Zum Liederabend am 23. April 1978 in Düsseldorf    


     Rheinische Post, Düsseldorf, 25. April 1978     

Fischer-Dieskau sang in der Tonhalle die "Winterreise"

Schubert zwischen polaren Gegensätzen

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Fischer-Dieskau sang in der Tonhalle seine seit Jahrzehnten ungeheuer populäre "Inszenierung" der "Winterreise", die er in unablässiger Bemühung verändert, weiterentwickelt hat. Auch er, der wohl als einziger Sänger alle über 600 Lieder Schuberts gesungen und als Plattendokument fixiert hat, nahm an der Umdeutung Schuberts entschiedenen Anteil. Vor allem durch seine Sicht auf die "Winterreise". Er hat versucht, die biedermeierliche Enge des Textes von Wilhelm Müller zu sprengen und aus dem Herzeleid des verschmähten Wandergesellen ein allgemein-menschliches Drama, eine Tragödie, ein universales Leid-Symbol zu machen.

Dabei mußte er natürlich den von Schubert umrissenen dynamischen Rahmen verlassen. Er geht mit der überragenden Kunstfertigkeit eines Stimm-Virtuosen vom gehauchten Pianissimo über mezza und sotto voce bis zu einer heute fast rauhen und absolut nicht mehr "schönen" Lautstärke. Das Podium wird zum Theater, zur Weltbühne. Fischer-Dieskaus Bestreben ist es, seinem Publikum Gehalt und Sinn der Wörter und der Verse ganz, ganz deutlich zu machen, diesem Streben hat sich die Musik zu fügen.

Ob das in solchem Ausmaß erlaubt ist, darüber wird seit langer Zeit leidenschaftlich gestritten. Das Publikum in aller Welt dankt dem genialen Musiker für die Deutungshilfe. Die Verfechter eines nicht etwa konventionelleren, sondern intimeren, kammermusikalischeren Schubertgesangs weisen darauf hin, daß der Komponist sehr wohl gewußt habe, wann er ein Pianissimo oder ein Forte setzen solle, daß sich auch bei minimaler dynamischer Skala der ganze Sinn- und Gefühlsgehalt der "Winterreise" erschließen lasse und daß Fischer-Dieskaus Wiedergabe eine Über-Interpretation sei, daß seine leidenschaftliche Expressivität am innersten Wesen Schuberts, an seiner Herzlichkeit, seiner Schlichtheit und Diskretion vorbeiziele. Sie verweisen als Gegenbeispiel etwa auf Peter Pears und Benjamin Britten, die diesem dunklen schwermütigen und resignativen Zyklus das sanfte Strömen des Schubertschen Melos belassen und dennoch die hoffnungslose Verzweiflung, die Welttrauer des Werks wirksam gemacht hätten. Gewiß folgt jeder Sänger instinktiv oder bewußt dem Wortsinn und der nicht festschreibbaren Dynamik der musikalischen Verläufe, aber zwischen den Auffassungen von Fischer-Dieskau und der von Pears-Britten liegt tatsächlich eine Welt.

Nur ein ganz kleines Beispiel: Im allerletzten Lied "Der Leiermann" bleibt Pears streng im vorgeschriebenen Pianobereich, und nur bei der Schlußzeile "Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn", gibt er, ausschließlich dem Sich-Heben und –Senken der Melodie folgend, der Phrase "deine Leier" einen zarten, gleichwohl packenden Ausdruck. Fischer-Dieskau bringt hier ein ungeheures Crescendo, bei ihm geht eine Tragödie zu Ende, eine Welt geht unter. Bei Pears verschwindet ein Unglücklicher mit gesenktem Kopf im Dunkel des Nebels.

Beide Auffassungen bestehen seit Jahrzehnten nebeneinander, und bei allen Diskussionen über diese Polarität ergibt sich, daß Annäherungen der Gegensätze nicht zu erzielen sind. Sei’s drum.

Fischer-Dieskaus mit äußerster Konzentration in einem Zuge gesungene "Winterreise" schlug jedenfalls auch in der Tonhalle ein großes Auditorium in ihren Bann. Günther Weißenborn, wie vom ersten Tage des Jünglings Fischer-Dieskau sein Mentor und Mitgestalter am Klavier, ließ den unermeßlichen Reichtum seines Parts sowohl selbständig sich entfalten wie sich dem Sänger zuordnen. Nur einige allzu temperamentvolle Tempo-Beschleunigungen, denen der Sänger zustrebte, bremste er mit sanftem Nachdruck. – Riesiger, dankbarer Beifall.

A. N.

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     Düsseldorfer Nachrichten, 25. April 1978     

Lieder klingen in der Tonhalle

Fischer-Dieskau sang die "Winterreise"

   

Seit Dietrich Fischer-Dieskau nach dem Krieg als blutjunger Sänger begonnen hat, sich nicht nur Deutschlands Konzertsäle und Opernbühnen zu erobern, gilt er vielen als "der" Sachwalter deutschen Liedgesangs – ein Ruf, den die Düsseldorfer bei einem Sonder-Meisterkonzert in der (bei dieser Gelegenheit ihre Eignung auch für die oft so pianissimo-intime Liedinterpretation beweisenden) Tonhalle nachprüfen konnten.

Um es vorweg zu sagen: der Abend, mit Dieskaus aufgrund ihrer stilistischen Individualisierung nicht ganz unumstrittener Darstellung von Franz Schuberts "Winterreise", wurde zu einem Erlebnis, zumal sich das rein vokale Werkzeug des Sängers völlig intakt präsentierte, die Stimme weit frischer und gelöster klang als etwa im Oktober letzten Jahres in Wuppertal. Außerdem wies gerade diese direkte Konfrontation im Konzert nachdrücklich darauf hin, in welchem Klassenunterschiede besiegelndem Maß Fischer-Dieskau intellektuell scharfsinniger, besonnener und letztlich verantwortlicher an dieses Werk herangeht als die meisten seiner in vielen Details gedankenloseren Kollegen. Bewundernswert war da nicht allein seine atmosphärisch subtil ausgeleuchtete Charakterisierung jedes einzelnen Liedes, die immer sinnbezogener, zur Signifikation des hier niedergelegten seelischen Ausnahmezustandes notwendige Konsequenz in der Kontrastzeichnung, sondern auch die breite Palette klangfarblicher Valeurs, die zahllosen Abstufungen in der Dynamik, Agogik und Artikulation, die der Sänger zur interpretatorischen Umsetzung heranzog. Bezeichnend die Art, wie er die herb und fahl, ganz retardierend gestaltete 1. Strophe des "Lindenbaums" in den Sinnzusammenhang des ganzen Liedes stellte, wie die zerquälte Hektik des "Rückblicks", die subtilen Stimmungsumschwünge innerhalb einer einzigen melodischen Phrase in "Der greise Kopf", die sanfte, irisierende Resignation der "Täuschung", die gewaltsame Fröhlichkeit des "Muts" und schließlich die ersterbende Blässe des "Leiermanns" vermittelt wurden. Leider hatte der ein wenig unkonzentriert wirkende Günther Weissenborn dem am Flügel nicht immer gleiche Differenzierungskünste entgegenzusetzen, doch lieferte seine allemal grundsolide Begleitung immer den nötigen verläßlichen Unterbau.

Dankenswerterweise verweigerte Dietrich Fischer-Dieskau seinen begeisterten Zuhörern nach einem solchen Zyklus beharrlich jede Zugabe.

Martina Hansmann

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