssen, schwelgten in Assoziationen von der "Belle Epoque" bis zum Jugendstil. Die Oberlicht-Rosetten des Grals-Tempels könnten ohne Schwierigkeiten in die anstehende "Traviata" übernommen werden; die Gralsritter (von Bernd Müller und Jörg Neumann mit kostbaren Kutten und goldenen Stirnbändchen ausgesprochen schwül verkitscht kostümiert) präsentieren sich als dekadente Nachkommen von Sarastros wesentlich kühler konzipierter Brüderschaft; die Blumenmädchen stammen aus Makart-Salons; und in der Karfreitags-Aue fehlen Gurnemanz nur einige Lämmlein - dann wäre das entzückende Heiligen-Fleißbildchen komplett.

Ein "Parsifal" mit historischem background also, mit dem ganzen Drumherum der Entstehung, mit dem Mief und der verquasten Philosophie. Ein "Parsifal", dessen gequirlte Schwülstigkeit leichte Übelkeit verursacht.

Das Resultat dieser Entlarvung: Wagner eins ausgewischt, sein Werk dabei aber unheimlich geschwächt. Was Wagner empfand, interessiert Forscher, aber nicht den Zuschauer einer Aufführung. Haugk, der eminent kluge Mann, ignorierte unbegreiflicherweise die Eigengesetzlichkeit des Kunstwerks, vergab auch kläglich szenische Chancen.

Fade Süße

An die magische Wirkung, die Wieland Wagner den Grals-Szenen gab, an die unendliche, entrückte Weite des Bühnenraums muß seit München mit äußerster Trauer gedacht werden. Hier marschieren die Ritter in gedrängter Enge an der Rampe vorbei, hier wurde das konzentrierte Rund der Kultstätte einer geknickten Balustrade geopfert - Haugks Gralsritter nehmen ihre Kommunion am kalten Buffet. Mit solcher totalen Entzauberung ging auch der Zauber des "Parsifal" verloren, der in Bayreuth auch kritisch Eingestellte bannte.

Die fade Süßlichkeit, die sich auf der Bühne ausbreitet, steht noch dazu in krassem Kontrast zu Wolfgang Sawallischs musikalischer Deutung. Der Orchestergraben im Nationaltheater, extrem offen, läßt die "mystischen" Effekte des verdeckten Bayreuther Orchesters nicht zu. Sawallisch versuchte solche Tricks auch gar nicht, frischte kräftig auf, setzte dramatische Akzente und gab der endlosen Partitur nie nachlassende Spannung. Haugk will uns zeigen, wie matsch Wagner war - Sawallisch strafte ihn Lügen.

Amoklauf

Auch die Personenführung, die Haugk sonst souverän beherrscht, ließ Wünsche offen. An einem Zuviel litten Dietrich Fischer-Dieskau als grandioser Amfortas (der schwerkranke König mußte viel zu viel Amok laufen) und James King als Parsifal (was er stimmlich etwas zu wenig differenzierte, löste er darstellerisch hinreißend, aber bisweilen arg übergagt). Herrlich singend Franz Crass als Gurnemanz - sein Mangel an Persönlichkeit jedoch macht die Mammutrolle mühevoll.

Hildegard Hillebrecht sang erstmals die Kundry: Soll man ihr, der Bayerischen Staatsoper oder den Zuhörern das Bedauern aussprechen? Auch mit spielerischer Intensität läßt sich nicht wegmogeln, daß hier eine stimmtechnische Katastrophe stattfand. Ein mehrmonatiger Erholungs-Urlaub wäre das einzige Rezept zur Rettung dieses Kehlkopfs!

Maurus Pacher

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     Stuttgarter Zeitung, 26. April 1973     

Parsifal im Jugendstilwald

Eine Neuinszenierung im Münchner Nationaltheater

    

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Daß auch bei Wagner wieder eine "greifbare" Bühnenwirklichkeit angestrebt wird, läßt sich als Trend ganz deutlich erkennen und dürfte sicher auch in nächster Zukunft Thema wichtiger Wagner-Inszenierungen sein. Daß eine solche Konkretisierung des Handlungsgeschehens keinen neuen Naturalismus mit sich bringen, ja nicht einmal ungebrochenen Realismus zeitigen muß, machte schon das ironisch vielfältig gebrochene Leipziger "Rheingold" deutlich. Jüngst führte das aber auch der neue Münchner "Parsifal" vor, über den hier nachtragend zu berichten ist, und zwar in Form eines gewichtigen Postscriptums zu unseren Wagner-Berichten der vergangenen Tage und Wochen. Denn der Regisseur Dietrich Haugk und der Bühbenbildner Günther Schneider-Siemssen zielen ebenso auf eine neue Gegenständlichkeit ab. (Man glaubt es nicht, daß es der gleiche Schneider-Siemssen ist, der auch Karajans Salzburger Osterfestspiel-"Ring" ausgestattet hat.)

Haugk und Schneider-Siemssen entgehen allzu platter Wirklichkeit, indem sie Wald und Gralsburg als eine Art Jugendstildom auf die Bühne bauen: deutliche, aber eben doch stilisierte Bäume und Säulen, die trotz ihren jugendstiligen Ornamenten nicht

verspielt wirken, sondern wirkliche Atmosphäre spenden. Alles strebt kuppelartig nach oben - man spürt förmlich Schneider-Siemssens Aufatmen, nun endlich mal nicht für die tödliche Breitwand der großen Salzburger Festspielhausbühne denken und entwerfen zu müssen. Es wird sehr geschickt mit Licht und lianenhaften Metamorphosen gearbeitet. Nur das Klingsor-Bild ist allzu bunt und verschnörkelt geraten; die Blumenmädchen vollführen übrigens kein Ballett, sondern geben sich als dreist herausgeputzte Blumenkinder des Hippiezeitalters unchoreographiert dem Geschäft des Verführens hin. Daß das Kuppelgewölbe des Rittersaales eine Eisenkonstruktion ist, die Rudolf Heinrichs Leipziger Walhall ähnelt, zeigt nur, wie sehr im Moment Wagner-Inszenierungen versuchen, die Entstehungszeit der Werke konkret in die mythologischen Handlungen mit einzubeziehen.

Stilistisch noch geschlossener könnte die Münchner "Parsifal"-Szene wirken, wenn Schneider-Siemssen konsequenter auf symbolträchtige Projektionen verzichtet hätte. Und Haugks Regie wäre noch eindrucksvoller, ließe sie nicht hin und wieder Ungereimtheiten zu, die man Wieland Wagner auf seiner insgesamt abstrahierten (und im Detail unlogischen) Bühne verzeihen konnte, die hier aber stören und sogar komisch wirken wie etwa Kundrys Fußwaschung und -salbung an Parsifal: da der seine schwarzglänzenden Schaftstiefel anbehält, wirkt die Szene wie liebevoll-eifriges Schuheputzen. Doch das sind kleine Vergehen in einer insgesamt ungemein eindrucksvollen, das Menschliche am Weihfestspiel hervorkehrenden Inszenierung.

Es ist einfach wohltuend "richtig", wie naiv Parsifal bei der Gralsenthüllung alles beobachtet, wie linkisch er das Armeheben und Kniebeugen der Ritter nachmacht. Die Gefühlskälte der Bruderschaft, die den hilflosen Amfortas nur noch als Objekt für ihren Kult ausnutzt, ist scharf herausgearbeitet. Wenn Gurnemanz am Ende des ersten Akts Parsifal hinausgestoßen hat und von ferne eine Altstimme hörbar wird "Durch Mitleid wissend der reine Tor" - blickt der alte Gralshüter Parsifal nach, zur plötzlichen Einsicht gekommen, daß der wohl dieser reine Tor sein könne. Von solchen beziehungsreichen Gesten, solch erhellenden regielichen Details ist Haugks Inszenierung randvoll. Der "Parsifal" ist plötzlich kein dunkles, zähes fünfstündiges Mysterium mehr, sondern ein spannendes, beinahe kurzweiliges Musikdrama.

Für dessen ausgewogene, gewissenhafte musikalische Interpretation sorgte mit souveränem Blick aufs Ganze Wolfgang Sawallisch. Heute nicht zu übertreffende Rollenverkörperungen boten Franz Crass als Gurnemanz und Dietrich Fischer-Dieskau als Amfortas, der erste mit menschlich erwärmender Herzhaftigkeit und einer makellos schönen, ausdrucksvollen Stimme, der zweite mit einem Höchstmaß an sängerischer und darstellerischer Emotionskraft. Intelligenter läßt sich wohl auch der Parsifal nicht singen und spielen als James King es tut. Markig, aber ohne wirkliche Ausstrahlung tönte Heinz Imdahl den märchenhaft-zauberischen Klingsor. Hildegard Hillebrecht schlließlich überzeugte zwar mit der Fülle ihres wandlungsreichen Soprans und gab damit etwa der Herzeleide-Erzählung ein hohes Maß vokaler Sensibilität, aber sie bleibt der Kundry schließlich doch die dämonische Dimension schuldig, die sie stimmlich-mimisch geschickt "spielt", aber nicht wirklich urhaft aus sich herausschleudert (wie das die Mödl konnte). Aber besser, man bleibt sich selber treu wie die Hillebrecht, als man markiert mit lautem Geschrei, was man nicht hat, wie Gwyneth Jones in Bayreuth es tut.

Das Bayerische Staatsorchester und der Bayerische Staatsopernchor (Wolfgang Baumgart) erreichen übrigens unter Sawallisch nicht ganz das Niveau ihrer Stuttgarter Kollegen, wenn diese unter Kleiber oder Varviso spielen und singen.

Wolfram Schwinger

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     Bremer Nachrichten, 18. April 1973     

Zu Dietrich Haugks Inszenierung des "Parsifal"

Nichts mehr von Mysterium

    

Wieland Wagner hatte das 19. Jahrhundert von der Bühne gefegt, seine Bilder- und Vorstellungswelt in den Mülleimer geleert. Wenige Jahre nach seinem Tode haben die Szeniker zwar Wagners eigentliche Zeit noch nicht wieder entdeckt, immerhin aber schon den Jugendstil, jene Zeit des "Fin de siècle", in der die Zukunftssaat der Wagnerschen Musik am stärksten aufging. Dietrich Haugk und Günther Schneider-Siemssen unternahmen nun das regressive Experiment, "Parsifal" in jener Stilsphäre anzusiedeln, die man bisher vielleicht in Salome verkörpert sah, kaum aber in ihrer ebenfalls an "christlichen" Helden scheiternden Verführungskollegin Kundry.

"Klingsors Zaubergarten ist gefunden", notierte Richard Wagner, als er den Giardino Rufolo mit den normannisch-arabischen Palastruinen in Ravello oberhalb Amalfi durchwanderte. Hat er wirklich "jugendstilig" gedacht, wie die neue Münchener Inszenierung darzulegen versucht? So begreiflich nach der Neubayreuther Askese die Lust am poetisch-konkreten Bild sein mag - warum gleich eine sklavische Umsetzung von Vorstellungen der Wiener Sezession, Kuppeln (in Montsalvat gleich zwei, was das Gewicht ins Lächerliche zerrt) à la Otto Wagner, spielerisch durchbrochene Säulen à la Gaudi, Bäume, wie sie Otto Eckmann zeichnete, weibliche Akte, mit denen Fidus einst Bücher illustrierte: Was haben sie mit der vergeistigten, klanglich eher sparsamen als blühenden "Parsifal"-Partitur zu schaffen? Warum nicht einmal ein Versuch, das Werk, wie es Wagner wollte, auf einem konkreten spannungsvollen Boden anzusiedeln, als Gegensatz zwischen christlicher und arabischer Tradition? Die Szenerie ist geschmäcklerisch und nicht einmal in sich gekonnt. In dieser wenig förderlichen Szenerie führt Dietrich Haugk eine - bis auf anfechtbare Details - fabelhaft intelligente Regie. Er holt Parsifal aus dem Wallfahrtsort einer Ersatzreligion zurück auf die Bühne, er spielt pralles Theater. Mit unglaublichem Elan bricht er das Wieland-Wagner-Tabu, nichts mehr von Bühnenweihfestspiel, nichts mehr von Mysterium. Die Enthüllung des heiligen Grals macht ihm offensichtlich weniger Kopfzerbrechen als dem siechen Amfortas. Er inszeniert eine Art Krimi "Bringt Parsifal den Speer zurück?", er macht den Entwicklungsroman begreifbar, präzisiert die Menschen, ihre Charaktere, ihre Beziehungen, denaturiert sie nicht zu Ideenträgern.

Parsifal ist der tumbe Tor, der neugierig wie ein Neckermanntourist in den Tempelbezirk eindringt, das Ritual nicht versteht, aber aus Höflichkeit eine Schrecksekunde den anderen alles nachmacht; seine Tugend wird durch barbusige Schönheiten stark beansprucht im gleißend zauberischen Garten Klingsors, die Gralsritter sind des ewigen Gejammers ihres sündigen Königs überdrüssig, sie sind ein zuchtloser Haufen, der sich nicht ohne Mühe Parsifals neuer Ordnung beugt, die er mit einer demonstrativen Geste des Mitleidens beginnt: Er stellt den Gral auf das Postament, der Vorhang senkt sich über einem König, der die entseelte Kundry im Arme hält: Pietà, einmal umgekehrt. Dieser theatralisch faszinierenden Konzeption fällt alle Doppelbödigkeit zum Opfer, jedes Geheimnis: Altwagnerianer werden sich mit Grausen von dieser "Oper" wenden.

Zuweilen gibt es Dinge, daß man seinen Augen nicht traut: um Amfortas scharwenzelt ein Page, ein stummes Ballettgirl mit köstlich langen Beinen als eine Art Lustknabe; aus dem Grabe, das zwei schauerliche Engel flankieren, taucht wie eine Wasserleiche Titurel auf; Klingsor, dessen Kostüm Gustav Klimt für einen Nestroyzauberer entworfen haben könnte, mixt einen LSD-Trank in einem Anti-Gral, den Kundry dann Parsifal als Drink offeriert, worauf der Becher leer und sinnlos inmitten des Geschehens steht ... Haugk will alles inszenieren, auch was er gar nicht inszenieren müßte. Trotzdem: eine großartige Alternative zu Wieland Wagners Geniewurf, fast immer genau überlegt, nicht immer überzeugend, aber immer mutig, unabhängig, originell, nahe am Werk. Und nahe dem Licht, Gesichter sind endlich nicht mehr weiße Flecken, sondern Ort für psychologisch-dramatischen Ausdruck.

Ein fast ideales Ensemble: Franz Crass ohne frömmelnde Sentimentalität ein männlich-eindringlicher Gurnemanz, James King ein idealer lyrisch-heldischer Parsifal, Dietrich Fischer-Dieskau mit geistiger Souveränität, ungeheurem Fluidum als Amfortas, daneben Heinz Imdahl als zweiter Amfortas, besetzungstechnisch als Klingsor angesetzt; die Höllenrose Kundry war Hildegard Hillebrecht, mehr Rose als Hölle, sehr lyrisch, fern der Dämonie entsprechend dem Regiekonzept. Wolfgang Sawallisch erwies sich als kongenialer Interpret für diese weihrauchferne Interpretation, er nahm das Werk mit zügigen, doch nicht oberflächlichen Zeitmaßen als wirkungsvolle Opernmusik.

Klaus Adam

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     Donau-Kurier, Ingolstadt, 17. April 1973     

"Parsifal" im Jugendstil

Münchener Neuinszenierung von Dietrich Haugk im Nationaltheater

    

16 Jahre lang hatten Münchens Wagnerianer auf einen neuen "Parsifal" warten müssen und wurden nun bei der Neuinszenierung mit einem Experiment konfrontiert. Denn die Regie von Dietrich Haugk hatte im Verein mit dem Bühnenbild von Günther Schneider-Siemssen sowie den Kostümen von Bernd Müller und Jörg Neumann Wagners Bühnenweihefestspiel in Jugendstilgartengefilden angesiedelt - ein Beginnen, für das man wohl nur über intellektuelle Umwege gelangen kann. Damit verschoben sich das äußere wie innere Gewicht des Werkes: Aus dem Mysterium wurde eine Antithese zu Wieland Wagners Inszenierungsspiel, mehr oder minder ein Märchen, überdies ein sehr buntes. Das Ritual, das Wagner für die Gralsszenen geschaffen hatte, wurde von Haugk völlig beiseitegeschoben und durch eigene Einfälle ersetzt, so etwa wenn Parsifal sich am Schluß nach der Ausspendung des Grals lediglich mit der entseelten Kundry beschäftigt, während diese bei Wagner einen stillen, ergreifenderen Tod stirbt. Dergestalt versuchte der Regisseur, den Darsteller nach unaufhörlicher Aktion drängend, den Gestalten ein neues Gesicht zu verleihen, bisher unentdeckte Geheimnisse zu ergründen. Imponierend war die unerbittliche Konsequenz, mit welcher Haugk dies unternahm. Unter solchen Umständen mußte sich der befremdete Zuschauer als Zuhörer mehr an den musikalischen Part halten, den der Dirigent Wolfgang Sawallisch in tieflotender Weise auszulegen vermochte und damit die Grundsubstanz des Werkes rettete.

James King stellte einen wahrhaft jugendlichen, im dritten Aufzug männlich gereiften Parsifal auf die Bühne, dem die Gestaltung der Partie nicht nur eine gesangliche Aufgabe, vielmehr ein inneres Erleben bedeutet. Hätte davon doch auch der wundervoll singende, jedoch etwas unbeteiligt wirkende Gurnemanz (Franz Crass) mehr spüren lassen! Durch leidenschaftliche Hingabe an ihre stimmliche wie darstellerische Aufgabe riß Hildegard Hillebrecht als Kundry hin. Dietrich Fischer-Dieskau sah sich als Amfortas durch Regiedruck gezwungen, aus dem leidenden Gralskönig einen in unentwegter Bewegung befindlichen, fallsüchtigen Hysteriker zu machen. Dem Klingsor Heinz Imdahls mangelte es an dämonischen Akzenten.

Das Publikum zollte dem Dirigenten und den Sängern enthusiastischen Beifall; als sich Regisseur und Bühnenbildner an der Rampe zeigten, mußten sie einige "Buhs" einstecken.

Wilhelm Zentner

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     Südwest-Presse, Ulm, 21. April 1973     

Die heile Gralswelt wird zertrümmert

Richtungsweisender "Parsifal" durch Dietrich Haugk in München

      

Das Losungswort war längst ausgegeben, bevor der Vorhang hochging: "Parsifal im Jugendstil". Und am Tag vor der Premiere im Münchner Nationaltheater waren in den Zeitungen Fotos von einem Gralstempel zu sehen, dessen Kuppel eher ein Gewächshaus denn eine gotische Meditationshalle überwölbte. Wagnerianer witterten Tempelschändung - wie einst vor 22 Jahren, als Wieland Wagner in Bayreuth mit dem "Parsifal" seine epochemachende Wagner-Abstraktion einläutete. "Das ist nicht mehr der Gral. Das ist Blasphemie!", entrüstete sich ein älterer Herr nach dem ersten Akt.

In der Tat ist diese Münchner Aufführung mehr als eine Jugendstilfrage. Die geheime Losung lautete anders als die offizielle. Nämlich: Weg von Wieland. Schluß mit der Totalverdunkelung. Schluß mit der Gebärdenkargheit. Statt dessen: Licht in den Tempel, Verzückung, Überschwang, aber auch: bornierte Haltung, ausgehöhltes Ritual. Dietrich Haugk hat diesen Wagner inszeniert, seinen ersten Wagner. Es ist eine ehrgeizige, problematische, befremdliche, diskussionswürdige Aufführung, genau wie der vorjährige Bayreuther "Tannhäuser" Götz Friedrichs. Hier arbeitet eine neue Generation an Wagner, und das an Wieland orientierte Publikum hat umzudenken.

Haugks Denkansatz mußte die heile Gralswelt zertrümmern. Zu der "schwarzen Magie" Klingsors kommt bei ihm nunmehr die "weiße Magie" Titurels. Beide Figuren sind Exponenten eines Prinzips, das seinen Gefangenen keine Gnade gewährt. Aus diesem Grund ist auch der vom Komponisten gewollte Gegensatz von "arabischem" und "gotischem" Stil aufgehoben. Zaubergarten und Monsalvat, Unzucht- und Zuchtanstalt, sind hier nichts als variierte Schaupodien ein und derselben Ideologie, die sich willenlose Sklaven schafft. Amfortas zerbricht daran, Parsifal letzten Endes ebenso: der "reine Tor" verläßt, kaum daß er als Erlöser auftrat, den Weihaltar, und wendet sich schmerzerfüllt der Leiche Kundrys zu. Wer den "Parsifal" christlich-mythisch deutet, hat hier nun tatsächlich ein Beispiel für "Blasphemie", und die "Buh"-Rufe für Haugk sind wohl auch in diesem Sinn zu verstehen. Indessen: der Beifall war stärker.

Kundrys Kuß in Bonbonfarben

Eine Abhandlung für sich würde das Bühnenbild verdienen. Die geriffelten Baumstämme des Gralswaldes entsprechen standortgenau den Säulen des Tempels. Wagners Vision von der "Verwandlung" ist mithin wörtlich genommen. Das Ganze ist perspektivisch ins Schräge verzerrt, wie durch die Gummilinse aufgenommen. Die Gesetze der Natur und der Baustatik erscheinen aufgehoben. Und über allem wuchert die Schlingpflanzenornamentik eines urbanen Kunstbegriffs, der die direkte Beziehung zur Natur verloren hat. Zauberer Klingsor thront in einer engen, von den Armen einer Krake und dem Silberleib einer Mädchenstatue umspannten Muschel: samt- und plunderumhüllt wie ein Kasperlkönig, ein gewissermaßen von Klimt zitierter Nestroy-Larifari. Blumengarten und Kundrys Kuß sind in Bonbonfarben getaucht, die Karfreitagsaue beschwört Buchschmucksymbole. Weder die Liebe noch die Aue lachen hier, sondern blanke Ironie.

Die Tragödie verschärft

Daß Haugk in solchem Rahmen durchaus "ernstes", bluternstes Theater spielen läßt, verschärft die Tragödie der beiden Helden, denen ein himmelblau gewandeter disziplinloser Ritterhaufen in grausamer Manier die "Verrichtung des Amtes" abtrotzt. Einen der großartigsten Momente dieses Abends hat Amfortas, wenn er in seinen todessüchtigen Rufen um Erbarmen sich von seinen Genossen abwendet und, mit dem Rücken zu ihnen, seine Bitte in das riesige Kuppelrund hinaufschreit.

Das sind Augenblicke eines souveränen Regisseurs - und eines überragenden Sängerschauspielers vom Format Dietrich Fischer-Dieskaus, der die Amfortas-Ausbrüche wie ein Bariton-Tristan ausspielt. Als jugendlich wirkender, aber ein wenig phlegmatischer Gurnemanz läßt Franz Crass herrliche Baßtöne hören, ohne für die entscheidenden Passagen am Schluß der Partie noch Kraft und Stimmfülle aufzubringen; er ist, leider, kein "Langstreckenbassist" vom Schlage Webers, Greindls oder Fricks. Für Hildegard Hillebrecht ist die Kundry ein achtunggebietendes Rollendebüt, eine Leistung, die durch Leidenschaft wettmacht, was sie an betörendem Sirenengesang schuldig bleibt.

Ein Wagnertenor

James King gibt den Parsifal. Es ist müßig, große Vorbilder zu beschwören. Dieser zur Zeit singuläre Wagnertenor setzt die Maßstäbe selbst. Heldentenorale Strahlkraft verbindet sich mit Belcanto-Eleganz: ein Sänger, wie ihn sich Richard Wagner erträumt haben mag. Jedoch auch als Darsteller wirkt King merklich gelockert, überzeugender als früher, da ihm die Ungebärdigkeit und das naive Erstaunen des Naturburschen Parsifal nicht recht gelingen wollten. King wird von Haugk in jeder Spielphase gefordert und wächst dadurch über sich selbst hinaus.

Der überflüssige Kelch

Daß Haugk im Eifer des ersten Wagnergefechts auch Ungereimtheiten darbietet, soll nicht verschwiegen werden. Das Überflüssigste daran ist ein Anti-Gralskelch, der im Zaubergarten wie eine vergessene Blumenvase postiert ist, das Lächerlichste die behäbige Altherrengeste, mit der Klingsor den "heiligen Speer" loszuwerden trachtet, statt ihn gegen Parsifal zu schleudern. Da ist dem alten Zauberer Wagner doch schon bedeutend Magischeres vorgeschwebt. Und Haugk, der mit diesem Abend eine große Diskussion in Gang setzen dürfte, hätte es nicht nötig, aus großen Einfällen Wagners Verlegenheitstheater zu machen, nur weil ihm ein Symbol (der Anti-Kelch) zu fehlen und ein anderes Symbol (der Speertausch) nicht in den Kram zu passen scheint!

Monsalvat wird besichtigt

Am Pult: Wolfgang Sawallisch. Er bändigt das Pathos zugunsten des dramatischen Flusses. Monsalvat wird nicht "gebaut", sondern (wie ja zunächst auch von Parsifal) "besichtigt". Der Klang des meist sehr präzisen Orchesters wirkt aufgehellt, hin und wieder fast überbelichtet. Den stärksten musikalischen Eindruck hinterläßt der (übrigens leicht gekürzte) zweite Akt: ein Bekenntnis zu Wagners polyphonem Melos, so ungebrochen vorgetragen, daß man aus der als Alterswerk eingestuften Partitur plötzlich keinerlei Reflexion mehr, sondern eruptive Erfindung herauszuhören glaubt.

Mit diesem Abend hat München vorweggenommen, was Bayreuth für nächstes Jahr plant: die Umorientierung des Wagnerstils. Wolfgang Wagner wird sich schwer tun. "Neubayreuth" ist ruhmreiche Vergangenheit.

Gerhard Pörtl

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     Bayerische Staatszeitung und Bayerischer Staatsanzeiger,   
    19. April 1973
     

Münchner "Parsifal" in neuer Sicht

Die Inszenierung von Dietrich Haugk im Nationaltheater

    

Zehn Jahre liegen zwischen der letzten Münchner Parsifal-Aufführung und der jetzt realisierten Neu-Wiedergabe. Unterschätzung des Rangs von Richard Wagners letztem Werk war wohl nicht der Grund des Hinauszögerns einer neuen Einstudierung, eher das Bewußtsein der Ohnmacht: Der gewiß nicht unangreifbaren, aber doch sehr sinngemäßen und aussagestarken Bayreuther Inszenierung Wielands etwas künstlerisch Ebenbürtiges gegenüberzustellen, ohne in den Einflußsog dieses starken Vorbilds zu geraten.

Begreiflich, daß Günther Rennert geduldig zuwartete, bis er mit Dietrich Haugk einen jüngeren Regisseur für diese Aufgabe gewinnen konnte: einen von Wagnerinterpretations-Traditionen jeder Art unbeschwerten, in eigenwilligem Vertrauen auf sein persönliches, phantasievolles Parsifal-Verständnis um die Lösung der Inszenierungsporobleme und eine Neudeutung des tiefsinnigen Mysterienspiels bemühten Künstler.

Als Vertreter einer realistisch denkenden Generation, für die Begriffe wie Erlösung, Sünde, Buße, Heiland, Gnade und Glaube weithin zu bloßen Worten ohne Erlebnis- und Erfahrungsinhalt geworden sind, hatte es Haugk sicher schwer, zur Parsifal-Dichtung den Zugang zu finden, der ihm eine glaubwürdige Verwirklichung der szenischen Geschehnisse gestattete. Seiner Absage an die Esoterik eines "Bühnenweihfestspiels" entsprach nun die Hinwendung zu einer (cum grano salis) mehr märchenhaften Gestaltung der Handlung und zu einer von sakraler Starrheit und mystisch-pietistischer Feierlichkeit losgelösten Darstellung.

Demgemäß bewegen sich die Figuren freier, unpathetischer, "menschlicher" als in früheren Darstellungen des Werks: bezeichnend dafür das vielfältige Spiel der Kundry im ersten Akt und die - allerdings sehr übersteigerte - Gestik und Mimik des Amfortas während seines Klagegesangs in der ersten Gralstempelszene. Der Karfreitagsmorgen-Szene des dritten Aufzugs war allerdings mit dem Bemühen um darstellerische Belebung innerer Vorgänge nichts abzugewinnen; sie geriet auch merkwürdig matt.

Zu einem Höhepunkt seiner Inszenierung aber wußte Haugk den zweiten Akt, vor allem die Szenen der Blumenmädchen und - noch mehr - die zu außerordentlicher Intensität emporgetriebene zentrale Szene der Begegnung zwischen Parsifal und Kundry zu machen. In der farblich opulenten Ausstattung von Klingsors Zauberreich hatte auch die bühnenbildnerische Kunst Günther Schneider-Siemssens ihre bezwingendsten Momente; wie hier prägten auch bei der Gestaltung der Wald- und Tempelszenen Formelemente des Jugendstils, freilich nicht immer so eindrucksvoll, das optische Erscheinungsbild von Landschaft, Innenraum und Kostümen, ganz im Sinne der zu kunstmärchenhafter Wirkung tendierenden Konzeption Dietrich Haugks.

Am merkwürdigsten wirkt dabei wohl der architektonisch abstruse Bau des Gralstempels mit seiner ornamentierten Milchglaskuppel. Seltsam berührte allerdings auch mancher Inszenierungseinfall: die dienstbaren Geister des Klingsor, das Auftreten Kundrys als Verführerin mit einer dem Gral ähnlichen Trinkschale in den Händen, die elegante Gewandung der Büßerin Kundry im dritten Akt und vor allem die (mit Wagners Absichten nicht zu vereinbarende) Darstellung der Schlußszene, in der sich Parsifal der sterbenden Kundry zuwendet und sie auf seinen Schoß bettet.

Näher an Wesen und Sinn des Werkes als diese trotz mancher Verfremdungen sehr interessante Neuinszenierung blieb die Wiedergabe der Musik. In Wolfgang Sawallischs ergreifender, von mächtiger Innenspannung erfüllter Interpretation erschloß sich dem Hörer gleicherweise die Ausdruckstiefe und Wahrheit der Amfortas-Passionsmusik, die ernste Würde der Grals-Klänge, die dämonische Dramatik der Klingsorszene, Wohllaut und Schönheit des Blumenmädchenzaubers sowie die orchesterklangliche Sprechkraft des einzigartigen Werks in faszinierend vollkommener Weise.

In bewundernswertem Einklang mit den Intentionen des Dirigenten standen die Leistungen der Solisten: James King gab der Partie des Parsifals nicht nur gesanglich hochbedeutendes Format, sondern erreichte auch in Spiel und Ausdruck eine eindringliche und glaubwürdige Erfüllung seiner Aufgabe. Dietrich Fischer-Dieskau lieh dem Amfortas die expressive Kraft seiner von innerem Miterleben geprägten Kunst; Hildegard Hillebrecht fesselte (trotz einiger überanstrengter Töne) als Kundry durch die Macht der Ausstrahlung ihrer Erscheinung, ihrer engagierten Darstellung und ihres reich differenzierten Gesangs. Schlichte Würde des Spiels und edle Klarheit der Stimmführung kennzeichneten den Gurnemanz von Franz Crass, deklamatorische Prägnanz und helle Tonfülle die Leistung Heinz Imdahls als Klingsor. Bemerkenswert auch die Stimmen der Blumenmädchen und der kraftvolle, reine Klang der Chorsätze.

Lebhafte Ovationen für Sawallisch und das Orchester vor dem zweiten und dritten Aufzug. Der Schlußbeifall (und das wahrscheinlich den Szenikern zugedachte Buh-Rufen) kam nicht recht zur Entfaltung, weil der Vorhang nach dem ersten, einmaligen Erscheinen der Mitwirkenden unverständlicherweise geschlossen blieb.

Anton Würz

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     Wiesbadener Kurier, 18. April 1973     

München

Ein Jugendstil-Parsifal mit arabesker Gebärde

Dietrich Haugk und Günther Schneider-Siemssen sorgen für Aufsehen

    

Richard Wagners Bühnenweihfestspiel "Parsifal", einst vom Komponisten nur Bayreuth vorbehalten, erfreut sich derzeit großer Beliebtheit an westdeutschen Bühnen. Wiesbaden und Frankfurt brachten fast zur gleichen Zeit Neuinszenierungen heraus, und nun hat auch München seine zehnjährige Abstinenz beendet und Wagners letztes musikdramatisches Werk auf die Bühne des Nationaltheaters gebracht. Die Kartennachfrage war sensationell.

Münchens "Parsifal" hat den pikanten Reiz, daß sein Regisseur - Dietrich Haugk -, bisher erfolgreich als Schauspiel-, Film- und Musicalregisseur hervorgetreten, nach seinen eigenen Worten das Werk bis dahin nie gesehen hat, ja, Wagner in Bausch und Bogen ablehnte und darum natürlich auch nie inszenierte. Haugk verriet aber auch, daß er während der Arbeit zum Parsifalianer geworden sei. Ein zumindest unkonventionelles Wagner-Debüt. Es mochte also nicht weiter überraschen, daß Haugks Inszenierung sich an keinerlei Vorbildern orientierte, weder an Altbayreuths umständlicher Feierlichkeit noch an Wieland Wagners neubayreuther abstrakter, lichtferner Mystifizierung. Dietrich Haugk präsentierte einen "Parsifal" im Jugendstil.

Der ornamentalen Vehemenz der Bühnenbilder des Günther Schneider-Siemssen entsprachen die raffiniert farbig abgestuften üppigen Kostüme Bernd Müllers und Jörg Neumanns, fügten sich natur- und stilgemäß die Jugendstilbewegtheit, die arabeskenhafte Gebärde, der Drang zum schönen Bild, zur Pose in der Sänger-Schauspielerführung. Amfortas ist hier der Held der Oper. Und eine Oper wird hier gegeben, kein Bühnenweihfestspiel. Dietrich Fischer-Dieskau darf den leidenden todessüchtigen Amfortas ekstatisch ausspielen, kontrastreich umrahmt am Ende des ersten Aufzuges von zeremoniös schreitenden Rittern, die sich dekorativ zum Liebesmahl in den Armen liegen.

Klingsor ist wie ein Zauberer aus dem Märchen anzusehen, mit einschlägigen Attributen umgeben, aber natürlich eingerahmt vom schwungvollen bezugsreichen Jugendstil-Ornament. Die Blumenmädchenwiese ist wie der Inbegriff raffiniert-giftig-fahler Dekadenz. Gierig schlängeln sich drohende Blütenköpfe auf hohen Stengeln, und die Blumenmädchen sind junge lüsterne Damen in wehenden Kleidern aus Makarts Salon.

Vermutlich, um Parsifal im dritten Aufzug die fatale Christus-Assoziation zu nehmen, ließ Haugk den durch Mitleid Wissenden nicht im langen Rock zur Gralsburg heimkehren, sondern im phantasiereichen, eleganten, schmucküberladenen Ritterkostüm mit Kniehosen und Stiefeln, was allerdings aus der Fußwaschung und -salbung unfreiwillig komisch ein Stiefelputzen machte. Sehr dekorativ gab sich die Ritter-Revolution um die lebensnotwendige Gralsenthüllung, die schließlich bei strahlender Helle stattfand. Haugks theatralische Sendung riß ihn leider zuletzt bis an die Grenze des Kitsches, als er Wagners Schlußakkorde mit einem sentimentalen Bühnentableau begleitete: Parsifal hält, den Blick gen Himmel gerichtet, die tote Kundry in den Armen, während Gurnemanz und Amfortas stilvoll die Flankenstellung bilden.

Zu bewundern ist an Haugks Inszenierung der konsequent durchgehaltene hochstilisierte Manierismus. Er hatte eine Bayreuth-erprobte Wagnersänger-Garde zur Verfügung: James King als Parsifal, Fischer-Dieskau in der Partie des Amfortas und der prachtvolle Baß des Franz Crass für den Gurnemanz. Hildegard Hillebrecht gab ihr Debüt als Kundry. Merkwürdigerweise wirkte sie verführerischer im ausgefransten Gewand der wilden Reiterin als im roten Galakleid der Klingsor-hörigen Sünderin. Dem berühmten Schrei ihrer Partitur stand sie noch etwas fremd gegenüber. Sie schien noch auf dem Wege zur Kundry zu sein. Klingsor, in Haugks märchenhafter Zauberer-Vorstellung, war bei Heinz Imdahls ungewöhnlich hell timbriertem Baß gut aufgehoben. Den Titurel sang Karl Helm.

Wolfgang Sawallisch am Pult nahm die Tempi breit, ausgeschwungen, zart abgestuft in den Lyrismen der Naturverklärung, auch im Crescendo nie gewaltsam. Das Staatsopernorchester erspielte unter seiner Leitung einen "Parsifal", der das Publikum restlos überzeugte und schon vor Beginn des 2. und 3. Aufzuges zu provokatorischen Jubelstürmen hinriß. In den Schlußbeifall, dem sich Sänger, Dirigent, Regisseur und Bühnenbildner miteinander und nur ein einziges Mal stellten, mischten sich heftige Buh-Rufe, die offensichtlich dem Regisseur galten. Haugks unkonventioneller, manchen Zuschauer irritierender Opern-Versuch am Bühnenweihfestspiel war in jedem Fall ein interessanter und intelligenter Beitrag, im "Parsifal" neue Bezüglichkeiten aufzudecken.

Hans Lehmann

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     Die Tat, Zürich, 28. April 1973     

Parsifal im Jugendstil

Neuinszenierung an der Bayerischen Staatsoper München

   

Salome und Kundry ist das Schicksal gemein, daß ihre Verführungskünste an "christlichen Helden" abprallen. Sind diese beiden Fleurs du Mal auch Schwestern als Geschöpfe des Jugendstils? Wie Barlog/Rose zu Weihnachten in Wien Straussens wilde Tochter im Jugendstil präsentierten, so lassen nun zu Ostern in München Haugk/Schneider-Siemssen den Gral in einem Tempel erglühen, der vom heiligen Haine aus gesehen an Gaudis "Sagrada Familia" erinnert, und dessen Innenarchitektur Elemente von Otto Wagner mit Neugotik, einen Hauch von Linderhof mit sensuellen Schlängellinien und welligen Pflanzenornamenten verbindet, haben sich doch die Bäume in Säulen verwandelt und tragen eine rosettenartige Kuppel. Vielmehr gleich zwei, was den zur Seite gerückten Gral schier zum Becher degradiert. Die Lust am poetisch konkreten Bild ist nach der Neubayreuther Askese wieder erwacht, aus dem Niemandsland der Finsternis und Scheinwerferkegel kehren die Regisseure der Nach-Wieland-Zeit in die lichte Gegenständlichkeit zurück. Und gedenkt man der heutigen Adorno-Verehrung, so ist es gar zum Staunen, daß erst jetzt ein Parsifal im Jugendstil den Passionsweg der Erkenntnis wandelt. Denn schon 1956 hat der vielzitierte Meister Wagners opus ultimum als Werk des Jugendstils deklariert.

So durchdacht und geschlossen die Interpretation Haugk/Schneider-Siemssen in diesem Stile ist, so kommen einem doch Zweifel. Mag die Aura des reinen Toren zur "Jugend" passen, die Blumenmädchen als Tanten von Melisande gelten, das Bühnenweihfestspiel die Idee einer Kunstreligion vorwegnehmen: widerspricht nicht das Statische der Partitur dem Fließen, der freudigen Dynamik des Jugendstils, der Verzicht auf Schnörkel, auf sinnlichen Klang, die Sparsamkeit der Faktur der reichen Ornamentik? Klingt die finster-große manisch pessimistische Verwandlungsmusik zusammen mit den schlank sich hochreckenden Säulen? Sind Wagners Arbeitsbedingungen, unter denen "Parsifal" entstand, die eiderdaunengefütterten seidenen Schlafröcke, die Atlasbetten, die Parfums aus Paris und die Badeöle aus dem Orient und die warme Frische der Muse Judith Gautier in die Partitur eingegangen, hat Kundrys Sinnlichkeit etwas zu schaffen mit den weiblichen Akten à la Fidus, die in Klingsors lodernd buntem Zaubergarten aufschimmern?

Nun, im Nationaltheater behaupten es die Szeniker mit oft hinreißendem Elan, sie brechen mit Intelligenz und Gestaltungsvermögen das Wieland Wagner-Tabu, holen Wagners "theatralischstes Werk" (Thomas Mann) aus dem Wallfahrtsort einer Ersatzreligion zurück auf die Bühne, die sie mit Menschen besiedeln, die leben und lieben und leiden, nicht als Ideenträger im Lichtkegel Botschaften versenden.

Dietrich Haugk erzählt genau die Geschichte; die Enthüllung des heiligen Grales macht ihm weniger Kopfzerbrechen als dem siechen Amfortas, der hier endlich einmal nicht nazarenerhaft leidet, sondern ein Mensch am Abgrund seiner Existenz ist, der klagend seinen Ruf "Erbarmen" gegen Himmel richtet. Parsifal ist der tumbe Tor, der neugierig wie ein Touropatourist in den Tempelbezirk eindringt, das Ritual nicht begreift, aber aus Höflichkeit der Ritter Gebetzeremonien kopiert. Seine Tugend wird später stark auf die Probe gestellt, dafür behandeln ihn Kundry als büßende Magdalena und der ergraute Gurnemanz mit Fußbad und Haarsalbung äußerst freundlich. Die Gralsritter allerdings sind keine erfreuliche Gemeinschaft mehr, sie sind von Anfang an des ewigen Gejammers ihres sündigen Königs überdrüssig, keiner künmmert sich recht um ihn - sie beugen sich auch nicht ohne Mühe der neuen Ordnung, die Parsifal mit einer demonstrativen Geste des Mitleids inauguriert: wohl enthüllt er den Gral, aber nicht dieses Symbol weist in die Zukunft, sondern die Menschlichkeit: der Vorhang senkt sich über einem König, der die sterbende Kundry in Armen hält: Pietà, einmal umgekehrt.

Dieser theatralisch faszinierenden Konzeption, die auch manche Seltsamkeiten kennt, etwa den Anti-Gral Klingsors, den Kundry als Begrüßungsdrink serviert, fällt alle Doppelbödigkeit zum Opfer, jedes Geheimnis; aber sie ist immer mutig, genau überlegt, wenn auch nicht immer überzeugend, doch unabhängig, originell, nahe dem Werk. Der intellektuellen Transparenz der Bühne korrespondiert der gegenüber Bayreuth weit hellere Orchesterklang, Wolfgang Sawallischs zügige, doch nicht oberflächliche Zeitmaße entsprachen der weihrauchfernen Deutung.

Ein fast ideales Ensemble mit James King, Franz Crass, Dietrich Fischer-Dieskau, Heinz Imdahl und der sehr lyrischen Hildegard Hillebrecht garantierte das Festspielniveau dieser großartigen Alternative zu Wieland Wagners Geniewurf, der sich in der Zeit erfüllt hat.

Klaus Adam


    

     "Oper und Konzert", München, 5/1973     

Nationaltheater

Parsifal

[...]

Dietrich Fischer-Dieskau bot als Amfortas wieder die beste gestalterische Leistung der Aufführung.

[...]

Hans Huber


   

     "Oper und Konzert", München, 6/1973     

Nationaltheater

Parsifal

[...]

In der Premierenbesetzung ragt Dietrich Fischer-Dieskau als Amfortas über allen Darstellern weit heraus. Gesanglich über jedes Lob erhaben findet er in dieser Rolle ein höchstes Maß an Ausdruck und Gestaltung (unvergleichlich die zwei "Erbarmen!"-Rufe!). Ihm gegenüber erscheinen alle übrigen Figuren und Darstellungen, aber auch deren gesangliche Leistungen fast ein wenig blaß. [...]

Hans Busch

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