Zum Konzert am 17. Januar 1977 in München


Süddeutsche Zeitung, 19. Januar 1977

Ungleiche Ernste Gesänge

Karl Richter dirigierte "Ein deutsches Requiem" in München

Die unaufhaltsam fortschreitende Säkularisation der Kirchenmusik bringt es so mit sich, daß in unserer Stadt, kaum ist die Faschingszeit angebrochen, allein in zwei Wochen drei größere Requiem-Aufführungen angesetzt wurden. (Welche Chance für unsere Passionsmusiken, zur Wies’n-Zeit verstärkt zum Einsatz zu kommen!) Doch Karl Richter musizierte "Ein deutsches Requiem" von Johannes Brahms, und alle, alle kamen; und nur das fabelhaft freizügige Ballkleid der Solistin ließ ahnen, daß außerhalb des Museumssaals Hochsaison herrscht.

Brahms’ umfangreiche Partitur, die ihn fast über ein Jahrzehnt hinweg immer wieder beschäftigte, geht dem liturgischen Text aus dem Wege und damit auch seinen finsteren Drohungen des Jüngsten Gerichts. Wo Mozart, Cherubini, Verdi oder Berlioz Höllenqualen und Todesschrecken abschildern und die Fürbitte für den Frieden der Toten, komponiert Brahms seine selbst gewählten Bibelworte des Trostes; doch verzichter er auch auf die Anrufung des Erlösers: Nicht ein einziges Mal wird der Name Christi genannt; jeder der sieben textlich wie musikalisch symmetrisch sich entsprechenden Requiem-Sätze schließt mit tröstlicher Verheißung. Gnade, Seligkeit, Trost, ja Freude sind Schlüsselworte für die kompositorische "Stimmung", in der jeder der einzelnen Sätze ausklingt.

Karl Richters Interpretation hatte Ernst und Würde und war dort am überzeugendsten, wo Brahms’ Gebrauch archaischer Formen eine eher barocke Musizierweise nahelegt: also in vielen von Motorik oder Polyphonie erfüllten Partien, etwa das "Die Erlöseten des Herrn" im zweiten Satz, "Der Tod ist verschlungen" sowie die Fuge im sechsten. Aber auch der Schlußsatz in seiner melodischen eindeutigen Stimmungslage hatte in seiner geglückten Balance von Chorsatz und Orchesterstimmen große Überzeugungskraft und Wärme.

An manchen, leider zu häufigen Stellen war diese Balance gestört. Vor allem in dem nicht "ziemlich langsam", sondern extrem ruhig angelegten Kopfsatz war der Chor im Volumen oft so zurückgenommen, daß über sein "piano" das vorgeschriebene "pianissimo" des Orchesters fast grob dazwischen fuhr, ja fahren mußte. Hundert Sänger können zurückhaltender singen, als es der kultivierteste Holzbläsersatz vermag. Viele klangliche Feinheit des Chores mußte daher hinter dem Orchester verborgen, beinahe unhörbar bleiben. Vor allem die beiden ersten Sätze litten unter diesem Mißverhältnis von klanglichem Anspruch an Vokal- und Instrumentalstimmen. Dabei ließ Richter das Orchester selten aus den Augen, aber dennoch mißriet leider der Beginn der großen Fuge im sechsten Satz (wenn das "Allegro" die Achtel zu Viertel werden läßt).

Im Gegensatz zum Sopran des Chores erklomm die warme leuchtende Stimme von Hildegard Behrens das hohe A (und noch einen Ton darüber) mühelos und überzeugend makellos im langsamen fünften Satz (den Brahms erst zwei Jahre später dem schon vorhandenen Werk beifügte). Dietrich Fischer-Dieskaus Interpretation der Soli in diesem Werk hat eine rühmliche Tradition: Wieder imponierte seine Fähigkeit, durch musikalische Intelligenz und gestalterische Kraft gleichsam Innerlichkeit hörbar zu machen, sowohl Bußfertigkeit und Verzweiflung wie Hoffnung auf Gottes Gnade gleichermaßen überzeugend musikalisch zu vertreten.

Lesern und Konzertbesuchern sei zum Schluß verraten, daß es sich bei dem Chor um den Münchner Bach-Chor, bei dem Orchester um die Münchner Philharmoniker handelte - zwei Informationen, die das zwei Mark teure aber nicht werte Programmheft des Veranstalters glatt verschwieg.

Albrecht Roeseler

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     tz, München, 19. Januar 1977     

    

(Anm: Zur Aufführung kam "Ein deutsches Requiem" von Johannes Brahms)

 

Das Brahms-Requiem, von der Publikumsgunst nicht halb so gehätschelt wie das Verdische, ist relativ selten auf hiesigen Konzertpodien zu hören. Der Andrang zu Karl Richters Aufführung im Kongreßsaal war dementsprechend heftig.

Der Abend mit dem Bach-Chor, den Münchner Philharmonikern und den Spitzensolisten Hildegard Behrens und Dietrich Fischer-Dieskau hatte großartige Momente, rang jedoch im ganzen vergeblich um Homogenität.

Als Fremdkörper erwies sich vor allem der Bach-Chor, der für Brahms’ romantische Melodik einfach zu wenig Stimm-Glamour aufweist.

Hildegard Behrens, mit technischer Brillanz und Musikalität imponierend, stellte sich als Konzertsängerin vor. Das leicht Salome-gestreßte Organ hat ohne Zweifel große dramatische Qualitäten. Für den jenseitig-ätherischen Engelsgesang waren Stimme und Sängerin allerdings gleichermaßen "overdressed".

Bleibt der Star des Abends, Fischer-Dieskau, der mit einsamer Brahms-Kompetenz biblischen Ernst, Glaubensinnigkeit, Wärme und unverkrampfte Gesangsnatürlichkeit verströmte.

E. L.

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