Zum Konzert am 18. Dezember 1974 in Berlin


Der Tagesspiegel, Berlin, 20. Dezember, 1974 

Im Schatten Bayreuths

Hugo Wolfs "Corregidor" konzertant in der Deutschen Oper

"Ein unerhörtes Wunder ist geschehen. Der langersehnte Operntext hat sich endlich gefunden", schreibt Hugo Wolf 1895 an einen Freund. Das "Wunder" war ein dürftiges Libretto der Wiener Dichterin Rosa Mayreder, die Dramatisierung der "Dreispitz"-Novelle von Pedro de Alarcon. Wolf hatte diese Bearbeitung einige Jahre zuvor entschieden abgelehnt - jetzt griff er begeistert zu. Seine Briefe an die Dichterin zeigen eine hektische, unreflektierte und praxisferne Arbeitsweise, die das spätere Fiasko seines "Corregidor", der am 7. Juni 1896 in Mannheim uraufgeführt wurde, vorausahnen läßt.

Als Opernkomponist fällt Wolf unter die Generation der Wagner-"Geschädigten", derjenigen, die sich vergeblich vom Bann des Bayreuther Meisters zu lösen versuchten. Als ergebener Jünger war er Wagner Tribut schuldig - so mußte auch er seine "Meistersinger" schreiben. Wolfs anderes Vorbild war Bizets "Carmen". Was Friedrich Nietzsche in seiner Würdigung der "Carmen" polemisch gegen Wagner richtete, wollte Wolf als Synthese: eine Vereinigung von Erlösungsdrama und südlichem "Gitarrengeklimper". Die Synthese mißlang, zunächst einmal wegen der Unzulänglichkeit des Librettos. Weder das Komödienmotiv der Novelle: Rollentausch zweier Personen, noch die damit verbundene Klassenauseinandersetzung zwischen Adel und Landbevölkerung werden dramatisch entfaltet. Das Hauptmoment des Mißlingens besteht jedoch in dem Konflikt zwischen Wolfs eigenem Liedstil und der Charakterisierungstechnik Wagners, der er sich verpflichtet fühlte. Da die zahlreich eingestreuten Lieder die Personen nicht charakterisieren, sondern gleichsam unvermittelt neben ihnen stehen, müssen musikalische Leitmotive das dramatisch-psychologische Fundament liefern.

Diese Motive rücken die beiden Protagonisten der Oper in den Mittelpunkt: den buckligen adelsstolzen Corregidor und seinen ebenfalls buckligen Gegenspieler, den Müller Tio Lukas. Die Variierung, Kontrastierung und Durchführung dieser beiden Motive nun bestimmt das musikalische Gewebe der gesamten Oper, ohne daß sich jedoch immer eine sinnvolle Beziehung zwischen Orchester, Handlung und Personen ergäbe. Eine Ausnahme bildet die wirklich gelungene Soloszene des Lukas im dritten Akt; die Eindringlichkeit, mit der Wolf hier den Gefühlswandel des scheinbar betrogenen Ehemannes von tiefster Verzweiflung bis hin zur höhnischen Rachsucht darstellt, ist Operndramatik ersten Ranges.

Eine konzertante Wiedergabe dieses dramatisch unglücklichen, stilistisch schwankenden, aber doch musikalisch recht bedeutenden Werkes ist sicher verdienstvoll. Was Gerd Albrecht allerdings an Wolfs einziger Oper vornahm, kam einer Verhunzung näher als einer Würdigung. Albrecht hätte besser daran getan, seine Interpretation "Querschnitt" oder "Potpourri" zu nennen, nicht aber "konzertante Aufführung". Was er an Strichen vornahm, spottete jeder musikalischen Einsicht: da fehlten einzelne Liedzeilen und wichtige Dialogstellen; Aktschlüsse und Einleitungen wurden ineinander montiert und der vierte Akt bis zur Unkenntlichkeit entstellt.

Recht unterschiedlich waren die Leistungen der Solisten. Der Sänger der Titelpartie, Horst Laubenthal, war leider indisponiert und stimmlich gerade eben anwesend. Heinz-Klaus Ecker brachte als Repela durch ein gelungenes Niesen etwas Heiterkeit in die Aufführung. Agnes Baltsa hatte den schönen Mezzo für die Müllerin Frasquita, schien sich bei ihrer Einstudierung aber mehr auf die Lieder als auf die Dialoge konzentriert zu haben. Souverän in der Gestaltung, in der Artikulation allen anderen überlegen war Dietrich Fischer-Dieskau als Tio Lukas. Der Opernchor sang ein sehr schönes, aus dem Pianissimo entwickeltes Finale.

Wolfgang Molkow

___________________________________

    

     Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Januar 1975     

Ein geglückter Versuch

Hugo Wolfs Oper "Der Corregidor" - konzertant

   

Hugo Wolfs Oper "Der Corregidor" ist 1904, ein Jahr nach dem Tod des Komponisten, an der Wiener Hofoper durch Gustav Mahler aufgeführt worden. Über das Werk war es einige Jahre vorher zwischen den beiden Jugendfreunden zu einem Streit gekommen, der sie endgültig entzweite und der bei Wolf zum vollen Ausbruch seines Wahnsinns führte. Mahler erkannte sehr gut die dramatischen und wohl auch einige musikalische Schwächen des Stücks. Als er es schließlich acht Jahre nach der Mannheimer Uraufführung herausbrachte, hatte er die Partitur gründlich revidiert, kräftige Kürzungen in dem nur halb gelungenen letzten Akt angebracht und - wie uns als zuverlässiger Kronzeuge Julius Korngold berichtet - dem Orchesterklang "durch ausgiebige Lichtung des dickflüssigen Satzes nachgeholfen." Dennoch und trotz der unbezweifelbaren Sorgfalt, mit der Mahler dem Werk zu helfen bemüht war, hatte es nur mittelmäßigen Erfolg.

Die größten Schwächen liegen in der dramaturgischen Entwicklung der Fabel, die einer Novelle von Alarcón entnommen ist und die vor und nach Wolf auch andern Komponisten als Stoff für Opern und Ballette gedient hat, zuletzt Manuel de Falla in seinem Tanzspiel "Der Dreispitz". Keine der Szenen hat rechte dramatische Anschaulichkeit, und wo diese gelegentlich doch auftaucht, ist sie für ein Lustspiel nach den Geschmacksregeln der komischen Oper zu grob.

Der letzte, der in der Charlottenburger Oper Wolfs Schmerzenskind herausbrachte, war 1928 Bruno Walter. Karl Heinz Martin führte damals Regie, die Bühnenbilder waren von Ernst Stern, und Karl Erb sang die Titelpartie, Maria Rajdl die Corregidora. Auch Walter soll, nach Mahlers Vorbild, die Partitur zu kammermusikalischem Klang verdünnt haben.

Nun haben wir an gleicher Stelle das Werk in einer konzertanten Wiedergabe gehört. In dieser Form hat es die besten Chancen, zu überleben. Denn die Partitur steckt voll

von melodischer Erfindung und geistvoller Interpretation der Textinhalte. Und wenn auch das Libretto von Rosa Mayreder kein gutes Drama ist, so gibt es doch hübsche sprachliche Einfälle darin, deren Zauber freilich verblaßt, wo sie neben kleinen dichterischen Juwelen wie Paul Heyses "In dem Schatten meiner Locken" stehen. Wolf hat nämlich das Lied aus dem Spanischen Liederbuch in die Mezzopartie der Frasquita aufgenommen.

Den besonderen Wolfschen Gesangston treffen heute nur noch wenige Sänger. An ihrer Spitze steht Dietrich Fischer-Dieskau. Und er war es auch, der wahrhaft souverän und schön singend wie seit langem nicht den Müller Tio Lukas darstellte:

in seiner Interpretation bekam die Figur wirklich szenische Gegenwart. Eine erstaunliche, beglückende Leistung. Daß Horst Laubenthal trotz schwerer und angekündigter Indisposition den Corregidor sang, ist ihm hoch anzurechnen.

Für die Frauenpartien setzten Agnes Baltsa und Gerti Zeumer schöne Stimmen und Anmut ein. Einen sehr komischen Diener Repela zeigte niesend und singend Heinz-Klaus Ecker. Victor von Halem war ein machtvoller Alkalde, Tomislav Neralic ein würdiger Gerichtsbote. In kleinen Partien bewährten sich Kaja Borris, Martin Vantin und der in letzter Stunde eingesprungene William Murray.

Zu den formalen Planungsfehlern des "Corregidor" gehört die winzige Funktion des gemischten Chors, der eigentlich nur den Schluß des letzten Aktes mit dem Gruße "Guten Morgen, edle Donna" rettet. Die Setzung dieses wichtigen Akzentes war durch Walter Hagen-Groll gut vorbereitet worden, wie denn überhaupt der Abend musikalisch ein hohes Niveau zeigte. Gerd Albrecht hat daran den Löwenanteil. Ihm ist die Realisierung der Aufführung in erster Linie zu danken. Daß er im Hinblick auf Laubenthals Erkrankung Retuschen vornahm, konnte der Wiedergabe nur dienen.

H. H. Stuckenschmidt

___________________________________

    

     Der Abend, Berlin-West, 19. Dezember 1974     

Des Müllers Frust

Seltene Kostbarkeit: Wolfs "Der Corregidor" in der Oper

    

Das Ballett "Der Dreispitz" von de Falla hat der komischen Oper "Der Corregidor" von Hugo Wolf den Rang abgelaufen; beide Werke gehen auf dieselbe spanische Novelle von Alarcon zurück. Auf der Bühne setzt sich der vordergründige Effekt eher durch als die noch so feine künstlerische Machart. Es gibt mehr Beispiele für diese Erfahrungstatsache.

Schade für Wolf, den genialen Liedkomponisten. Aber ein Dramatiker war er eben nicht. Auch dieser "Corregidor", den die Initiative von Gerd Albrecht wenigstens für einen Abend als "Konzertante Aufführung" zum klingenden Leben erweckte, steckt voll herrlichster Musik und quillt über von Liedpoesie und lyrischer Reife. Fast jede Solo-Szene hat ihren eigenen Zauber. Seit 1928 (Bruno Walter) war er in Berlin verstummt.

Die Handlung von dem Müller und seiner schönen jungen Frau, der ein hoher Richter in noch höheren Jahren ebenso listenreich wie vergeblich nachstellt, ist tragfähig und humoristisch ergiebig. Gewisse Ungeschicklichkeiten des Librettos müßten zu beheben sein. Es wäre ein Jammer, wenn dieser musikalische Edelstein wegen dramaturgischer Mängel dem geringen Bestand an wertvollen heiteren deutschen Opern auf immer verloren sein sollte. Das große Haus an der Bismarckstraße wäre allerdings nicht der rechte Ort für Wolfs "spanisches Liederbuch" und dessen melodiöse Anmut.

Dem Dirigenten Gerd Albrecht ist Dank zu sagen für seine Unternehmungslust, die uns jährlich wenigstens ein scheinbar verlorenes Werk der Opernliteratur wiedererschließen möchte. Abermals gab ihm der laute Publikumserfolg recht. Er hatte mit dem Orchester treffliche Vorarbeit geleistet und führte seine Solisten an lockerer Hand durch die Kostbarkeiten ihrer Partien. Horst Laubenthal war in der Titelrolle durch Indisposition behindert, seinen jugendlichen lyrischen Tenor ganz so wie sonst zu entfalten, bot aber trotzdem eine qualitätvolle Leistung.

Entscheidend ist das Müller-Paar. Agnes Baltsa lieh der Müllerin ihre sichere Musikalität und den Abglanz ihrer aparten Persönlichkeit. Dietrich Fischer-Dieskau formte den Müller zu einem lebendigen und heiteren, in seinem großen Monolog auch temperamentvollen Meisterstück der Stimmcharakteristik. Als Donna Mercedes wirkte Gerti Zeumer stimmlich und als Erscheinung reizvoll.

In nicht unwichtigen kleineren Aufgaben machten sich Kaja Borris, die Herren van Halem, Neralic, Vanti, Ecker, Murray und der nur am Rande beteiligte Chor um diese Begegnung mit einem mißachteten Schatz der jüngeren deutschen Operngeschichte verdient.

W. S.

___________________________________

    

     Die Welt, Ausgabe B, Berlin-West, 21. Dezember 1974     

Eine Oper auf der Suche nach sich selbst

Hugo Wolfs "Corregidor" konzertant in Berlin

    

Hugo Wolfs einzige Oper "Der Corregidor", von der Deutschen Oper Berlin konzertant aufgeführt im Rahmen eines lockeren Zyklus, der über die Jahre hin schon Mercadantes "Il Giuramento" und Schönbergs "Erwartung" vorstellte, leidet daran, daß es ihr nicht gelingt, ein übergreifendes musikalisches Klima herzustellen - eine Atmosphäre, in der Opernfiguren (und ihre Interpreten) atmen, singen, lieben, leiden und lachen können, als sei die Bühne tatsächlich ihre Heimat. Wolfs Oper aber spielt im Grunde nicht auf der Bühne, sondern im Arbeitszimmer des Komponisten, rund um das Klavier.

Zu allem Überfluß aber haben auf diesem Klavier offensichtlich immer wieder die Partituren Richard Wagners gelegen. Sie haben sich gewissermaßen auf die Niederschrift des "Corregidor" durchgedrückt. Richard Wagner als Spanien-Tourist - das ist das anklingende Ergebnis. Immer, wenn es besonders trivial wird, wird es im selben Augenblick auch sehr laut und pathetisch. Dann wetzt sich die schmale kompositorische Idee am schweren Blech. Wenn es in den Schlußhymnus einfällt und Trompeten, Hörner und Posaunen sich und dem stimmstarken Chor nebst Solistenensemble überschwenglich "Guten Morgen" wünschen, als gelte es, dem Hörer eine Weltweisheit größten Kalibers einzubleuen, verrennt sich Hugo Wolf gründlich.

"Der Corregidor" pumpt sich auf. Wo er das aber nicht tut, wo Hugo Wolf auf liedhafte Miniaturen zurückgreift, wo er nicht versucht, kontrapunktische Künste spielen zu lassen, deren Imponiergehabe eher ödet als interessiert, gewinnt sich seine Oper immer wieder eigenen Reiz. Dann erzielt sie eine seidige Intimität, die im ariosen Monolog der Müllersfrau zu Beginn des dritten Aktes schon auf die irisierenden, vokalen Alleingänge weist, die später Richard Strauss’ Domäne wurden: jene Verzückungszustände der Stimme, die in dieser Aufführung von Agnes Baltsa mit außerordentlichem dunklem Charme entfaltet wurden. Sie, die Griechin, gab der Aufführung aber auch einen Hauch vokaler Exotik, die ein Spanien suggerierte, dessen Kolorit nicht aus Wolfs Wiener Liederbuch stammt. In Frau Baltsa und in Gerti Zeumer, die mit ruhiger Klarheit die Gegenpartie sang, fand Wolfs "Corregidor" seine überzeugendsten Interpreten.

Sein genialster war Dietrich Fischer-Dieskau. Er sang die großartige Soloszene, die Wolf dem gekränkten, getäuschten, entehrten Müller zugewiesen hat, mit unübertroffener Meisterschaft - die Kleinformen Wolfs ins Große weitend, ihnen einen Explosivcharakter beimischend, der über der mächtigen Wirkung keine Sekunde die höchst kunstvolle Ziselierung der vorüberhuschenden Stimmungen preisgab. Von der Großform der Szene zur diskretesten Detailgenauigkeit und zurück schwang sich Fischer-Dieskaus Interpretation mit Leichtigkeit, als sei es das Einfachste der Welt, graziöse Liedcharaktere mit Operneruptionen zu verbinden. Ihm gelang es. Ihm galt Jubel.

Durch Indisposition arg behindert, ließ sich Horst Laubenthal in der Titelpartie hören. Heinz-Klaus Ecker fiel mit seinem saftigen, klangvollen Baß angenehm auf. Gerd Albrecht, Inspirator des Abends, dirigierte - offensichtlich verliebt in die feinfühligen Episoden des Werks und ihnen eine Art intellektuelles Brio beimischend, das der Aufführung gut bekam. Streckenweise erglänzte sie in geistvollster Lebendigkeit.

Klaus Geitel

___________________________________

    

     Süddeutsche Zeitung, München, 23. Dezember, 1974    

Die komische Oper par excellence?

Konzertante Aufführung von Hugo Wolfs "Corregidor" in Berlin

[...]

Gerd Albrecht hat sich der Partitur mit Umsicht, mit Geschmack und mit vorbehaltlosem Einsatz für Wolfs Musik angenommen. Allerdings hat er an mehreren Stellen, vor allem im vierten Akt Streichungen vorgenommen, die mir unbegründet schienen, und in die musikalische Substanz empfindlich eingegriffen (Verkürzung des Vorspiels, Kürzung der Wiedererkennungsszene). Das Orchester, von einigen Verzerrungen bei den Bläsern abgesehen, und der dramaturgisch so unglücklich placierte Chor ließen Hugo Wolfs Satzkunst vortrefflich zur Wirkung kommen. Nur gelegentlich fielen die überinstrumentierten Effekte störend ins Gewicht. Von den Solisten entledigten sich die meisten, da von Hugo Wolf ohnehin nur zu Statisten ausgebildet, ihrer Aufgabe mit sicherer Routine. Auch Horst Laubenthal als Corregidor konnte durch eine Indisposition nicht sehr viel mehr tun, Gerti Zeumer war als Corregidora bei ihrem einzigen Auftritt, der aber eine strahlende Stimme verlangt, deutlich überfordert. Agnes Baltsa als Frasquita, die den extremen Lagen ihrer Partie frei und leicht zu entsprechen vermochte, und Dietrich Fischer-Dieskau als Müller verliehen dem Abend den eigentlichen musikalischen Glanz. Vielleicht ist Fischer-Dieskaus Stimme in der Höhe nicht mehr ganz so wohllautend wie früher, aber die Macht und Wandlungsfähigkeit seiner Stimme, seine unerschöpflichen Möglichkeiten der musikdramatischen Charakterisierung und seine Präzision im Deklamieren sind nicht zu übertreffen. Insgesamt ein schöner vorweihnachtlicher Opernabend.

Norbert Miller

___________________________________

    

     Neue Zürcher Zeitung, 10. Januar 1975     

Oper in Berlin, West und Ost

Hugo Wolfs "Corregidor"

[...]

Auf die Szene ganz zu verzichten bedeutet für manche Opern einen wahren Liebesdienst. So für Hugo Wolfs einziges zu Ende geführtes Bühnenwerk, den "Corregidor". Denn daß der Stoff von Alarcons Novelle kein Drama ist und daß Rosa Mayreder weniger daraus zu machen verstand als Martinez Sierra und sein Anreger Sergei Djaghilew für das "Dreispitz"-Ballett Manuel de Fallas, darf als erwiesen gelten. Musikalisch besticht das Werk durch eine Überfülle an melodischer und formaler Eingebung; und das rechtfertigt seine konzertante Einstudierung mit Orchester, Chor und Solisten, wenn auch leider nur für eine einzige Aufführung in der Westberliner Oper. 1928 hatte Bruno Walter den "Corregidor" noch in Karl Heinz Martins Regie und Ernst Sterns Dekors herausgebracht; in der Staatsoper Unter den Linden wurde er nie gespielt.

Als Gustav Mahler 1904 zu spät dem jahrelangen Drängen seines Freundes nachgab und das 1896 in Mannheim uraufgeführte Stück ein Jahr nach Wolfs Tod in Wien dirigierte, hatte er die Partitur gründlich revidiert. Kürzungen und vor allem Entfettungen des Orchesterklanges waren notwendig, denn manche Reminiszenzen an "Tristan" und "Meistersinger" standen dem bis in Possennähe komischen Text nicht gut an. Auch die Berliner Aufführung mußte mit Kürzungen arbeiten, besonders weil der Träger der Titelpartie, Horst Laubenthal, schwer indisponiert war. Gerd Albrecht, Spiritus rector und glänzender Dirigent des Abends, ging dabei sehr vorsichtig ans Werk und ließ den Orchestersatz im wesentlichen intakt.

An der Spitze eines aus Stimmen vieler Färbungen kombinierten Ensembles stand Dietrich Fischer-Dieskau. Er war gesanglich in Hochform wie selten, entzündete sich spürbar an der musikalischen Aufgabe, deren Geist ihm als Liedersänger seit zwanzig Jahren vertraut ist. Der große Monolog im dritten Akt war Höhepunkt nicht nur seiner Gestaltung des Müllers Tio Lukas, sondern der Aufführung überhaupt. Auch Laubenthal hatte als Corregidor vorzügliche Momente, in denen er die Handicaps seines physischen Zustandes besiegte. Als seine Frau Mercedes bewährte sich Gerti Zeumer mit reizvoll timbriertem Sopran. Agnes Baltsa sang die Müllerin Frasquita mit Temperament und stimmlich überzeugend. Victor von Halem (Alkalde), Heinz-Klaus Ecker (Repela), Tomislav Neralic (Tonuela), Kaja Borris, Martin Vantin und William Murray ergänzten wirksam das Ensemble. Der Beifall war stürmisch.

[...]

H. H. Stuckenschmidt

___________________________________

   

     Berliner Rundschau, Berlin-West, 16. Januar 1975     

Oper: "Der Corregidor"

Delikatesse

    

Die Deutsche Oper Berlin führte Hugo Wolfs einzige Oper "Der Corregidor" konzertant auf. Für die Wahl dieses eigenartigen, reizvollen Werkes gebührt ihr Dank. Mit dem jüngeren Reger hatte er viele gemeinsame musiktheoretische Parallelen. Beide waren stark von dem Wagner-Erlebnis beeinflußt, vermochten aber eigene Stilentwicklungen zu prägen und sich dem Einfluß des großen Bayreuthers zu entziehen. Die besonders geartete Einstellung Wolfs zu Wagner entstand durch die gleiche Auffassung von Wort und Ton. Diese geistige Nähe bedeutet aber nicht Nachahmung, sondern Anregung. Sie setzt schöpferische Energien frei und erhob ihn auf dem Gebiet des Liedschaffens in den Rang eines "Klassikers".

Wolfs Musik ist für Kenner und Ästheten geschrieben, denen das subtile Filigran mehr gilt als das geschärfte Musikdrama. Er hält mehr auf Distanz als auf vorbereitete Wirkungen.

Die Aufführung dieses Werkes fand waches Interesse bei den Kennern der Opernliteratur und Aktivität im künstlerischen Ensemble. Bedeutend war die gesangliche Leistung der Agnes Baltsa (Frasquita), die ihre musikalische Aufgabe hervorragend beherrschte und zur Geltung brachte. Sie war fachlich eine würdige Gattin von Dietrich Fischer-Dieskau (Tio Lukas), auf dessen unnachahmliche künstlerische Darstellung seiner groß angelegten Partie man nur bewundernd und begeistert reagieren konnte. Heinz-Klaus Ecker als Gast (Repela) fügte sich gut ein und verstand seiner Rolle Ausdruck zu geben.

Horst Laubenthal war indisponiert, und dafür gelang es ihm, sehr beachtlich seinen Tenor einzusetzen. Die Chargenrollen waren durchweg großzügig besetzt und auch sorgfältig dargeboten. - Die musikalische Leitung lag bei Gerd Albrecht in guten Händen. Striche und Veränderungen waren mit gebotener Obacht vorgenommen worden, um keine Kostbarkeiten zu verschütten. Nach dem Tode des Komponisten überarbeitete Gustav Mahler das Werk und brachte es 1904 an der Wiener Hofoper zur Aufführung. Die Einrichtung für die heutige konzertante Aufführung machten weitere Veränderungen im Aufbau nötig.

Daß trotz dieser fremden Einflüsse das Werk dennoch eine so starke Ausdruckskraft Wolfscher Sprache ausübt, ist der überzeugendste Beweis für die Stärke dieser Oper. - Das Orchester und Gerd Albrecht leisteten feinsinnige Arbeit und wurden dafür mit verdientem Beifall belohnt.

M. B.

___________________________________

   

     Basler Nachrichten, 4. Januar 1975     

"Der Corregidor" von Hugo Wolf

    

Mit der Wiederbelebung dieses Werkes hat die Deutsche Oper Berlin sich ein großes Verdienst erworben. Nach dem Fiasko der "Maskenball"-Inszenierung wäre die Bühnengestaltung dieser völlig zu Unrecht im Schatten der monumentalen Werke am Ausgang des vorigen Jahrhunderts schlummernden köstlichen Rarität gerechtfertigt gewesen. Wie selten ist ein deutsches heiteres Opernwerk in seiner Mischung von ernsten und burlesken Elementen mit soviel Geschmack und einer Fülle köstlicher musikalischer Einfälle gestaltet worden. Besonders die im zweiten Teil durch Verkleidung entstehende Verwechslung steckt so voller Humor, der konzertant nicht genügend zur Geltung kommen kann, sondern direkt nach szenischer Ausführung verlangt. Jedenfalls ist die Bekanntschaft mit diesem Werk eine verdienstvolle Tat des Hauses in der Bismarckstraße.

Zwei der Hauptrollen, mit Agnes Baltsa und Dietrich Fischer-Dieskau besetzt, boten den mit ihrem Theatergespür für tragische oder für komische Situationen fulminant begabten Starsängern Gelegenheit zu feinsten und wirkungsvollen Nuancierungen. Horst Laubenthal in der Titelpartie, dieser so außerordentlich sympathische und technisch bestens versierte Sänger, konnte wegen grippaler Behinderung seinen Tenor nicht glanzvoll einsetzen. Alle anderen gaben kräftig chargierte Typen, die Damen Gerti Zeumer und Kaja Borris mit makelloser Kantilene.

Gerd Albrecht bot mit dem Orchester eine schwungvolle Al-fresco-Ausdeutung. Doch alles in allem ein überraschendes Vergnügen für das Publikum.

Johann Friedrich Hasse

___________________________________

    

     Der Nord-Berliner,  Berlin-West, 3. Januar 1975     

Konzertante Aufführung der Deutschen Oper

"Der Corregidor" von Hugo Wolf

    

Wieder einmal machte sich die Deutsche Oper Berlin verdient durch die konzertante Aufführung einer lange nicht gespielten Oper - "Der Corregidor" von Hugo Wolf. Der große Neuschöpfer des Klavierliedes Wolf hat diese Oper als einzige vollendet, sie wurde im Jahre 1896 in Mannheim uraufgeführt, seit 1928 stand sie nicht mehr auf dem Spielplan. Um die Entstehungszeit des Werkes entstanden im deutschsprachigen Raum drei Bühnenschöpfungen von spezifischer Bedeutung: Hans Pfitzners "Armer Heinrich", Engelbert Humperdincks "Hänsel und Gretel" und Hugo Wolfs "Corregidor". Nur die Märchenoper fand die notwendige Publikumsresonanz.

Grund für den Mißerfolg des Wolfschen Werkes sind die zahlreichen Mängel und Ungewandtheiten des Textbuches von Rosa Mayreder-Obermayer nach der "Dreispitz"-Novelle von Pedro Antonio de Alarcon. Musikalisch dagegen gehört diese komische Oper zu den Kostbarkeiten deutscher Opernliteratur.

So ist es auch Gerd Albrecht, der die musikalische Leitung der Aufführung übernommen hat, hoch anzurechnen, daß er das Werk aus der Vergessenheit gerissen hat, eine Oper, die selbst bei einer konzertanten Aufführung erkennen läßt, wieviel an dramatischen Kontrasten in ihr steckt. Diese Aufführung sollte zu Überlegungen führen, das Werk wieder einmal auf die Bühne zu stellen.

Gerd Albrecht führte das Orchester, einen vorzüglichen Klangkörper, mit leichter Hand, er bringt die Kostbarkeiten der Partitur - sowohl Lyrik wie Dramatik - großartig zum Klingen. Die Aufführung wurde aber auch einmal mehr zu einem Fest opulenter Stimmen.

Horst Laubenthal in der Rolle des Corregidors war plötzlich an einer Grippe erkrankt, trotzdem war er kollegial bereit, die Partie zu singen. Er zeigte eine eindrucksvolle Leistung, wenn auch der tenorale Glanz fehlte. Großartig und genau besetzt waren die Partien des Müllers und seiner Frau durch Dietrich Fischer-Dieskau und Agnes Baltsa. Für die Soloszene im dritten Akt erhielt Fischer-Dieskau berechtigten Sonderbeifall, Lyrik und Dramatik fließen hier ineinander. Victor von Halem überzeugt einmal mehr mit der phantastischen Fülle seines Basses, Gerti Zeumer gelingt es vorzüglich, seelische Stimmungen zu interpretieren. Auch die übrigen Mitwirkenden Tomislaw Neralic, Martin Vantin, Heinz-Klaus Ecker, William Murray und Kaja Borris überzeugen sowohl stimmlich wie in der Ausdruckskraft. Der Chor unter der bewährten Leitung von Walter Hagen-Groll weiß trotz der wenigen Auftritte einmal mehr zu beeindrucken. Viel Beifall eines dankbaren Publikums!

H. D.

___________________________________

   

     Die Rheinpfalz, Ludwigshafen, 4. Januar 1975     

Ein Stiefkind wurde entdeckt

Riesenbeifall für Hugo Wolfs Oper "Der Corregidor" in Berlin

   

Hugo Wolfs einziges vollendetes Bühnenwerk "Der Corregidor" (1896) stellte die Deutsche Oper Berlin in einer konzertanten Wiedergabe mit brillanter Sänger-Besetzung - fast ein halbes Jahrhundert nach der letzten szenischen Berliner Aufführung - einem verblüfft und enthusiastisch reagierenden Publikum vor. Der Beifall war enorm.

"Der Corregidor", Stiefkind des Opernrepertoires, für das sich vor zwölf und vor zwei Jahren Bühnen in Düsseldorf und Zürich eingesetzt haben, erweist sich in der neuen Interpretation unter der engagierten Leitung des Dirigenten Gerd Albrecht als ein beschwingtes Lieder-Spiel und Schmuckstück musikalischer Charakterisierungskunst.

Das Berliner Plädoyer für diese 1804 in Andalusien spielende tragikomische Oper nach der Novelle "Der Dreispitz" des spanischen Dichters Pedro Antonio de Alarcon entreißt ein zu Unrecht vernachlässigtes Werk des musikalischen Theaters der Vergessenheit.

Als kokette schöne Müllerin Frasquita entzückt die junge Griechin Agnes Baltsa durch einen vielfarbig schillernden Mezzosopran und darstellerische Präsenz, die der konzertanten Aufführung Theaterleben verleiht. Dietrich Fischer-Dieskau fasziniert vor allem in dem leidenschaftlichen Monolog des sich betrogen glaubenden Müllers. Die Titelpartie des lüsternen spanischen Richters sang trotz Indisposition Horst Laubenthal mit biegsamem Tenor. Auch die übrigen Solisten trugen neben dem von Walter Hagen-Groll einstudierten Schlußchor zum Erfolg dieser Wiederentdeckung bei.

(DPA)

___________________________________

    

     Spandauer Volksblatt, Berlin-West, 20. Dezember 1974     

Kostbarkeit aus der Grauzone

Hugo Wolfs "Corregidor" konzertant in der Deutschen Oper Berlin

   

Nicht einmal der Name Fischer-Dieskau war diesmal zugkräftig genug, das Haus der Deutschen Oper bis auf den letzten Platz zu füllen. Noch hat sich offenbar nicht genügend herumgesprochen, welche wichtige Neuerung das Berliner Kulturleben dem Einfallsreichtum des Dirigenten Gerd Albrecht mit den konzertanten Opernaufführungen verdankt. Licht fällt dabei in die Grauzone des Repertoires zwischen Archiv, Schallplatte und Bühnenrealisation.

Auch diesmal erspielt Albrecht dem Objekt seiner Mühe einen einhelligen Erfolg, der sich für die Protagonisten in die Nähe der sonstigen lauten Opernbegeisterung steigerte. Das ist um so höher zu bewerten, als Hugo Wolfs einzige vollendete Oper nichts gemein hat mit den unbedenklich effektvollen vokalen Schmetterkunststücken Mercadantes, dessen "Il Giuramento" vor Monaten die Reihe konzertanter Aufführungen eröffnete.

Warum "Der Corregidor" sich nie wirklich durchgesetzt hat, ist - mit dem Ausdruck des Bedauerns der Kenner - oft beschrieben worden. Wolf, der Meister des Liedes, teilte das Schicksal Schuberts, die erfüllte lyrische Form nicht bühneneinladend weiten zu können. Es bedürfte da nicht unbedingt gröberer Akzente, aber eines Netzes mit größeren Maschen. Harmonischer und psychologischer Feinschliff und die Verwendung übergreifender Wagnerscher Leitmotivtechnik (die Wolf Schubert historisch voraus hat) helfen dem Mangel an dramatischer Wirksamkeit nicht ab, die sich auch in Ungeschicklichkeiten des von einer Wiener Dame verfaßten Librettos äußert.

Dabei ist der Stoff nicht ohne Drastik. Die Erzählung des Alarcon - nach der später Manuel de Falla sein gleichnamiges Ballett "Der Dreispitz" schuf - hat komödien-, ja schwankhafte Züge. Wie der Corregidor sich an die schöne Müllerin heranmacht und von ihr hereingelegt wird, ist dem "Falstaff" parallel. Nur: In ihrer ungefährdeten Treue, die allenfalls den allzu selbstsicheren Gemahl noch ein wenig erziehen will, ist die Müllerin eine "Fidelio"-Heroine. Dazu paßt, daß auch der Rachefeldzug des eifersüchtigen Müllers, der sich verkleidet der Corregidora nähert, in vollständiger Harmlosigkeit endet.

Musikalisch ist deshalb Wolfs Oper merkwürdigerweise unwirksam, wo sie sich mit schnellen Streicherfiguren, eingängigem Melos und kecken Bläserakzenten betont lustspielhaft gibt; sie wirkt da unglaubhaft. Zum Glück ist das nur selten. Meist entfaltet sie lyrisch strömend einen orchestralen Märchenteppich, aus dem sich charakteristische vokale Gebilde ergeben. Das Duett des Müller-Ehepaares im zweiten Akt, die tenorale Klage des Corregidor über die Weiber, manch köstliches Ensemble sind unmittelbar ins Ohr gehende Entdeckungen.

Dietrich Fischer-Dieskau gestaltet vor allem die große Soloszene des Müllers im 3.Akt aus tiefer Wolf-Vertrautheit zum Monolog eines an sich selber irre werdenden ehrenhaften Menschen; an dieser Stelle werden Lyrik und Dramatik eins. An stimmlicher Frische übertraf ihn diesmal streckenweise seine Partnerin Agnes Baltsa, die sich in die innigen wie koketten Züge der Müllerin geradezu eingelebt hatte.

Horst Laubenthal in der Titelrolle vermittelte trotz Indisposition den Umriß dieser Bramarbasfigur, Gerti Zeumer stand ihm mit ihrem gehaltvollen Sopran zur Seite. Die Nebenfiguren sind - was Wunder bei einem Meister der kleinen Form - von Wolf reich bedacht; das wußten der vielbeschäftigte und stets zuverlässige Viktor von Halem, ebenso Martin Vantin, Tomislav Neralic, William Murray, Kaja Borris zu nutzen. Heinz-Klaus Ecker hatte mit seinen zahlreichen musikalischen "Hatschi""-Niesexplosionen einen jahreszeitlich aktuellen Part. Im Orchester, das Albrecht zugunsten der Sänger vernünftig dämpfte, war die Freude an den Schönheiten der Partitur bei allen Gruppen unverkennbar. Auch der Chor Hagen-Grolls meisterte seine nicht umfangreichen, aber wichtigen Aufgaben im zweiten Teil mit gewohnter Überlegenheit.

Soll man’s nun mit dem "Corregidor" auch auf der Bühne versuchen? Gelegentlich wohl; das nächtliche Verwechselspiel gewönne doch eine Dimension hinzu. Aber vorher müßte man das Werk durch konzertante Wiederholungen "einbürgern", damit es sich sein Publikum schafft. Die öffentliche Durchsicht von Randwerken des Repertoires verdient jedenfalls gesteigertes Interesse.

Hans-Jörg von Jena

zurück zur Übersicht 1974
zurück zur Übersicht Kalendarium