Zum Liederabend am 12. April 1974 in New York


 

     Aufbau, New York, 19. April 1974     

Jenkins offeriert Raritäten

Fischer-Dieskau, Heine-Lieder von Schumann

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Wird heute Liedgesang nur an dem überragenden Können eines Einzelgängers gemessen, so sei’s allein des unfassbaren Repertoires wegen, das Dietrich Fischer-Dieskau meistert. Sind, fragt man, nach dieser Monopolisierung (durch die Schallplatte erleichtert) e i n e r Kunstgattung durch einen Sänger noch irgendwelche Steigerungen denkbar? Das Image, das man in New York von Dieskau bekommt, ist ein einflächiges: der Liedinterpret ist bei uns nicht als Opernsänger bekannt; auch hat er sich hier bislang nicht als Dirigent deklariert. Sein dreidimensioniertes Tätigkeitsgebiet als "ausübender" Künstler gibt ihm sogar die Muße, "schöpferisch" als Musikforscher zu arbeiten. Seine Persönlichkeit ist Spiritualität: ein turmhoch Über-den-Dingen-Stehen, das sich immer mehr in einsamste Regionen verliert.

"Schön sind, doch kalt die Himmelssterne" – das war ungeschrieben die Devise seines Schumanns Liedschaffen vorbehaltenen Abends in der Carnegie Hall (dem zwei Schubert-Ereignisse folgen werden). Die Auswahl manifestierte die Spezialisierungskunst Dieskaus: auch die Liedtexte stammten allesamt von nur einem Dichter – Heinrich Heine. Als Vorspann die Romanzen "Abends am Strand", der zweite Gesang aus der Trilogie "Tragödie", und "Waldesfahrt" (wie Richard Strauss später das auch von ihm vertonte "Mein Wagen rollet langsam" betitelte). Dann "Liederkreis", neun den "Jungen Leiden" entnommene Gedichte, Schumanns erster Liederkreis.

Zum Abschluss "Dichterliebe", sechzehn als nacherzähltes Liebeserlebnis zusammengeschweißte Gedichte aus dem "Buch der Lieder": poetisch und musikalisch im Stil der Hochromantik. Sie wurde auf ein Ausdrucksminimum herabgeschraubt mit Tempo- und Rhythmus-Eigenwilligkeiten mehr als durch ein vielfach vom Herkömmlichen abweichendes Kolorieren der Stimme selbst. "Im Rhein, im heiligen Strome", "Allnächtlich im Traume" und "Die alten, bösen Lieder", exemplarisch erfasst und exemplarisch vorgetragen, waren die Stützpfeiler der "Dichterliebe". Aber warum das Zerhacken des Rhythmus im dritten, die Freiheit mit dem Zeitmaß im vierten, die kalte Nüchternheit beim zehnten, der militärische Duktus beim elften, der Justament-Standpunkt einer "unbedingt neuen" Auffassung beim vierzehnten Lied dieser unbeteiligt nachdeklamierten "Dichterliebe"? Was sie an Resignation, Schmerz, Wehmutshoffen enthält, war von Jörg Demus empfindsam auf den Klaviertasten zusammengeklammert und kam (nach dem Galopp, in dem die "alten Märchen" vorbeigeflitzt waren) im Nachspiel zu wohltuendem Frieden.

Fischer-Dieskau, von frenetischem Beifall umtost, behielt auch beim Danken seine ernste Miene. Sähe man ihn als Falstaff oder Gianni Schicchi – die New Yorker würden staunen, welcher Schelm in ihrem Liedersänger-Idol zuweilen stecken kann

R. B.

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