Zum Liederabend am 8. März 1975 in Hamburg


    

     Die Welt, Hamburg 10. März 1975     

Im Zeichen Eichendorffs

Dietrich Fischer-Dieskaus Liederabend in der Musikhalle

     

Kaum ein zweiter hat nach dem Krieg im Liedgesang so sehr die Maßstäbe gesetzt wie Dietrich Fischer-Dieskau. Dessen wurde man sich bei seinem Liederabend am Sonnabend in der Musikhalle wiederum bewußt. Freilich, es gibt auch Gesangsfans, die seine Art nicht mögen. Vermutlich liegt es daran, daß seine Liedgestaltung über die Kategorie Gesang hinausgreift, daß sie weniger spontan als vielfach gefiltert erscheint, daß vor stimmlichem Reiz die geistige Durchdringung eines Liedes rangiert. Diese setzt am Text, am Gedicht ein. Gehalt, Sprachrhythmus und Wortmelodie, womöglich der gesprochene Vortrag werden zur Vertonung in Beziehung gebracht. Das ist, wenn man so will, ein intellektuelles, ein literarisch geprägtes Verfahren.

Die Sensibilität des Sängers, seine Fähigkeit zur Einfühlung lassen jedoch Interpretationen entstehen, die bei aller dahinterstehender Reflexion unmittelbar anrühren und in der Fülle ihrer Zwischentöne anderen überlegen sind. Schöne Stimmen gibt es eine ganze Menge, aber nur wenige vermögen Jubel und Trauer, Auftrumpfen und leichte Verzückung so intensiv auszusingen.

Bei einem Sänger, der sich so stark mit Sprache und Text auseinandersetzt, überrascht es nicht, wenn er einen Dichter in den Mittelpunkt eines Liedprogrammes rückt. In diesem Fall Joseph von Eichendorff. Die schlichte Sprache seiner Naturlyrik, ihre Wortmusik, regte immer wieder Komponisten an, sie in Töne zu tauchen. Die Traumlandschaften, die er entwirft – mit Feldern, Schlössern und Burgen, mit Türmen, Zinnen und Söllern, halb versunkenen Mauern, Marmorbildern, erfüllt von Glockenschlägen, Waldesrauschen, Posthorngetön, fast immer ins Zwielicht getaucht, in Dämmer-Abendrot, Schatten und Mondesschimmer – ihre Schauer, die er beschwört, und die Sehnsüchte, die sich in ihnen spiegeln, waren für die romantischen Musiker immer wieder das Zauberwort, durch das die Welt zu singen anhebt.

Und gerade wie Fischer-Dieskau dieses Zwielichtige, Geheimnisumwitterte, Raunende und Schauernde im Ausdruck trifft, wie nichts von dem hintergründigen Hell-Dunkel verlorengeht, dem ist so leicht nichts vergleichbar. Kostbar auch, wie er in den mehr heiteren und kecken Liedern Spaß und Ironie in der Schwebe zu halten versteht.

Was die Auswahl der Eichendorff-Vertonungen angeht, so ließ es der Sänger nicht bei Bekanntem bewenden. Nur einiges von Schumann – die berühmte "Mondnacht" war nicht dabei -, dafür aber der selten zu hörende großartige "Einsiedler", drei Lieder von Mendelssohn, an dessen Sologesang man sich häufiger erinnern sollte. Neben Gruppen von Wolf und Pfitzner Kompositionen von Reinhard Schwarz-Schilling – recht apart das ironische "Bist du manchmal auch verstimmt" – und von dem Dirigenten Bruno Walter, dessen "Soldat" durchaus als Konkurrenz des Wolfschen gelten kann.

Dem Ruf Günter Weißenborns, ein exzellenter Klavierbegleiter zu sein, war an diesem Abend nichts hinzuzufügen. Mit Genuß ließ man sich von ihm auf die Stimmung eines Liedes vorbereiten und in Zwischen- und Nachspielen weitertragen. Der Sänger konnte sich bei ihm wohl aufgehoben wissen.

Wie groß die Faszination war, die von beiden Musikern ausging, ließ sich am besten in der Konzentration und gespannten Aufmerksamkeit ermessen, mit der die Zuhörer den einzelnen Liedgruppen folgten.

Harald Willgrün

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     Hamburger Abendblatt  10. März 1975     

Romantische Lieder von gestern für heute

    

Seine Liederabende pflegt Dietrich Fischer-Dieskau stets unter ein bestimmtes Thema zu stellen. Auf den ersten Blick sah es diesmal so aus, als handele es sich um ein todsicheres Romantiker-Programm: Lieder nach Gedichten von Joseph von Eichendorff.

Aber leicht macht es sich der berühmte Sänger nie. In seine Auswahl von Eichendorff-Vertonungen bezog er neben solchen von Mendelssohn, Schumann und Wolf auch fünf Lieder des "Schwierigen" Hans Pfitzner ein. Und dessen grüblerisch grimmige Art, mit romantischen Zauberworten wie Abendglocken, Wehmut, Mondschein, Meeresrauschen oder Waldesschatten umzugehen, eröffnete ganz andere Perspektiven. Da kamen überraschend moderne, spröde, unsinnliche, fast atonale Klänge ins Spiel. Da hört man plötzlich eine Zeile, die so klang, als wäre sie eben gesprächsweise erfunden: "Kennst du noch die irren Lieder aus der alten schönen Zeit?"

Überhaupt stellte sich während der Liederfolge heraus: Das sind ja nicht nur schöne Melodien und träumerisch melancholische Meditationen. Hinter der lyrischen Musikalität der Sprache Eichendorffs spürten sechs Komponisten des 19. und 20. Jahrhunders besondere Konfliktsituationen. Und die musikalische Intelligenz des Interpreten (mit dem vertrauten Partner Günther Weißenborn am Flügel) filterte sublimierte Lebenserfahrung aus den romatischen Versen heraus.

Kaum einer der begeisterten Zuhörer in der ausverkauften Musikhalle wird das Soldatenlied des Dirigenten Bruno Walter oder die Liebeserklärung an die verstimmte Violine von Reinhard Schwarz-Schilling gekannt haben: zwei der pointiertesten Vertonungen, die mit entzückter Heiterkeit aufgenommen wurden.

Sabine Tomzig

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