Zum Liederabend am 18. Oktober 1977 in Essen


     Westdeutsche Allgemeine, Essen, 20.  Oktober 1977     

Die Kunst der Nuance

Schubert-Entdeckungen im Liederabend

     

Ihr Abend war eine Huldigung an den Franz Schubert, der noch zu entdecken ist: Dietrich Fischer-Dieskau und Svjatoslav Richter kamen am Schluß einer Tournee durch Konzertsäle der UdSSR in die Bundesrepublik. Einzige Station im Revier war der überfüllte Saalbau Essen.

Sie haben beide eine besondere Zuneigung zu Schubert: Richter hat mit seinen weiträumig epischen Sonaten-Interpretationen neue Maßstäbe gesetzt. Fischer-Dieskau aber vermittelte nicht nur durch seine Wiedergaben, sondern auch durch eine kluge Monographie den "Schubertianern" neue Erkenntnisse.

Er ist der beständigste Sänger, den ich kenne. Durch drei Jahrzehnte hindurch blieb die Qualität seiner Stimme (ihre Tragfähigkeit, ihr Modulationsreichtum, ihre Frische, der Herzenston ihres Timbres) unverändert. Zugleich beharrte er auf seiner ebenso oft kritisierten wie gerühmten Interpretationsmanier, die stetig an Selbstverständlichkeit und virtuoser Gelöstheit gewann.

Er ist davon überzeugt, daß auch Schubert mit purem "Belcanto" nicht beizukommen ist. So opfert er immer wieder, wo er es für richtig hält, dem scharf geprägten Rhythmus, dem explosiven Konsonanten, dem heftigen dynamischen Akzent die Vollkommenheit der Linie.

Aber wer vermöchte zum Beispiel "Nacht und Träume" so ruhig und ebenmäßig strömen lassen, wie Dietrich Fischer-Dieskau? Wer könnte wie er die plötzlichen Eintrübungen und Aufhellungen, die ganz zarten Regungen der "Abendbilder" nachvollziehen, zweitausend Hörer mit leisen Nuancen in unbekannten Liedern fesseln und zugleich das extreme Pathos etwa von "Heliopolis" noch glaubwürdig erscheinen lassen?

Dazu Richters zugleich epischer und gesanglicher Stil, seine Kunst der empfindsamen Farbschattierung, seine bei aller Präzision "atmenden" Rhythmen, seine völlig im Ausdruckssinn aufgehende Virtuosität! Die Eigenschaften prädestinieren ihn zum Partner Fischer-Dieskaus, der vielleicht als einziger seines Fachs solche Konkurrenz nicht fürchten muß.

Zum Schluß gab’s eine ganze Serie von Zugaben für ein hingerissenes Publikum, das sich wünschte, diese Sternstunde des Liedgesangs möchte nie enden.

Klaus Kirchberg

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     Neue Ruhr-Zeitung, Essen, 20. Oktober 1977     

Fischer-Dieskau und Richter mit Schubert-Liedern

Ein Meisterkonzert von hohem Kunstrang

   

Kommt Dietrich Fischer-Dieskau aufs Konzertpodium, so ist auserwähltes Liedgut sicher. Ein Schubert-Programm lag, anhand der großen Schallplatten-Edition des Baritons, sozusagen in der Luft. Für Besonderes sorgte der Sänger beim Sonderabend der Essener Meisterkonzerte im Saalbau, indem er als Partner keinen Geringeren als Svjatoslav Richter mitbrachte.

Gewiß erlebt man sehr selten Schubertsche Klaviersätze in solcher Eloquenz und Klarsicht, wie hier von dem russischen Meisterpianisten, der allen Forderungen eines hochdifferenzierten Programms nachkam: mit hinreißenden Bravourstücken ("Auf der Bruck"); mit subtiler Klangmalerei, die den Begriff des Impressionismus schier auf Schubert rückwärts auszudehnen schien ("Abendbilder"); mit anrührender Versenkung in die klingende Poetik von tragischem Hintersinn ("Totengräbers Heimweh") bis zur scherzhaften Botschaft ("Liebeslauschen").

Gereifter Stil

Mit dieser, vom natürlichen Temperament mitbestimmten Souveränität stellte Richter das genau treffende Korrelat in dem sehr innigen Zusammengehen mit Fischer-Dieskau, bei dem wiederum die Verhaltenheit, ja das Untertreiben charakteristische Merkmale sind. Der seit je der Liedgestaltung ergebene Sänger hat von einstiger Profilschärfe zu einer gereiften Deklamationsweise gefunden, die auf das Gleichgewicht von Gedicht und Vertonung ausgeht.

Da lösten in der Serie romantischer Stimmungslieder nach eher zweitrangigen Dichtern die unterschiedlichsten Emotionen einander ab. Sie zeigen in der Auswahl von weithin ungängigem Gut Schuberts ganzen Reichtum, freilich auch die Wiederkehr von Modellen. Fischer-Dieskau greift jede Phase auf, spürt dem Detail nach, erfüllt im lockeren Stimmgebrauch vom Wort her die Melodie, zerpflückt sie manieristisch, läßt Ton und Farbe bis zum Verhauchen fallen – gefährlich bei der Akustik des Saalbaus.

In der Kombination sich so ergänzender Interpreten war es ein Abend von hohem Kunstrang. Das Publikum war begeistert und erzwang sich nach zwei Liedgruppen einen dritten, halbstündigen Teil mit sechs Zugaben.

F. W. Donat

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     Ruhr-Nachrichten, Essener Tageblatt, 20. Oktober 1977     

Schubert-Sänger mit kraftvollem Spätstil

Fischer-Dieskau und Svjatoslav Richter in Essen

    

Wenn sich Interpreten vom Range eines Dietrich Fischer-Dieskau und Svjatoslav Richter zusammentun, darf man auf einen Abend hoffen, der nicht beiläufigen "Kunstgenuß", sondern eine tiefschürfende Auseinandersetzung mit der Kunstform Lied vermittelt.

Das deutsch-sowjetische Duo – bei Liederabenden in Moskau und Leningrad soeben begeistert gefeiert – scheint auf seiner Deutschland-Tournee jene hohen Erwartungen in beispielhafter Weise zu erfüllen. Im Essener Saalbau gastierte es mit einer Auswahl aus Franz Schuberts unerschöpflichem Liedschatz. Eingetretene Pfade wollten die beiden Künstler freilich auch hier nicht gehen. Kein einziges der gängigen Schubert-Lieder war dabei.

Dietrich Fischer-Dieskaus Bariton ist in letzter Zeit offensichtlich sonorer, ja kraftvoller geworden. Abgenommen hat indessen sein Hang zur Überzeichnung des Details, zur geschmäcklerischen Deklamation auf Kosten einer spontanen Äußerung. So etwas wie ein "Spätstil" scheint sich anzukündigen, getragen von hoher Intelligenz, außerordentlicher Musikalität und stimmlichem Glanz. Im Ausloten kleinster Wendungen ist Fischer-Dieskau mit Svjatoslav Richter ebenso eins wie im Erfassen exponierter Situationen. So geraten Lieder wie "Auf der Bruck" oder "Aus Heliopolis" mit ihrem pathetischen Gehalt ebenso zum bezwingenden Ereignis wie die leisen, hauchzarten und doch intensiven Gesänge wie "Wehmut" oder "Abendbilder".

Die verfeinerte, sensitive Art des Sängers verbindet sich überdies in großartiger Weise mit Richters hochkonzentrierter Spielweise, die sich an der minimalsten Begleitfigur ebenso zu entzünden vermag wie am dramatischen Gehalt der kostbaren Miniaturen. Daß der sowjetische Meisterpianist den ganzen Abend über ein Höchstmaß an eigenen emotionalen Impulsen ins gemeinsame Musizieren einzubringen vermag, trägt sicherlich entscheidend zur nachhaltigen Erinnerung an diesen Abend bei. Ovationen und Zugaben.

Johannes K. Glauber

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