Zum Konzert am 18. Dezember 1977 in Berlin


Der Tagesspiegel, Berlin, 20. Dezember 1977

Noblesse und Feuer

Bachs Weihnachtsoratorium mit dem RIAS-Kammerchor

Mit dieser Aufführung der ersten drei Kantaten des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach und des Magnificat erinnerte der RIAS-Kammerchor nicht allein an seine eigene ruhmreiche Bach-Tradition der fünfziger Jahre. Uwe Gronostay, ein vorzügliches Solistenquartett und das Solistenensemble Berlin setzten mit diesem Konzert in der Philharmonie, das von europäischen, amerikanischen, sogar arabischen Rundfunkanstalten übernommen wurde, zweifellos einen neuen Standard der Bach-Interpretation. Was zu hören war, hatte alle Vorzüge einer im besten Sinne professionellen Aufführung für sich, Virtuosität bis ins chorische und instrumentale Detail, ausgewogene stimmige Tempi und eine durchgehende Leichtigkeit der Artikulation, die unserem heutigen Bach-Bild gänzlich entsprach.

In dieser Detailschicht der Aufführung allerdings stecken vielleicht noch verbesserungswürdige Nuancen. Die barocke Rhetorik ist an Figuren gebunden, an jenes tendenziell endlose, permanent weitertreibende Spiel neuer Setzungen und schöpferischer Varianten. Erst mit dem Ende des Satzes kommt die Musik vorläufig zur Ruhe. Bis dahin ist jene so schwer zu inszenierende Balance aus weiterführendem Drive und aller Plastizität des Augenblicks zu halten. Hier einzig in diesem Detail wünschte man sich gelegentlich mehr Intensität, mehr vorausschauende Formübersicht. Das gilt vor allem für die Realisierung der instrumentalen Partien. Auch sie allerdings atmeten in den Violinen zumal in den Holzbläsern durchaus Vollkommenheit.

Es spricht für diese Aufführung auch, daß sie Divergenzen der solistischen Partien sehr bald völlig zurücktreten ließ, so als ob sie eingeschmolzen wären in das Gesamtkonzept. Edith Mathis, Sopran, Marga Schiml, Alt, Adalbert Kraus, Tenor, und Dietrich Fischer-Dieskau, Bariton, sie alle sind in den Opernhäusern der internationalen Musikszene zu Hause, keine Bach-Spezialisten, keine Oratoriensänger aus Profession, aber Kraus faszinierte durch seine instrumental geführte Stimme, Fischer-Dieskau durch Noblesse und Feuer zugleich, im Duett mit Edith Mathis durch jene kammermusikalische Feinabstimmung der Partie, die sich dennoch keine Nuance der Artikulation entgehen ließ. Und beide Sängerinnen verloren im Verlauf der Aufführung zunehmend jene Obertöne von dramatisch aufgeladenem Pathos und führten ihre Partien jener Sphäre gläubiger Bestimmtheit zu, die hier angemessen ist.

Überwältigend, was der RIAS-Kammerchor an diesem Abend leistete; an Leichtigkeit in den Koloraturen, an Durchsichtigkeit in den polyphonen Partien, an Ausgeglichenheit der Register wird diese Aufführung so bald nicht übertroffen werden. Daß dieser Chor über viermal soviel Stimmen verfügte, wie Bach in St. Thomas und St. Nicolai zur Verfügung hatte, an diesem Abend wurde solche Stimmfülle kein Makel, sondern eher ein Plus der Aufführung, förderte die Balance zwischen chorischen und instrumentalen Ensembles. Überaus herzlicher Beifall am Ende. Gronostay und die Solisten mußten sich immer wieder zeigen, Bravorufe.

Wolfgang Burde

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