Zur Oper am 31. Juli 1974 in München


    

     Augsburger Allgemeine, 2. August 1974     

"Fidelio" zwischen Betonmauern

Zweite Premiere der Münchner Opernfestspiele

     

"Fidelio" zu inszenieren, ohne dem Werk Gewalt anzutun, das gehörte einmal, wie der "Freischütz", der "Figaro" oder der "Wildschütz", zum wohlverstandenen Handwerk eines akkreditierten Opernregisseurs. Die psychologisch und politisch engagierten Inszenatoren der Gegenwart tun sich da schwerer, und so erlebten wir im Lauf der letzten Jahrzehnte Dokumentationen von Beethovens Menschheitsdrama, die Traumas der jüngsten deutschen Vergangenheit (KZ) ebenso ins Bild brachten wie ideologische Abstraktionen, die am liebsten die bürgerliche Umwelt des Freiheitsdramas eliminiert hätten, zuletzt in Bremen, wo Treitschkes von je umstrittener Text durch hymnische Betrachtungen H.M. Enzensbergers ersetzt wurde.

Starre Riesenräume

Der Regisseur der neuen Münchner Festspielinszenierung, der in Cardiff tätige 40jährige Engländer Michael Geliot, versucht einen (leider nicht immer goldenen) Mittelweg im Kostüm des frühen 19. Jahrhunderts. Realistische Gags in der Darstellung, die in der Premiere mit Recht gerügt worden waren, schienen in der zweiten Aufführung von Günther Rennert weitgehend ausgemerzt worden zu sein. Was der Zuschauer zu sehen bekam, war eine im ganzen lebendige, den überzeitlichen Charakter des Werkes in Grenzen betonende Aufführung, die sich nach mattem Anfang erst im Gefängnisakt zu dramatischen Höhepunkten steigerte und den hymnisch-oratorischen Schluß in grellem weißen Licht auf leerer Bühne zelebrierte.

Geliots Bühnenbildner Koltai scheint eine Vorliebe für geometrisch starre Riesenräume zu haben, die er durch kahle Betonmauern gliedert - ein Widerspruch zu den zeitgemäß kostümierten Sängern und Chören, die sich im Gefängnisakt ziemlich zwanglos ergehen, was die fahle Stimmung des Gefangenenauftritts beträchtlich mindert. Problematisch blieben auch die szenische Lösung des Florestan-Verlieses und der lichtüberflutete Übergang ins Finale, wodurch die dritte Leonoren-Ouvertüre als Augenblick musikalischer Einkehr leider entfiel.

Wolfgang Sawallisch fand erst im Verlauf der Aufführung, vor allem aber auf den dramatischen Höhepunkten in Florestans Gefängnis und in dem zu hymnischer Größe gesteigerten Finale zu jenem Beethovenschen Brio, das geprägt ist vom Menschheitspathos der Generation von Kant, Lessing und Schiller. Hier leistete ihm auch das Staatsorchester nach anfänglichen rhythmischen und tonlichen Schwankungen volle Gefolgschaft.

Persönliche Intensität

Ingrid Bjoners warmherzig intonierende, hochdramatisch angelegte Leonore und James Kings begeistert akklamierter Florestan standen durch persönliche Intensität der Gestaltung im Mittelpunkt des Geschehens; als Mit- und Gegenspieler profilierten sich der stimmlich überaus ausdrucksvolle Pizarro von Leif Roar, der patriarchalische Rocco von Franz Crass, die etwas kratzbürstige, gesanglich überzeugende Marzelline von Adrienne Csengery und der lyrisch verhaltene Jacquino von Claes-Haakan Ahnsjö. Als Verkünder der Beethovenschen Botschaft an die Menschheit bewährte Dietrich Fischer-Dieskau (Don Fernando) höchste gesangliche und darstellerische Meisterschaft - sein Auftritt wurde zum geistigen Höhepunkt einer zwar bemühten, nicht unproblematischen Erneuerung eines Werkes, das nicht umsonst Beethovens Schmerzenskind gewesen ist. Damals wie heute verlangt es von seinen Interpreten den Mut zum Letzten und Äußersten - der aber ist ein Geschenk des Augenblicks und nicht auf Festspielabende beschränkt!

Dr. Karl Ganzer

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