Zum Konzert am 9. Januar 1974 in Paris


Saarbrücker Zeitung, 16. Januar 1974  
Bremer Nachrichten, 16 .Januar 1974   

Sternstunde am Pariser Musikhimmel
Große Namen zum 25jährigen

Menuhin, Kempff, Rostropovich und Fischer-Dieskau traten auf

     

Wie der Astronom im Planetarium die Sterne zu den seltensten Konstellationen zusammenführen kann, so hat es jetzt Yehudi Menuhin als der Präsident des Internationalen Musikrates der UNESCO vermocht, aus Anlaß des 25jährigen Bestehens der von ihm geleiteten Organisation einige musikalische Gestirne erster Größe in ihrem Lauf so zu lenken, daß sie für zwei Januartage zur selben Zeit am Pariser Konzerthimmel erschienen.

An zwei Abenden also traten im Gebäude der UNESCO und in der Salle Pleyel, dem größten Konzertsaal der Stadt, Instrumentalisten und Sänger in einer Zusammenstellung auf, wie sie sonst kaum einmal in einer ganzen Saison geboten wird. Fast zuviel der Eindrücke, denn die Veranstaltungen dauerten jeweils runde drei Stunden. Und so großartig vieles war, so mußte man zwischendurch doch auch weniger Gelungenes mit in Kauf nehmen. Am besten wird gleich von diesem die Rede sein, das Rühmenswerte kann sich gedulden.

Was zum Beispiel den zweiten Abend betrifft, so verliefen zumindest die Darbietungen Rafael Puyanas und Régine Crespins nicht allzu glücklich: Der Cembalist spielte zwei Scarlatti-Sonaten und Bachs Italienishes Konzert recht blaß, und die von Janine Reiss begleitete Sopranistin gab sich in Liedern von Fauré, Poulenc und Duparc so dekorativ lässig und in einer Zugabe aus Wagners Wesendonkliedern so übersteigert dramatisch, daß man von der Echtheit ihrer musikalischen Äußerungen nicht unbedingt überzeugt war. Hinzu kam jedoch in diesem Fall, daß man zuvor Fischer-Dieskau mit Schubertliedern gehört hatte und sich daraufhin des Rangunterschiedes ganz besonders bewußt wurde.

Nicht ganz wohl war es einem aber auch beim zweiten Stück dieses Programmes, bei Bachs Arie "Ächzen und erbärmlich weinen". Die Besetzung war erstaunlich genug: Dietrich Fischer-Dieskau, Yehudi Menuhin, Rafael Puyana und Mstislav Rostropovich. Rostropovich als Continuo-Spieler! Aber das störte weder den Cellisten noch das Publikum. Vielmehr war es der Sänger, dem hier die nicht ganz richtige Aufgabe zugefallen war: Auf Ausdruck um jeden Preis bedacht, befrachtete Fischer-Dieskau die Arie mit einer allzu unruhigen, selbst im einzelnen Wort sich noch verändernden Dynamik und setzte sich damit, bei allen übrigen Vorzügen seiner Interpretation, in nicht unbedenklicher Weise über Stil und Charakter dieser Musik hinweg.

Aber dann sang Fischer-Dieskau ja auch Schubert. Am Flügel saß - noch einmal oder wieder? - Gerald Moore. "An Silvia" zwar klang, auch in der Begleitung, eher munter als schwärmerisch, was dann aber folgte, die "Nachtviolen" und "Das Fischermädchen" z.B. besaß eine solche gesangliche und pianistische Vollendung, daß sich die Zuhörer schließlich in einen wahren Begeisterungstaumel hineinsteigerten.

Den tiefsten Eindruck dieses Abends jedoch hinterließ wohl Wilhelm Kempffs Wiedergabe der unvollendeten Sonate f-moll DV 625 von Schubert. Kein Pianist der Welt wird in Paris so geschätzt und verehrt wie er, und wie vor einigen Jahren, als das hiesige Publikum das Werk durch Kempff überhaupt erst kennenlernte, ließen sich die Zuhörer auch jetzt nichs entgehen von den Unnachahmlichkeiten seines zauberhaft gelösten, geistvoll klaren und tiefgründigen Klavierspiels.

Zur aufsehenerregendsten Konstellation unter den mannigfaltigen Partnerschaften dieser beiden Konzerte kam es dann zum Schluß des zweiten Abends, Menuhin und Rostropovich, die tags zuvor als Solisten aufgetreten waren, der Geiger mit einer scharf profilierten Interpretation der Sonate für Violine allein von Bartok, der Cellist mit einer lebendig bewegten (in der Gavotte nicht ganz ungetrübten) Wiedergabe der fünften Suite für Violoncello allein von Bach, diese beiden Künstler also führten nun zusammen mit Kempff Beethovens Trio B-Dur Op. 97 auf. Es war ein Glücksfall - fast möchte man sagen: in der Geschichte des Ensemblespiels überhaupt. Eine wirkliche Sternstunde, so hinreißend lebendig, so bis in die letzten Feinheiten abgestuft und klanglich ausgewogen wurde es von den drei Großen wiedergegeben.

Die Begeisterung des Publikums war hier auf den absoluten Höhepunkt gelangt und färbte schließlich auf die Künstler ab: Rostropovich umarmte und küßte Kempff und löste damit auf dem Podium eine ganze Kettenreaktion herzlichster Sympathiebekundungen aus.

Wilhelm Riekert

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