Zum Liederabend am 16. November 1978 in Berlin


Tagesspiegel, Berlin,  November 1978

Die neugierigen Künstler

Fischer-Dieskau und Barenboim in der Philharmonie

In einer Laudatio auf Daniel Barenboim, die eine Schallplattenfirma als Werbetext willkommenen Dienst leistet, hebt Dietrich Fischer-Dieskau unter vielen anderen Tugenden des Pianisten und Dirigenten eine "stets wache musikalische Neugier" hervor. Der Sänger weiß, wovon er spricht, weil er selbst ein Abenteurer ist. Fischer-Dieskaus Interessantheit besteht darin - und auch sein epochaler Rang -, daß er unter den Arriviertesten im Musikbetrieb einer der Risikofreudigsten ist, ob er nun einen Komponisten wie Aribert Reimann zu dem ungeheuren Unternehmen einer "Lear"-Oper ermutigt, ob er sich als Buchautor betätigt, oder auf dem Podium den Pianisten der Weltelite begegnet. Die Deutsche Oper Berlin, in der Daniel Barenboim und Dietrich Fischer-Dieskau sich gegenwärtig mit dem Regisseur Götz Friedrich auf die "Figaro"-Premiere vorbereiten, feiert dieser Tage stolz die dreißigjährige Bühnenpräsenz des Darstellers, die von Berlin ausging. Und obwohl er viele Partien und sehr viele Lieder wiederholt gesungen hat, scheint es doch bis heute, als habe der Interpret sich niemals wiederholt.

Zum 150. Todestag Franz Schuberts haben Barenboim und Fischer-Dieskau einen kleinen Zyklus in der Philharmonie zusammengestellt, der mit dem Liederabend begann und zwei Klavierabende folgen läßt. Die Partnerschaft der beiden Künstler ist nicht so neu wie etwa die des "Gipfeltreffens" Fischer--Dieskau/Pollini im letzten Sommer. Sie atmet Vertrautheit, Harmonie und erreicht hieraus ihre ungewöhnlichen Grade der Innerlichkeit: zum Beispiel im Ausklang des "Nachtstücks" mit den Worten "Der Tod hat sich zu ihm geneigt" oder in dem Lied "Meeresstille" als gleichsam auskomponiertem Stillstand und Schweigen.

Barenboim überläßt dem Sänger meistens die Führung und geht darin mitunter (wenn er eigentlich die Melodieführung hat wie an jener Stelle im "Wanderer an den Mond") sehr weit. Aber es ist eine Ausstrahlung in der Diskretion seiner Begleitung, die immer wieder Zeichen setzt: in Bewegung, Vorbereitung, Wechsel, Umfärbung. Der dialektische Charakter des "Prometheus" etwa, mit dem der Abend großartig eröffnet wurde, erschien um so deutlicher, weil der Pianist auf seine stille Weise, den Sänger hierin gewiß anregend, die intimen, privaten Züge des zornigen Monologs herausarbeitete.

Antike,. Mensch und Tod, Naturbetrachtung, Kunst waren die thematischen Gesichtspunkte des Programms, dessen Bogen in seiner Mitte mit dem Pianissimo-Schluß von "Totengräbers Heimweh" in die Pause entließ und als Zugabe die leise Ironie des "Schönen Fischermädchens" durchaus gestattete. "Über allen Gipfeln ist Ruh": die immer noch tadellose Atemtechnik des Sängers im Dienst der Phrasierung, die Wiederholung der Schlußzeile als interpretatorische Variation.

Fischer-Dieskau heute - sein "Musensohn" tritt dem "jungen Völkchen", das er nun zwar nicht bei der Linde, aber zu seinen Füßen auf den Treppenstufen der Philharmonie findet, als Vertreter der Vätergeneration gegenüber: die Interpretation des Liedes, eher zurückgenommen als überschäumend, scheint darauf anzuspielen, bekennt sich dazu.

Sybill Mahlke


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