Zur Oper am 17. Juli 1976 in München


Süddeutsche Zeitung, 19. Juli 1976

Münchner Opernfestspiele 1976

Figaros zweite Hochzeit

Auch die zweite Hochzeit, die Karl Böhm und Günther Rennert dem Figaro heuer ausrichteten, war ein Triumph für die herrliche und völlig unverkrampft ausgebreitete Mozartsche Musik und wurde dank der natürlich, perfekt und dabei scheinbar übermütig agierenden Sängergarde wieder zu einem ganz großen Festabend. Ovationen und Jubel von Anfang an, als Böhm im Orchester erschien und wiederum mit ebenso verblüffender wie inspirierender Ökonomie seiner Kunstmittel den Tollen Tag eröffnete. Ausgiebigster Szenenbeifall wird Lilian Sukis gespendet, die nun in der Rolle der Gräfin zu hören und zu betrachten war: An hoher Gestalt ihrem adligen Gemahl Fischer-Dieskau fast ebenbürtig (was in der Verkleidungsszene im Finale des vierten Akts erhebliche Verdunklung im Park verlangt, um ihm Reri Grists Susanne recht glaubhaft vorzuspiegeln), erlesen frisiert und gekleidet und - ein bißchen fad; la triste femme délaissée; überzeugendes Sinnbild derer, die seit ihrer Kindheit nichts anderes zu tun haben als an sich zu denken. Die elegische Kavatine des ersten Erscheinens nicht von marmorner Vollkommenheit einer Elisabeth Schwarzkopf, sondern eher von unterdrücktem Schmachten geleitet; von verhaltener (so verhalten, daß die akkompagnierende Oboe direkt rivalisierend hörbar wurde) Trauer und nur sparsamen dramatischen Aufbrüchen die grandiose Arie vor dem Briefduett, das - ebenfalls sehr lieblich, sehr gedämpft, sehr intim - ein wenig zum Zweifel einlud, ob die resignierende hohe Frau das diebische Vergnügen ihrer Zofe am Verkleidungsschabernack wirklich teilt. So daß wir, wie Alfred Einstein weise bemerkt, selbst nach der Erkennungsszene der beiden Liebenden "durchaus nicht beruhigt über das künftige Eheglück der armen Gräfin" sein müssen.

Roe

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     tz, München, 20. Juli 1976 

Lilian Sukis als Gräfin im "Figaro"

  

Nach einer aus dem Nichts angehuschten, zauberhaft hingeperlten Ouvertüre, einem szenisch und musikalisch explodierenden 1. Akt (Rennert und Böhm zündeten ein Feuerwerk), mischte sich erstmals Lilian Sukis als Gräfin unter die Starbesetzung des diesjährigen Festspiel-"Figaros".

Nicht leicht, an dieser Position einzusteigen - und so dauerte es auch eine geraume Zeit, bis der ganze Aktionszauber der Sukis zum Tragen kam. Spätestens aber in der großen C-Dur-Arie, dem hingehauchten "Dove sono", zeigte sich die stimmliche und darstellerische Noblesse dieser Sängerin, ihr Stil und ihre Geschmackssicherheit. Trotzdem - oder gerade deshalb - wirken bei ihr die gehäuften (weil emotionsgebundenen) Vorbehalte als befremdliche Sentiment-Drücker. Das große Stretta-Appassionato, obwohl wunderschön gesungen, fiel rationeller Ökonomie zum Opfer, und das nachfolgende Briefduett klang leicht stimmverhangen und larmoyant überdehnt.

Fazit: Neben dem makellosen Perfektionisten Fischer-Dieskau als Grafen kann kaum eine Leistung des Abends voll bestehen. Seine einmalige Präsenz, Stilsicherheit und Selbstverständnis prägen die Aufführung zum Almaviva-Festival.

E. Lindermeier

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     Bayern-Kurier, 24. Juli 1976      

Münchner Opernfestspiele

Eine Sternstunde unter Karl Böhm

"Figaros Hochzeit" und Preys Liederabend

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Zum überwältigenden Ereignis bislang der Festspiele wurde Rennerts Inszenierung des "Figaro", jahrealt, doch unverändert frisch, in den Revolutions-Louis-Seize-Interieurs von Rudolf Heinrich und seinen vollendet schönen Kostümen. Habitués ersten Grades sangen unter Karl Böhm, dem zu danken ist, daß aus vielen günstigen Voraussetzungen tatsächlich die Sternstunde wurde: Fischer-Dieskau als Graf, Prey als Figaro, zwei Bariton-Herren an der Spitze der Gagenliste, die in diesem Stück ja listig rivalisieren dürfen, was der Eskalation des Spiels, seiner Laune und einer stimmlichen Geschmeidigkeit zugute kam, die, sagen wir’s ehrlich, oft ans Wunderbare grenzte. Lilian Sukis, nach ihrer großen Arie von Ovationen fast erdrückt, hatte den Herren vor allem mozartische stimmliche Kultur und die depressive Eleganz der Rolle entgegenzusetzen: man verstand den Grafen schon ein bißchen, wenn er der eigenen Frau vielleicht deshalb nur bedingt nachstellte, weil sie ihn immerzu an ihre leicht zerstörbare Frisur erinnern könnte. Brigitte Fassbaender, ein hinreißender Cherubino, schluckte zunächst ein bißchen in der Höhe herum, während Reri Grists Susanna unverändert die Erfüllung dieser Rolle ist; ein kantilenes Temperament zum Verlieben, gerade so munter, daß die Grenze nie verletzt ist. Die diversen Edelwurzen, alles prachtvolle Rennert-Beaumarchais-Typen, verhalfen der Aufführung zu weitgehender Vollkommenheit; und bei aller Spiellaune war der politische Hintergrund transparent.

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W. J. M. / D. K.

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     Oberhessische Presse, Marburg, 24. Juli 1976

Sternstunden für die Hausgötter

Mozart- und Strauss-Opern bei den Münchner Opernfestspielen

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Ungetrübtes Mozartglück

Ein Abend reinen Mozartglücks bescherte die Aufführung von "Figaros Hochzeit", die bereits als Salzburger Modellinszenierung unter dem Team Rennert/Böhm weltweit Furore machte. Auch der Münchner Abend hielt glorios, was die Papierform versprach. Rennerts brillante Kunst der Menschenführung, sein psychologisch durchleuchtetes Konzept war frisch poliert und um viele neue Details bereichert worden, Karl Böhms unübertreffliche Mozart-Kompetenz, seine Fähigkeit, mit den Sängern zu atmen, die untrügliche Sicherheit seiner einfach "richtigen" Tempi verband Parlandoleichtigkeit mit Kantilenen-Schmelz und einer schwebenden Transparenz, ohne Dynamik und Tempo zu vernachlässigen. In dem schlechthin idealen Sängerensemble war das Gesangsduell der Bariton-Fürsten Hermann Prey und Dietrich Fischer-Dieskau von besonderem Reiz. Dieskaus überlegene Intelligenz und Bühnenpräsenz gaben dem Grafen Almaviva unverwechselbares Herren-Profil, Preys pfiffiger, stimmschöner Figaro brachte die komödiantische Spiellaune des Künstlers zu vollster Entfaltung. Der gewandte Hans Dampf in allen Gassen schlug bisweilen recht aggressive Töne seinem Dienstherrn gegenüber an und machte den Revoluzzer in der Diener-Livrée in jeder Minute glaubhaft. Der die beiden umgebende Damenflor - Lilian Sukis als damenhaft-elegische Gräfin, Reri Grist als koumbinenhaft graziöse Susanna und Brigitte Fassbaenders bubenhaft-stürmischer Cherubino entzückten ebenfalls durch gelöstes Spiel und ein makelloses Legato in den Arien wie bestechende Perfektion in den Ensembles, vortrefflich ergänzt durch Margarethe Bence (Marzelline), Benno Kusche (Bartolo) und David Thaw (Basilio). Die Geschlossenheit des Ensembles, der vollkommene Einklang von Musik und Szene erreichte Momente, die alles vergessen machten, nur noch Mozart herrschte vor. Was kann man von einer Aufführung mehr sagen? Endloser Jubel am Ende, der alle einschloß.

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Ingeborg Köhler

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     Schwäbische Zeitung, Leutkirch, 21. Juli 1976        

Gala-Revue von Rennerts großen Taten

Als Angelpunkt der Münchner Opernfestspiele: "Figaros Hochzeit"

   

Mozarts "Figaros Hochzeit", in Günther Rennerts Inszenierung seit neun Jahren fester Bestandteil im Repertoire der Münchner Staatsoper und bei den sommerlichen Festspielen, 1968 noch unter Joseph Keilberths Dirigat, dann von Sawallisch übernommen, wurde heuer zweimal unter Karl Böhm gegeben.

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Wir beschränken uns auf die Erinnerung an die wohl beliebteste Rennert-Inszenierung, Mozarts "Hochzeit des Figaro". Das Werk widerspricht in allem der resignierten Behauptung, daß die klassische Oper als museale Kunstform in Vergessenheit geraten könnte. Rennert brachte das von Rudolf Hartmann zehn Jahre in der Rokokostrenge des Cuvilliéstheaters bewahrte Kleinod 1968 ins Nationaltheater, damals im klassizistischen Rahmen des großen Hauses für das Publikum ungewohnt, heute für uns eine durchaus verständliche Maßnahme. Denn Mozarts "Figaro", auch in der italienischen Originalsprache, gehört allem Volk und wird von jedermann verstanden, nicht nur von einer elitären Schicht.

Rennerts psychologisch feiner Personenführung zusammen mit Karl Böhms im wienerischen Allegretto-Geist zelebriertem Musizieren ist die darstellerische Synthese von Mozartschem Geist mit der dramatischen Idee der Verspottung des Ancien regime von Beaumarchais wohl erstmals so restlos geglückt, daß man in der Oper ihre Quintessenz in entzückender Deutlichkeit verspüren konnte. So erhielt die Aufführung ihre einheitliche Abrundung, und die optischen Akzente der Szenerie, Rudolf Heinrichs Bilder und Kostüme, jene symbolhafte, romantisch stilisierte Darstellung des Umbruchs vom Rokoko zum neuen, heroischen Jahrhundert, traten nicht mehr als Selbstzweck hervor, sondern bildeten nur einen in gewisser Weise wehmütigen Hintergrund zu dem prickelnd-frivolen Durcheinander der Figuren.

Dietrich Fischer-Dieskau, im Vollbesitz seiner sängerischen und gestaltenden Kunst, war als Graf Almaviva der gestrenge, launische Herr, noch unantastbar in Würde und Selbstbewußtsein, Hermann Prey, der aufbegehrende Gegenspieler Figaro, noch unterwürfig und etwas dummdreist jung in seinem quicklebendigen Naturburschentum, dazwischen Reri Grist als Susanna, Inkarnation von Anmut und Schalk, mit einer Stimme, die wie aus Silberfäden gesponnen aus dem Ensemble hervorleuchtete, Brigitte Fassbaender als Cherubino nicht mehr wie früher nur der verliebte Jüngling, ein Mozartscher Oktavian, sondern gereift in der feinen Studie eines liebestollen, unwiderstehlichen Burschen mit allen charmanten Unarten jugendlich-tölpelhafter Frechheit. Die Gräfin sang nach der viel bewunderten Gundula Janowitz an diesem zweiten Abend Lilian Sukis, ein sängerisches Juwel, nach ihrer Arie "Dove sono i bei momenti" im dritten Akt mit Ovationen gefeiert. Sie bildete als Frauenfigur im Sinne Mozarts den tragischen Mittelpunkt im Ensemble und bot in ihrer Intelligenz und künstlerischen Konzentration eine sehr hoch zu bewertende Leistung.

Karl Böhm, stürmisch bejubelt, leitete das Staatsorchester mit sparsamster Zeichengebung, wie Richard Strauss es einmal nannte, "mit der Krawatte dirigierend", die Lyrik der Mozartschen Partitur mit der Weisheit des Alters besinnlich auskostend, fein phrasierend, dem Orchester den großen Atem gebend und nur die wesentlichen Stimmen leicht hervorhebend. Der Schlußchor des gesamten Ensembles im Finale des vierten Aktes erklang dann wie Musik von Beethoven; man glaubte, den Chor zu Schillers "Ode an die Freude" zu hören.

Eckart Fricke

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