Zum Konzert am 12. November 1973 in München


    

     Süddeutsche Zeitung, 14. November 1973     

Brittens "War Requiem"

2. Konzert der Musikalischen Akademie im Nationaltheater

     

Benjamin Brittens "War Requiem", zur Einweihung der wiederaufgebauten Kathedrale in der von deutschen Bomben im Zweiten Weltkrieg zerstörten britischen Stadt Coventry geschrieben und dort im Mai 1962 uraufgeführt, war schon ein Jahr danach unter Rafael Kubeliks Leitung in München zu hören. Und wie vor zehn Jahren im Herkulessaal hinterließ auch jetzt die Wiederaufführuing im 2. Konzert der Musikalischen Akademie unter Wolfgang Sawallisch beim Publikum im Naitonaltheater einen starken Eindruck.

An aktuellen Anlässen, mit einem Requiem Gefallener und anderer Kriegstoten zu gedenken, fehlt es in unserem vermaledeiten Jahrhundert ja wahrhaftig nicht, und just eben, da gerade der jüngste Krieg beendet werden soll, ist es das Gebot der Stunde, all denen, die wieder einmal für den so schwer erreichbaren irdischen Frieden geopfert wurden, in der poetisch schönen, altvertrauten Sprache der "Missa pro defunctis" wenigstens den ewigen Frieden zu wünschen.

Daß die Bitte um den ewigen Frieden für die Toten in unserer Zeit nicht mehr so ganz reinen Herzens ausgesprochen werden kann, hat der kluge Musiker Britten bei der Konzeption seines "War Requiem" gespürt. Er stellte darum dem alten lateinischen Text Verse des in den letzten Tagen des Ersten Weltkriegs mit 25 Jahren gefallenen englischen Dichters Wilfred Owen an die Seite, die in scharfer, zum Teil fast blasphemisch wirkender Dialektik die Gebete und Verheißungen der Totenmesse in Frage stellen. Der düstere Höhepunkt dieser dialektischen Zweifel wird - auch musikalisch - im Offertorium erreicht, wenn nach dem glaubensstarken Bekenntnis des Chors, daß der Herr Abraham und seinem Stamm das ewige Licht versprochen hat ("Quam olim Abrahae promisisti et semine ejus"), der Solobariton erzählt, wie Abraham auf dem Opferstein (Symbol für Vaterland, nationale Ehre, Heiliger Krieg und ähnliches) seinen Sohn Isaak tatsächlich getötet hat, blindwütig und gegen das Gebot des Engels, ihn zu schonen: "Aber der Alte wollt’ nicht so , er bracht’ ihn um / Und halb Europas Samen, Mann um Mann" (Übersetzung von Dietrich Fischer-Dieskau). Der Ausklang des "Libera me" mit dem "Requiescat in Pace" klingt ungeachtet der einen allerletzten Akzent der Zuversicht setzenden kühnen Wendung nach F-Dur im Schlußakkord im ganzen doch eher resigniert als zuversichtlich im "Let us sleep now" der beiden Soldaten, die einander getötet haben und nun, versöhnt, ohne große Ewigkeitsperspektiven sich ihren Frieden in der Ruhe des Grabes wünschen.

Diese bedeutende Konzeption erweist der großen sakralen Tradition des Requiems bis hinauf zu Mozart, Berlioz und Verdi die Achtung, die ihr gebührt, und konfrontiert dem Ordinarium das erschütterte, von Bitternis geätzte Lebensgefühl des vor den sich nie erhellenden Kriegshorizont unseres Jahrhunderts gestellten Menschen. Leider aber ist es so, daß dieser Konzeption das musikalische Bild des "War Requiem" nicht standhält. Es ist darin zuviel aus der europäischen Musiklandschaft dieses und des vorigen Jahrhunderts aufgewirbelt und nach Britannien hinübergetragen worden. In der Gesamtanlage wird man - schon vom aufwendigen Apparat her mit einem großen und einem Kammerorchester, mit einem gemischten und einem Kinderchor und drei Solisten - zuerst an das Requiem von Berlioz denken, von dessen Pathetik auch manches in Brittens Thematik eingeflossen ist, wenn auch rhythmisch (Siebenviertel im "Dies irae", Fünfsechzehntel im "Agnus Dei") eigenwillig verfremdet. Mahler steht mit seinen Symphoniemärschen hinter manchen marschartigen Episoden, Strawinskys spröde Expressivität der Psalmensymphonie prägt die deklamatorische Diktion vieler Chor- und Solostellen, und daß für den E-Dur-schimmernden Anruf der Knabenstimmen "Domine Jesu Christe" am Anfang des Offertoriums in der Paradies-Apotheose von Debussys "Saint Sébastien" das Vorbild zu finden ist, unterliegt kaum einem Zweifel. So wenig wie Brittens eminentes kompositorisches Können, seine Fähigkeit, durch Kontraste Spannungen zu schaffen (und zwar genau da, wo sie am wirkungsvollsten sind), seine zuweilen wirklich originäre Klangphantasie. Wen es nicht bedrückt, auf der Wanderung durch die geistige Landschaft des "War Requiem" allzu vielen Depots kontinental-europäischer Musikimporte zu begegnen, der wird, mag er die ja immerhin untraditionelle dialektische Konzeption des Werkes bejahen oder ablehnen, einen Mangel an fesselnden Klangbildern nicht zu beklagen haben.

Zumal wenn sie ihm in einer so exemplarischen Aufführung dargeboten werden, daß ihm Zweifel an einer musikalischen Substanz aus zweiter Hand gar nicht kommen werden. Chor (Wolfgang Baumgart) und Orchester waren in großer Form, der unsichtbare Kinderchor der Pfarrei Maria Schutz (Kurt Rieth) klang, aus vielleicht etwas zu weiter Entfernung, rein und wie eine im Stande der Unschuld verbliebene Vox humana, und mit der britischen Sopranistin Heather Harper, ihrem Landsmann Robert Tear (einem Tenor von edelster Stimmsubstanz und Ausdruckskraft) und Dietrich Fischer-Dieskau war das Solistenterzett ideal besetzt. Wolfgang Sawallisch dirigierte mit soviel Intensität und mit so genauem Sinn für die Proportionierung der Subtilitäten und der Massivitäten der Partitur, daß man an sein Engagement für ihre (überzeugende) humanistische wie für ihre (anfechtbare) musikalische Aussage gleichermaßen glauben konnte.

K. H. Ruppel

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     Abendzeitung, München, 14. November 1973     

Münchner Nationaltheater: "War Requiem" des englischen Komponisten Benjamin Britten

Zum Jenseits-Halali geblasen

    

Benjamin Brittens "War Requiem" im Nationaltheater: eine begeisternde Aufführung einer fragwürdigen Komposition. Solisten: Heather Harper, Sopran, Robert Tear, Tenor, Dietrich Fischer-Dieskau, Bariton. Dirigent: Wolfgang Sawallisch. Den Staatsopernchor studierte Wolfgang Baumgart ein, den Kinderchor von "Maria Schutz" Kurt Rieth.

"War Requiem" ist zwölf Jahre alt und doch soviel älter; ein Werk, das von der großen Oratoriumpraxis der Musikgeschichte profitieren will, nur Form-Hülsen erwischte und die Ernsthaftigkeit überhaupt nicht in den Griff bekommt. Britten, der außerhalb Deutschlands gefeierte englische Komponist (60), hat hierzulande mit seinen gefälligen, melodiös schicken Modernismen merkwürdig wenig Erfolg.

Das "War Requiem" zeigt es aufs neue: 90 Minuten Stimmungsmache von stark wechselnder Qualität, garniert mit billigsten Musikillustrationen (das Wort "Engel" im Text beantworten die Solisten mit verkitschten, harfenumspülten Terzen) und geheucheltem Tiefgang. Brittens Schrecken vor dem "Tag des Zornes" schrumpft zu einem hurtigen, mit falschen Noten gewürzten Jenseits-Halali der Bläser.

Seine musikalische Wahrhaftigkeit gleicht dem sogenannten Gläubigen, für den am meisten zählt, wie reich das Gewand des Priesters bestickt ist. Ich glaube Britten hier keinen Takt.

Und deshalb lag der Solist Robert Tear mit seiner herrlichen Stimme genau richtig. Er blieb an der Oberfläche, während Fischer-Dieskau mit vollem Einsatz nach der Ernsthaftigkeit eines Faust II schürfte.

Die Aufführung schien mir fast perfekt, Sawallisch führte souveräne Klangregie, half Brittens Musik, wo er nur konnte. Dennoch: Man saß vor einer 90-Minuten-Kunstlüge.

Helmut Lesch

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     tz, München, 14. November 1973     

Britten-Opus mit Anleihe

"War Requiem" in der Oper

   

Es gibt von Benjamin Britten zwei Werke, die längst einen festen Platz in der Musikgeschichte belegt haben: Die Oper "Peter Grimes" und das Oratorium "War Requiem". Letzteres setzte jetzt Wolfgang Sawallisch auf das Programm des 2. Konzertes der "Musikalischen Akademie" im Nationaltheater. Liturgische Gesetze negierend schuf Britten aus der "Missa pro defunctis" und Gedichten des im Ersten Weltkrieg gefallenen englischen Autors Wilfred Owen ein Werk, das zur Manifestation des Pazifismus werden sollte und das 1962 anläßlich des Wiederaufbaus der St.-Michaels-Kathedrale von Coventry uraufgeführt wurde.

Die Interpretation durch Wolfgang Sawallisch, die Solisten Heather Harper, Robert Tear und Dietrich Fischer-Dieskau, das Bayerische Staatsorchester, den Chor der Bayerischen Staatsoper und den Kinderchor der Pfarrei Maria Schutz war so exemplarisch, daß es schwer fällt, Werk und Wiedergabe zu trennen. Dennoch kann ich nicht umhin, einige grundsätzliche Einwände gegen das Werk vorzubringen: Die schöpferischen Einfälle Brittens bleiben auch in diesem Opus gezählt, Harmonisierung und Instrumentation sind durchwegs anachronistisch, und nicht nur Orffs "Carmina" und Strawinskys "Psalmensymphonie" melden ihr Anrecht auf Patenschaft an - im Aufbau des "Dies irae" wird die Verwandtschaft zum Verdi-Requiem geradezu greifbar.

Die Originalität des "War Requiem" liegt also mehr in der geistigen Konzeption als in den Formen, in denen sie sich artikuliert. Aber es gibt auch unverwechselbare Passagen: Das von tiefen Streichern, Gong und Glockenschlägen untermalte "Requiem aeternam", das von Harfenklängen begleitete Duett Robert Tear - Dietrich Fischer-Dieskau: "Ein Engel rief ihm aus der Höh’...", die schneidenden Blechbläser-Kaskaden zum "Hosanna in excelsis" mit dem von Heather Harper strahlend vorgetragenen Sopran-Solo, oder das abschließende "et lux perpetua...", in dem der gesamte Klangapparat zur weitausschwingenden Entfaltung kommt.

Alles wurde von Sawallisch in eine so unglaubliche Spannung versetzt, so kraftvoll und dennoch meditativ dargestellt, so erschöpfend ausgelotet, daß nach den letzten Takten Stille wie in einem gotischen Dom eintrat - eine Fermate des Geistes, die keiner der Anwesenden je vergessen wird!

Karl-Robert Danler

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     Oper und Konzert, München, 1/1974     

Nationaltheater: 2. Konzert der Musikalischen Akademie

    

Das zweite Akademiekonzert brachte bei Wahrung alter Tradition, aber ohne den früheren termingebundenen Zwang - früher immer am Allerheiligentag - ein Werk, das dem Charakter des Totengedenkens im November ganz und gar entsprach und dabei die Begegnung mit einem diesem Anlaß besonders naheliegenden zeitgenössischen Opus ermöglichte. Das außergewöhnliche Interesse an Benjamin Brittens "War Requiem" op. 66 galt spürbar mehr dem Werk als seinen Interpreten. Wem diese ganz subjektive und zeitnahe Art der musikalischen Aussage neu war, dem wird Brittens Gestaltung der alten "Missa pro defunctis" in nachhaltigster Erinnerung bleiben. Die an zehn Stellen des altbekannten liturgischen Requiems eingeflochteten Gedichte von Wilfred Owen, denen im Programmheft die sehr freie Wiedergabe der deutschen Übertragung von D. Fischer-Dieskau und Ludwig Landgraf beigefügt war, wirken wie die den bekannten Passionskompositionen zugeordneten Arien und die in viele Motetten eingestreuten Choräle: ein Verweilen betrachtender Art, ein Besinnen, ein In-sich-Gehen, ein Bekenntnis. Wem also dieses Werk neu war, der wird es in nachhaltiger Erinnerung bewahren als ein gerade unserer Zeit adäquates musikalisches Dokument, das alte christ-katholische Gedanken mit neuem Geist verlebendigt. Dieses aus Anlaß der Einweihung der Kathedrale von Coventry komponierte und 1962 uraufgeführte Riesenwerk kann hier inhaltlich und musikalisch nicht weiter analysiert werden. Hier geht es um die Darstellung des Eindrucks von dieser großartigen Wiedergabe unter Wolfgang Sawallisch, dem eine schallplattenreife Aufführung zu danken war. Er traf genau den richtigen "Ton", das heißt er war weit entfernt, Effekte zu erzielen, ohne andererseits auf Affekte zu verzichten. Da die Aufführung bei neunzig Minuten Dauer pausenlos ablief, waren an die Ausführenden und an das Publikum hohe geistige und physische Konzentrationsanforderungen gestellt.

In jedem Moment war höchste Spannung spürbar, bedingt durch die Gedankentiefe des Werkes und durch die exemplarische Interpretation. Die räumliche Disposition und somit die vorbedachte Klangwirkung venezianischer Mehrchörigkeit war sehr glücklich realisiert: die Tenor- und Bariton-Solisten gruppierten sich zusammen mit dem Kammerorchester um den Dirigenten, die Sopransolistin war vor dem links stehenden Frauenchor postiert. Der Kinderchor klang (bei offener Türe) aus der "Kulisse" rechts und daher wohl ein wenig zu entfernt; aber vielleicht wirkte es gerade deshalb wie eine sehr zarte und ernste Klangkulisse. Joseph Rieth hat (als Nebendirigent) mit dem Kinderchor der Pfarrei Maria Schutz eine sauber intonierte und rhythmisch präzise chorische Leistung vollbracht. Der Chor der Bayerischen Staatsoper bewältigte seine sehr schwierige Aufgabe großartig - ein Verdienst, das uneingeschränkt dem Chormeister Wolfgang Baumgart zuzuschreiben war. Das Bayerische Staatsorchester musizierte höchst aufmerksam, klanglich äußerst differenziert und von seinem Dirigenten sichtlich inspiriert. Der Solo-Sopranpart - immer mit dem Chor gekoppelt - wurde von der stimmlich tadellos disponierten Heather Harper (England) höchst eindrucksvoll gestaltet; diese herrliche Stimme leuchtete (auch in exponierten Lagen) mühelos über den Chorklang. Der englische Tenor Robert Tear, dessen Stimmtimbre und künstlerische Audruckskraft gerade seinem Solopart in idealer Weise entsprach, gefiel auch dank seiner bescheidenen Art ganz vorzüglich. In Dietrich Fischer-Dieskau begegnete man dem Baritonsolisten der Uraufführung. Der tiefe Ernst und das persönliche künstlerische Engagement des Sängers und in steter Verbindung damit die Schönheit und der edle Klang dieser herrlichen Stimme drückte dieser Aufführung den Stempel der Authentizität auf und verlieh ihr eine besondere Weihe. Wolfgang Sawallisch vollbrachte eine in dirigiertechnischer und vor allem in künstlerischer Hinsicht großartige Leistung. Als denkbar bester Diener am Werk stellte er seine Person in aller Bescheidenheit Ehrfurcht und Würde hinter die große Sache, die er vertrat.

Hans Busch

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