Zur Opernaufführung am 27. Juli 1975 in München


    

     Süddeutsche Zeitung, 29. Juli 1975     

MÜNCHNER OPERNFESTSPIELE

Erholung vom Symbol

"Parsifal" unter Sawallisch im Nationaltheater

     

Die Reste von Dietrich Haugks "Parsifal"-Inszenierung, die in die Uraufführungszeit weisenden Bühnenbilder von Günther Schneider-Siemssen und nicht zuletzt Wolfgang Sawallischs überlegen disponierte, klare, zügige Interpretation gönnen Erholung vom Symbol, Urlaub von der Tiefenpsychologie, Aufatmen von der Last der Bedeutsamkeiten. Man genoß, wie der Beifall zu verstehen gab, einen "Parsifal" pur, wozu Sawallisch und das Staatsorchester nicht wenig beitrugen, indem sie die Verwandlungen, Verwandtschaften und Beziehungsfülle der Motive – das eigentliche Wunder der Partitur – mit zwingender Deutlichkeit darlegten. Ein "Parsifal" ohne Geheimnis, aber ein "Parsifal", bei dem einen nie das Gähnen anwandelte.

Der lichten Akkuratesse der Aufführung entsprachen vorab die Blumenmädchen und Sven Olof Eliasson. Rank und schlank, intelligent und intensiv erschien statt des üblichen Waldkaplans auf dem Wege zur Seligsprechung ein Heldentenor, wie ihn sich die Intendanten, die Dirigenten und die jungen Mädchen erträumen: ein Parsifal von geradlinigem Stimmglanz und ein tumber Waldläufer, der die Wandlung vom Schwanentöter zum Erleuchteten des Mitleids unsentimental verdeutlicht. "Parsifal" ist schließlich auch verbühnter Erziehungsroman, frei nach Wolfram von Eschenbach. Seit Wolfgang Windgassen hat dies wohl keiner mehr so bezwingend dargelegt.

Mit der Sachlichkeit einer Biologielehrerin beim Sexkunde-Unterricht bewältigte Janis Martin die Kundry des zweiten Akts, wobei sie nicht verhehlte, daß sie unter dem Zwang des bösen Klingsor (Heinz Imdahl) steht. Man hörte eine ideale Kundry-Stimme: einen dramatischen Sopran voll Kraft und latentem Alt-Timbre. Was Wunder, daß Parsifal Anwandlungen zeigte, vom Pfad der Tugend abzuweichen. Ziemlich ungerührt von seiner Rolle als Chronist und Majordomus des Grals zeigt sich Kurt Moll. Er vertrat die korrekturbedürftige Ansicht, der Gurnemanz sei eine Belcanto-Partie für einen Bassisten, dem geschmeidige Kraft in Höhe und Tiefe zu Gebote steht. Karl Helm war ein respektabler Titurel.

Den Amfortas steigerte Dietrich Fischer-Dieskau zum Inbegriff des Schmerzes, des Selbstvorwurfs und des Leidens an der Schwäche des Fleisches. In der schneidend artikulierenden Donnerstimme erhob sich die Klage über die Hinfälligkeit des Menschen. Amfortas sang sozusagen aus allen Wunden. Die Dimensionen des "Parsifal", die im übrigen mehr umspielt oder angedeutet wurden, brachen auf. Daß sich hier das Geschehen im Innern der Gestalten ereignet, teilte sich unabweisbar mit. Keiner leidet Fischer-Dieskau den Amfortas nach.

Karl Schumann

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     Bremer Nachrichten, 12. August 1975     

Gewitterstimmung lähmte die Begeisterung nicht

Besuch in Veronas 25 000 Zuschauer fassenden Arena - Drei Opernaufführungen auf dem Spielplan

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Auf dem Wege nach Verona hatte ich Gelegenheit, bei den Münchener Festspielen den allerorts gelobten, von einer Fachzeitschrift sogar als "Aufführung des Jahres" apostrophierten, von Dietrich Haugk inszenierten "Parsifal" zu erleben. Gewiß, hier hat man einen Schritt vom Weihespiel weg getan, aber man ist dann doch letzten Endes auf halbem Wege stehen geblieben. In den Gralsszenen wird zelebriert wie eh und je, und die Blumenmädchen vollführen einen in seiner Langweiligkeit geradezu einschläfernden Ausdruckstanz. Zudem sind Günther Schneider-Siemssens Bühnenbilder eine fast genaue, nur in wenigen Ansätzen (und da auch nicht immer glücklich) weiterentwickelte Übernahme seiner Konzeption, die er 1957 schon für das Bremer Theater am Goetheplatz entworfen hatte.

Gesanglich stand Fischer-Dieskau im Mittelpunkt des Interesses, obwohl seinem zwar äußerst intelligent durchgestalteten Amfortas die Fülle des Heldenbaritons abgeht. Dem stimmlich recht forcierten Parsifal von James King hörte man deutlich an, daß er sich innerhalb weniger Tage erst in Salzburg ("Frau ohne Schatten") und dann in Bayreuth ("Walküre") in großen Partien produziert hatte. Janis Martin schließlich, stimmlich bei leichter Überforderung doch insgesamt sehr eindrucksvoll, müßte als Kundry, wollte sie Parsifal wirklich verführen, auf ihre unfreiwillig komische Bodenakrobatik verzichten und die Partie mit einem guten Regisseur einmal gründlich durcharbeiten.

Viel Beifall, auch für den dramatisch handfesten Dirigenten Wolfgang Sawallisch. Dennoch: nach allem was man über ihn gehört hat, ist dieser Münchener "Parsifal" enttäuschend.

Gerhart Asche

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