Zur Oper am 14. Dezember 1978 in Berlin


FAZ, 16. Dezember 1978

Mozarts "Figaro" in Berlin

Zwiespältige Szene, musikalischer Glanz

Mozarts "Le Nozze di Figaro" sind ein Inbegriff des musikdramatischen Meisterwerks. Die Glücksfälle der Kulturgeschichte, in denen Form und Inhalt kongruieren wie hier, lassen sich rasch aufzählen. Doch obendrein ist das Stück ein Wetterzeichen der Französischen Revolution. Der Antagonismus von Herr und Diener war es, der nach Beaumarchais’ Schauspiel verallgemeinert werden konnte und dem Stück zu sensationellem Erfolg verhalf. Ob er die Jahrhunderte auch ohne Mozarts Musik überdauert hätte, darf bezweifelt werden. Denn ihre unvergleichliche Kunst allein vermochte die Nuancen von Trotz, Rebellion und Klassenbewußtsein künstlerisch zu sublimieren.

Berlin hat das Werk in vielerlei Deutungen kennengelernt. Bei Otto Klemperer in der Krolloper gab es 1932 eine Inszenierung, mit der Gustaf Gründgens als Regisseur den gräflichen Kammerdiener als diskreten Agenten der bürgerlichen Revolution stilisierte. 1950 ging Walter Felsenstein einen Schritt weiter und lieh der Figur einen grimmigen, mozartfernen Fanatismus; erst kurz vor seinem Tod hat der große Regisseur diese Fehlleistung zurückgenommen und durch eine musikgetragene Deutung korrigiert.

Im Charlottenburger Haus brachte Gustav Rudolf Sellner 1963 eine "Figaro"-Inszenierung realistischer Art. Er machte dem Possengeist mißverstandener Commedia dell’arte den Garaus und ließ Figaro als aufbegehrenden Intellektuellen, Susanna als Bürgerin des dienenden Standes, Cherubino im Sinne Sören Kierkegaards als jungen Don Juan wirken.

Doch, Realismus hin, Stehgreifkomödie her: über den Wunschgeist der Inszenatoren hat allemal die Musik triumphiert und, in deren Stellvertretung, der singende Mensch. Gebt uns eine stimmlich und darstellerisch überzeugende Besetzung der elf tragenden Figuren, und das Werk wird siegen, wenn ein Dirigent und Musiker hohen Ranges am Pult steht.

Darin war die Dezember-Premiere der Deutschen Oper Berlin ein Glücksfall der seltensten Art. Der Begeisterungssturm, mit dem sie aufgenommen wurde und den endlich einmal kein Buhruf störte, hat manche Bedenken zerstreut, die sich seit Jahr und Tag gegen die Führung des Hauses richteten.

Gewiß gibt es Einwände auch gegen diesen Abend, namentlich gegen seine szenische Gestalt. Götz Friedrich ist unter den denkenden Regisseuren einer der begabtesten und konsequentesten. Fast in jedem Bild der Aufführung schockiert er den wissenden Zuschauer, um ihn dann durch Regiekünste zu versöhnen. Das beginnt mit dem unsäglichen Rahmen der Bühne, einer Supergirlande aus Tausenden von Stoffblumen, die vielleicht auf die geknickten Blüten des feudalen jus primae noctis anspielen sollen. Wenn dann der riesige Gazeschleier sich über dem Bedientenzimmer im Schloß Almaviva hebt, sieht man einen wahren Plunderhaufen aus Betten, Möbelteilen und Abfall, wie er am Tage der Hochzeit nicht mehr im Wege liegen dürfte. Und daß im zweiten Akt die Gräfin ihr Liebeslied auf einem ungeordneten Bett liegend vorträgt, rückt die ganze Figur in ein falsches Licht. Auch das grausame Schlachtenbild, das die Bühne verdeckt, wenn Figaro den Leutnant Cherubino auf sein martialisches Handwerk vorbereitet, könnte fehlen. Hübsch hingegen ist der Einfall, den Pagen statt aus dem Fenster ins Orchester springen zu lassen, um gräflicher Eifersucht zu entkommen.

Und dann die Führung der Soli und Ensembles! Da ist eine Regiekunst am Werk, der kein Mienenspiel, keine Fingerbewegung der singenden Akteure entschlüpft. Mögen manche Nuancen, namentlich in den Duettszenen der Frauen, etwas grob geraten sein: die Komik der Verwechslungen und Überraschungen hat man selten deutlicher erlebt als beim Zusammenspiel der elf Menschen, die uns hier durch die Irrgärten des tollen Tages geleiten.

Das Bühnenbild von Herbert Wernicke zeigt außer den schon bemängelten Wunderlichkeiten großräumige, konventionell ausgestattete Räume eines Barockschlosses. Die Gartenszene zum Schluß läßt die Verwechslungen und Demaskierungen nur unzulänglich erkennen. Für reizvolle seriöse und komische Kostüme haben Herbert und Ogün Wernicke gesorgt.

Mit den ersten Takten der Ouvertüre hat Daniel Barenboim Orchester und Hörer im Bann. Seine Zeitmaße geben dem Abend Feuer und Spannung. Er tritt begleitend hinter die Sänger zurück, ohne jemals anonym zu werden. Die mozartisch klein besetzte Spielmannschaft wird mit kammermusikalischer Feinheit behandelt. Die schwierigen raschen Läufe sind so makellos präzis gespielt wie die Solostellen der Bläser. Seit Karl Böhm hat kein Dirigent Mozart im Theater besser aufgeführt. Hier ist eine musikalische Potenz am Werk, die man sich in leitender Funktion für West-Berlins Oper wünschte.

Es gibt heute wohl kein Opernhaus in der Welt, das mit überwiegend eigenen, ortsansässigen Sängern den "Figaro" so aufführen kann. Da ist das gräfliche Paar. Dietrich Fischer-Dieskau hat seinen Almaviva von 1963 nochmals revidiert. Er singt ihn wahrhaft mozartisch in den Kantilenen, dramatisch in den Kraftausbrüchen, klar und exakt in der Formung der Rezitative. Dazu ist er ein Idealbild aristokratischer Männlichkeit und ein Darsteller bis in die Fingerspitzen. Julia Varadys jugendlich-ausdrucksvoller Sopran gesellt sich seinem Bariton mit beglückender Assonanz; auch sie ist in Gesellschaftskleid und Negligé gleichermaßen reizvoll anzusehen und eine Schauspielerin vieler Nuancen.

Als mutiger, intelligenter Kammerdiener steht José van Dam seiner Herrschaft gegenüber. Das "Se vuol ballare" im ersten Bild, die Szenen mit Susanna hat man musikalisch und stimmlich selten so gehört wie von diesem Figaro, der auch als Typus gegen Fischer-Dieskau gut kontrastiert. Hanna Schwarz sang und spielte den Pagen mit ausdrucksvoll tragender Stimme und aller Pubertätsanmut, die in Cherubino den künftigen Verführer von Gräfinnen, Kammerkätzchen und Gärtnerstöchtern Spaniens ahnen läßt.

Die Überraschung des Abends war Barbara Hendricks als Susanna. Die junge farbige Amerikanerin trug bei ihrem Berliner Debüt einen der stärksten Abenderfolge davon. Zierlich und leichtfüßig stand sie da, glänzende Gegenspielerin ihrer gräflichen Herrin, die vorzüglich geschulte Soubrettenstimme in der Partnerschaft mit Figaro so präzis wie im Schlafzimmer der Gräfin, wenn sie Cherubin aus dem Versteck holt. Auch an Schlagfertigkeit der Hände ließ sie zu wünschen nichts übrig. Allen Witz ihrer Darstellungskunst zeigt Patricia Johnson als Marcelline schon beim Auftritt mit Harald Stamm als ebenbürtigem Doktor Bartolo, dann in der Gerichtsszene und der großen Arie, die mit starkem Beifall aufgenommen wurde. Donald Grobe, sehr komisch in seinem geckenhaften Auftrittskostüm, ist ein bis zur Groteske lebhaft pointierender Musikmeister Basilio, Ernst Krukowski ein weinselig polternder Gärtner Antonio. Als Barbarina hat Gudrun Sieber eine liebliche Stimme und nymphenhafte Erscheinung einzusetzen. Dem stotternden Don Curzio gibt Helmut Krebs die eindringlichste Verkörperung.

Was für die solistischen Leistungen gilt, bewährt sich in noch höherem Maße für die Ensembles. Man hat die Dialogszenen, die beiden Quartette, das Septett, das von Mozart selbst besonders geliebte Sextett nach der Gerichtsszene selten besser singen und musikalisch gestalten hören als an diesem Abend. Und wo immer sich die Ensembles mit den von Walter Hagen-Groll meisterlich präparierten Chören verbanden, namentlich im Finale, war die Ohrenlust groß.

So wurde es ein Abend festlicher Art, zu dessen Glanz auch die Anwesenheit des herzlich akklamierten Bundespräsidenten Walter Scheel nicht unwesentlich beitrug. Für die Darsteller ließ der Regisseur im Garten auf der Bühne ein Büfett aufbauen, so daß die gefeierten Herren und Damen dankend ihre Gläser zum Publikum und zum Orchester heben konnten. Generalintendant Siegfried Palm kann sich über den Erfolg zum Jahresschluß 1978 freuen.

H. H. Stuckenschmidt


    

     Die Welt, 16. Dezember 1978         

"Figaros Hochzeit" – Tendenzwende an der Berliner Oper?

Fest gelassener Heiterkeit

    

Diesen Erfolg hatte die Deutsche Oper Berlin bitter nötig, und lange genug hatte die Direktion Siegfried Palm auf ihn warten lassen. Mit Mozarts "Die Hochzeit des Figaro", in der Inszenierung von Götz Friedrich in Anwesenheit des Bundespräsidenten dem Berliner Repertoire auf festliche Weise wiedergewonnen, ist nun hoffentlich endgültig die Tendenzwende erreicht, die dem Haus seinen einstigen Rang wiedergibt.

Dafür hat diesmal vor allem Daniel Barenboim gesorgt. Er stand erstmals in Deutschland am Opernpult: ein Dirigent mit sehr ausgeprägtem Stilwillen, der mit seiner Mozart-Interpretation gleichfalls eine Tendenzwende signalisiert – die Lösung von jener ausgleichenden, gelassen-serenen Heiterkeit, mit der Karl Böhm etwa über die Jahrzehnte hin Mozarts Musik dahinstrahlen ließ: ein lächelndes, leichtfüßiges Komödienmysterium der Musik, dahintänzelnd, der Welt entrückt, in überirdisch ballastlosem Behagen. Damit ist bei Barenboim gründlich Schluß.

Unter seiner Hand dunkeln die Farben ein. Er bevorzugt einen samtigen, weich getönten Mozartklang, breite, sich majestätisch aufgipfelnde Tempi, die aus dem herrlichen Andante im letzten Finale, wenn über die Komödie sich die Nacht der Liebe herniedersenkt, beinahe ein Largo machen. Dem zügigen Anlauf des Spaßes ist freilich die neue Gewichtigkeit, die Barenboim der Komödie gibt, nicht immer sehr förderlich.

Die beiden ersten Akte, die das turbulente Geschehen auf die Spitze treiben mit ihrer funkelnden, wendigen, den Vorgängern auf der Bühne nicht nur con amore, sondern auch con brio folgenden Theatermusik, bauschen sich unter Barenboims Hand eher sinfonisch auf, als straff und mit schnellen Reflexen dem Spiel einzuheizen. Erst im dritten und vierten Akt geht Barenboims interpretatorisches Konzept in aller Herrlichkeit auf: In den großen reflektierenden Arien und Ensembles, die sich aufbauen zu einer Gipfelkette musikalischer Großartigkeit, in der nun wirklich Mozarts Lieblingsstück, das Sextett der Erkennungsszene zwischen Figaro und den skurrilen Eltern, einen ganz neuen Stellenwert gewinnt.

Friedrichs Inszenierung besitzt viel fröhlichen Drall und spart auch nicht mit Pointen und echtblütigen coups de théatre. Cherubino, auf der Flucht, springt überraschend tief in den Orchestergraben; der Graf reißt einen riesigen Vorhang nieder und findet sich lustigerweise in der Galerie seiner hoheitsvoll und skurril auf ihn niederäugenden Ahnen.

Ein Starensemble trägt die Aufführung: allen voran José van Dam in der Titelpartie, ein Sänger von höchster vokaler Autorität, nun auf dem Gipfel der Kunst. Dietrich Fischer-Dieskaus Herrenhaftigkeit, ein Barissimum heutzutage (und nicht nur auf der Opernbühne), steht etwas mit der Spitzbübischkeit auf Kriegsfuß, die Friedrich der Rolle des Grafen wohl beigemischt haben will. Julia Varady, entschuldigt für Indisposition, singt dennoch ihre große Arie mit der ihr eigenen vokalen Vehemenz.

Hanna Schwarz ist ein exzellenter Cherubino, Gudrun Sieber singt reizend Barbarinas trauriges Liedchen. Harald Stamm, Helmut Krebs und Ernst Krukowski sind charakterscharf mit von der Partie. Und sänge Barbara Hendricks auch nur halb so entzückend, wie sie als Susanna herumwirbelt auf der Bühne, wäre das Glück vollkommen. Sie bleibt der niedliche schwarze Fleck im Gesicht der Aufführung: die mouche sozusagen, die (wie man weiß) den Reiz dessen, der sie trägt, mitunter durchaus noch zu steigern vermag.

Klaus Geitel


 

     Berliner Morgenpost, 16. Dezember 1978        

Götz Friedrich und Daniel Barenboim führten Mozart zum Erfolg

"Hochzeit des Figaro":
Die Deutsche Oper erlebte endlich ihren ersehnten Glücksfall

   

Umzuziehen war noch nie eine Freude, selbst nicht von einem Zimmer ins andere, und im 18. Jahrhundert kam ein solcher Umzug anscheinend einem Erdbeben gleich. So jedenfalls lehrt es Götz Friedrich in seiner Inszenierung von Mozarts "Die Hochzeit des Figaro" in der Deutschen Oper Berlin, diesem Glücksfall einer Aufführung, auf den Siegfried Palm und das Publikum lange schon lauerten - allzu lange, will es beinahe scheinen.

Doch nun ist der tumultuöse Erfolg da. Man reibt sich die schmerzenden Hände (sie schmerzen vom Applaudieren) und ölt sich die heiseren Kehlen (sie sind heiser vom Bravo-Geschrei). Rundum Jubel - und er ist höchlichst verdient.

Am Anfang freilich steht diese befremdende Katastrophe, die Susanna und ihrem Figaro beim Umzug geschah. Man hat sie anscheinend mit Sack und Pack vor die Tür gesetzt, ihr Hab und Gut hingeschüttet wie Kraut und Rüben - als habe Graf Almaviva in seiner Funktion als Regimentskommandeur (Cherubino wird es nicht leicht haben bei seiner Truppe) bei ihnen Spindkontrolle gemacht. Man kennt diese Prozedur.

Daß Friedrich auf den Siebensachen der armen jungen Leute alle Welt herumtrampeln läßt, mag angehen. Unverständlicherweise aber halten sie dabei selbst munter mit: eine inszenatorische Blindheit gegenüber Volkscharakteren, die Walter Felsenstein sicherlich das Blut in die Wangen getrieben hätte.

Überraschend auch, daß Cherubino über die Gräfin auf ihrem einsamen Lotterbett schlankweg herfallen darf. Mozarts Musik weiß nichts davon - und kann auch nichts davon wissen, da Beaumarchais erst ein Jahr nach dem Tode des Komponisten in "Die schuldige Mutter" der Gräfin ein uneheliches Kind Cherubinos andichtete. Die Gräfin Mozarts ist eben doch keine Frau Feldmarschall.

Doch abgesehen davon hat Friedrichs Inszenierung viel Witz, heitere Hinterlist, Wendigkeit. Wiederholt wartet sie auf mit prachtvollen Theatereffekten, die genußreich serviert werden. Cherubinos Fenstersprung in den Orchestergraben kommt herzlich überraschend und verlangt sicherlich von der beherzten Hanna Schwarz ein Gutteil Courage. Aber auch wie Graf Almaviva den riesigen wehenden Vorhang niederreißt, hinter dem sich die Ahnengalerie des Schlosses verbirgt, macht fröhlich Effekt. Aus ihren schweren Rahmen blicken, ironisch angesäuert, die erlauchten Vorfahren auf den Arien singenden Sündenbock nieder. Ein glänzender Einfall.

Anderes geht Friedrich nicht gleich glücklich von der Hand. Sie rutscht ihm leicht aus - vor allem wenn es ans Ohrfeigen geht. Jeder Schlag bei Friedrich schmeißt den unglückseligen Empfänger der Tachtel zu Boden wie ein Faustschlag von Cassius Clay, ausgeteilt allerdings von weiblich zierlichen Händchen.

Herrenhaftigkeit

Sehr glücklich dürfte sich auch Fischer-Dieskau nicht gefühlt haben unter Friedrichs Regie. Zum dritten Mal allein in Berlin der "Figaro"-Graf im Lauf der großartig durchsungenen Jahrzehnte, soll er nun einen Larifari-Aristokraten mimen, den Bruder Leichtfuß im Grafenfrack. Das aber kommt Fischer-Dieskaus Herrenhaftigkeit hart an. Er, der glänzende Komödiant und Charakterdarsteller, soll einen windigen Charakter mimen. Das geht nicht auf. Selten in seiner Laufbahn wirkte Fischer-Dieskau ähnlich gehemmt - wenn glücklicherweise auch nicht in seiner gesanglichen Leistung. Barenboim, der Dirigent, stand ihm offensichtlich um mehr als nur ein paar Takte näher als Friedrichs Regiekonzept.

Das Umgekehrte war bei der Susanna der Barbara Hendricks der Fall, diesem süßen Fratz, wie mit der zierlichen Schere aus schwarzem Papier zur Komödiensilhouette geschnitten.

Die Hendricks ist bezaubernd anzusehen, schmal, wie sie ist, kapriziös, schmollend wie lächelnd.

Geliebte Enttäuschung

Aber ihre Stimme reicht für die Partie nicht hin und nicht her. Sie besitzt keine klingende Mittellage, keine Tiefe - und schon gar nicht im mezzavoce. Ihre leuchtende Höhe ruht nicht auf solidem Unterbau. Gesanglich wird von ihr die Rolle zur Hälfte verschenkt - wenn sie auch über die Hälfte auf der anderen Seite einspielt. Mit einem Wort: Sie ist eine Enttäuschung, in die man sich gerne vernarrt. Das tat ein Großteil des Publikums denn auch glücklicherweise gründlich.

Figaro und Cherubino waren die Protagonisten der Aufführung: José van Dam und Hanna Schwarz. Van Dam besitzt nun eine ruhige Autorität, die sich auf eine Singkunst von höchster Eleganz stützen kann - und ein Timbre dazu, das seinesgleichen sucht auf den Bühnen der Welt. Er hat offenbar aus der anhaltenden Arbeit mit Karajan eine Menge gelernt. Er trägt seine Partie mit feinstem Schliff, gleichzeitig mit höchster Ökonomie vor: ein Meisterstreich des Belkanto.

Hanna Schwarz gibt Cherubino wuschelköpfigen Überschwang, aber gleichzeitig genau gesungene Noten. Ihre Arie wie ihre Canzone werden fein ausbalanciert und in reicher Phrasierung voller Temperament vorgetragen. Sie zu hören, macht Freude: eine junge deutsche Sängerin, von Stück zu Stück sich höher hinaufsingend in den internationalen Erfolg.

Julia Varady ist - selbst wenn sie sich noch wegen einer ausklingenden Indisposition entschuldigen lassen muß - immer fesselnd - auch wieder als Gräfin. Ihr unverwechselbares, apartes Timbre, die Energien ihres Singens, sein bohrender Ausdrucksdrang beleben alle musikalische Schönheit zusätzlich auf sehr persönliche Weise.

Großartig darf Patricia Johnson auftrumpfen. Die meist gestrichene Arie der Marzellina wird durch ihren Vortrag zum Juwel einer durchtriebenen Heiterkeit, die der Komödie musikalisch noch das Tüpfelchen auf das i setzt. Harald Stamm, Helmut Krebs, Ernst Krukowski zeichnen sicher die Randrollen. Gudrun Sieber als Barbarina läßt aufhorchen: Sie singt bezaubernd.

Der Oberzauberer aber steht mit dem Rücken zum Publikum: Daniel Barenboim, zum erstenmal in Deutschland am Opernpult, blättert "Figaros Hochzeit" neu auf, zurückgehend dabei anscheinend auf das Mozart-Bild Furtwänglers oder auch Klemperers, mit dem Barenboim immerhin einst alle Klavierkonzerte eingespielt hat. Barenboim läßt vom einfühlsam mitgehenden Orchester einen breitbrüstigen Mozart von sinfonischen Dimensionen spielen, der mitunter klingt, als sei dieser "Figaro" den ungeschriebenen Opern von Brahms zuzurechnen.

Doch Spaß beiseite: Barenboims forderndem Zugriff gelingt es, ein Mozartbild aufzurichten, das sich von Akt zu Akt stärker verdichtet und im Final-Andante, wenn die Nacht der Liebe, die Seelen harmonisierend, herniedersinkt (bevor sie in den bezaubernden Champagner-Trubel des Ausklangs hinüberschäumt), seine größtmögliche Wirkkraft entfaltet. Jubel dafür gab es an allen Ecken und Enden.

Klaus Geitel


    

     Tagesspiegel, Berlin, 16. Dezember 1978     

     Opernwelt, 2/79     

   

Glück mit Mozart

"Die Hochzeit des Figaro" an der Deutschen Oper Berlin

    

Gut Picknick! Eine Zugabe der Regie gewährt dem erfolgreichen Ensemble am Ende der Oper erste Labung auf offener Bühne. Auch der Dirigent Daniel Barenboim erhält sein wohlverdientes Glas. Und Götz Friedrich, der es schließlich dort und hier erlebt hat, daß ihm die Buhrufe nur so um die Ohren flogen, sieht sich mit seinem Team einbezogen in den einhelligen Jubel. Verdächtig für einen Regisseur seines Kalibers? Ich glaube nicht, weil Friedrich stets konkretisierend der künstlerischen Wesenswahrheit entgegenarbeitet - nicht der Provokation. Daß trotzdem - die Rede ist von gelungenen Inszenierungen, die Friedrichs Namen begründet haben - mitunter am Anfang der Rezeption der Kurzschluß stand, die schiere Unverträglichkeit, hat mit dem Schock zu tun, den die Ausgrabung von Wahrheiten auslösen kann. "Die Hochzeit des Figaro" jedenfalls, der die Premierenovationen in der Deutschen Oper Berlin galten, ist trotz des ausgebliebenen Protests keine lahme Sache.

Der Graf Almaviva, Mozarts "unsympathischste Figur"? Mir scheint, daß die Musik und Fischer-Dieskaus Interpretation gegen Wolfgang Hildesheimers Verdikt sprechen. Der "absolutistische Duodezfürst" hat immerhin eine Bürgerliche, Rosina, das mit Hilfe des "Barbiers von Sevilla" entführte Mündel des Doktor Bartolo, geheiratet und als Zeichen eines Willens, den man nur als den besten annehmen kann, das jus primae noctis für seine Person abgeschafft: ein aufgeklärter Herrscher wollte er sein und nicht so roh. Aber schwache Stunden kommen nun gerade über ihn, den Affektmenschen, und da läßt er schwerlich mit sich reden. Die Partitur zeigt ihn als Entflammten, Eifersüchtigen bis zur Lächerlichkeit, Werbenden, Betrogenen bis zur Tragik, Unverbesserlichen und Liebenden: nichts spricht dagegen, am wenigsten die Fortführung jener Melodie durch die verzeihende Gräfin, daß sein "Contessa perdono, perdono, perdono" mit dem Sext- und rührend steigernden Septimensprung den spontanen Ernst seines Empfindens reflektiert. Allerdings: Ende gut, alles ungewiß. Selbst wenn man die Seitensprünge nicht nur des Grafen, sondern auch der Gräfin, die in Beaumarchais’ Trilogie-Ergänzung "La mère coupable" enthüllt werden, für Mozarts Da-Ponte-Oper außer acht lassen muß, so zeigt diese im Grafen Almaviva eine Persönlichkeit, in der Klugheit und Anfechtung, zopfiges Zeremoniell als Haltungskorsett und vernunftwidrige Leidenschaft Kämpfe austragen; wenn er Susanna, Figaros Braut, begehrt, so zielt sein Wunsch ja nicht (oder höchstens äußerlich) auf die Wiederherstellung jenes Herrenrechts, das seinem Verstand suspekt geworden ist, sondern darauf, daß seine Neigung erwidert werde: vielleicht ist er Mozarts interessanteste Figur, eine verzweifelt menschliche jedenfalls.

Neue Einsichten

"Das Menschliche in allen seinen Abhängigkeiten" will Friedrich, mit dem Komponisten gehend, zeigen, und da gibt es in der Tat viel zu sehen, auch Neues. Zunächst die beinahe gleichberechtigte Partnerschaft der Gräfin mit ihrer mitleidenden Freundin und Zofe Susanna (worin die Musik den Regisseur immer wieder bestätigt): zwei junge Mädchen-Frauen, denen man das Verwechselspiel glaubt. Gräfin Almaviva, dargestellt und musikalisch faszinierend gesungen von Julia Varady, verleugnet nicht ihre Herkunft als kleine Rosina, kämmt sich ihre Haare selbst, hält ihrer gitarrespielenden Zofe das Notenblatt, unaufmerksam allerdings, weil sichtlich abgelenkt und affiziert vom Charme des singenden Pagen Cherubino, mit dem der Graf sie zum Glück nicht auf dem Bett rangelnd sehen kann, dem riesigen Bett, in dem sie leider wieder einmal allein aufgewacht ist. Für diese im großen Schloß von ihrem Mann viel alleingelassene Frau bietet eine empfindsame Susanna Wärme und Halt: wie selbstverständlich läßt die Gräfin das Kammermädchen an Ehrungen teilnehmen, die ihr gelten, oder rückt ihm den Stuhl zur Niederschrift des Rendezvous-Briefchens an den Grafen zurecht. Es ist ein beinahe überlegenes, natürliches Selbstbewußtsein des dritten Standes und der Jugend, das Rosina ihrem angeheirateten Adel einbringt und Susanna in ihrem Wesen zur Schau trägt: die zierliche, dunkelhäutige Amerikanerin Barbara Hendricks, gesanglich über weite Strecken reine Freude, verkörpert die zielbewußt Liebende mit aller Eindringlichkeit, handfest rabiat durchaus, wo sie Rivalität oder Untreue wittert, aber - auch im Duett mit dem Grafen, das ja gefährliches Spiel ist - ohne jede Kammerkätzchen-Attitüde. Es braucht keine ideologischen Drücker, um die fällige Emanzipation des Dienerstandes durchscheinen zu lassen.

Zeit, die paßgerechten Bühnenbilder Herbert Wernickes und Kostüme (diese entstanden unter Mitarbeit Ogün Wernickes) zu erwähnen: Susanna in seriösem langem Dunkelblau zum Beispiel, und Basilio, der geckenhafte Denunziant, der am liebsten hinter Schlafzimmertüren lauscht, rüschenbewehrt - die Extreme. Das Schloß der Almavivas ist geräumig, hat einen repräsentativen, weinrot tapezierten Saal mit Blick in den Schloßpark - hier die Pro-forma-Eröffnung des Tanzes durch die residierenden "Duodezfürsten": die Szene mit der Doppelhochzeit Figaros und seinen "zufällig" wiederentdeckten Eltern zeigt die Brüchigkeit einer Fassade, die vor allem die Gräfin so nicht aufrecht zu erhalten bereit ist.

Den Bühnenrahmen hat Wernicke mit grellbunten Blumen geschmückt, was die strengen Formen der Innenräume mit den hohen Türen betont. Zweifelhaft, ob Susanna und Figaro so bald dazu kommen werden, ihren Hausrat häuslich einzurichten, denn Matratzen, Truhen, Tücher und alles Übrige liegen vorläufig als Haufen-Environment zwischen Tür und Zimmer, den Füßen aller Besucher ausgesetzt, und das sind im Versteckspiel des ersten Aktes bekanntlich eine ganze Menge. Und ehe sich das Intrigenknäuel, in dem nicht weniger als vier versiegelte und unversiegelte anonyme oder gezeichnete Schriftstücke mehr oder minder irreführend eine Rolle spielen, nicht aufgelöst hat, dürfte Zeit zum Aufräumen für die Hochzeitsnacht rar sein.

Ein voller Erfolg

Der Regisseur zeigt auch dies: das allmähliche Aufwachen Figaros zum Gegner des Grafen, das zunächst piano keimende Mißtrauen, das aufgestaut lauernde "Se vuol ballare" - in genauer Übereinstimmung mit der Musik. José van Dam spielt keinen pfiffigen Baß-Buffo und keinen Revolutionär im Domestikenkleid, sondern einen Mann, der herausgefordert ist, sich zur Wehr zu setzen: auch hierin muß der dritte Stand sich erst üben. Versteht sich, daß Figaro mit den Frauen auf vertrauterem Fuß steht (und sich auch schon mal aufs gräfliche Bett setzt) als mit dem Chef des Hauses Almaviva. Van Dams schauspielerische und makellos hinreißende Gesangsleistung sprechen für sich - und, wie Vergleiche gelehrt haben, für den Regisseur und den Dirigenten. Mit Dietrich Fischer-Dieskau ist es eine andere Sache. Dem Künstler fällt es nicht schwer, die oben geschilderte Menschlichkeit als eine differenzierte Einsamkeit zu verkörpern, das Drama des Grafen, seine Scheintriumphe, seine Angst, sich lächerlich zu machen, seine echte Versöhnungsbereitschaft aus sich selbst zu entwickeln: das Duett mit Susanna und die folgende Arie trugen wie die dominierende Erscheinung Fischer-Dieskaus das Profil des großen Sängers.

Wie vieles an diesem Abend war Verdienst Daniel Barenboims, dieses zärtlichen, ausdrucksmächtigen Mozart-Dirigenten! Der atmosphärische Duft der Begleitung, die vielen leisen, jedoch präzisen und nicht etwa säuselnden Töne, das Aufblühen von Nebenstimmen; die Schwerelosigkeit des rokokohaften Briefduetts, das richtige flüchtig-erregte Tempo der ersten Cherubino-Arie - die Hanna Schwarz flüsternd beginnt, eine Sängerin von vielseitiger Musikalität und Spielfähigkeit: der Sprung des Pagen aus dem gräflichen Kabinett führt, zum Beispiel, in den Orchestergraben.

Die Nebenrollen, jede fest umrissen: Harald Stamm als Bartolo, mit blendend vorgetragener Arie, ein später Vater nolens volens ohne komödiantische Aufdringlichkeit. Patricia Johnson, ebensolche Mutter und vergnügte späte Braut, die sich auf der Fete einen ansäuseln und mit virtuos gespieltem Schwips ihre Arie ans donnernd applaudierende Publikum bringen darf. Donald Grobe als Charaktertenor: die menschliche Durchschnittlichkeit des Basilio komisch sublimiert. Die oft gestrichenen Arien Marcellinas und Basilios erhalten von der Regie volle Aufmerksamkeit. Das gilt auch für die Rolle des alkoholisierten Gärtners Antonio, gewöhnlich eine kleine Charge, dessen Aufbegehren Ernst Krukowski hier mehr als schwungvoll in die feinen Interieurs platzen läßt. Die sehr reizend klingende Nadelsuche der ebenso reizend aussehenden Gudrun Sieber als Barbarina findet auf der Vorderbühne statt, das heißt im Saal, dessen Wand sich hebt, um dem nächtlichen Treiben im sternenüberglänzten Garten und dem Happy-End Platz zu machen.

Freude in der Deutschen Oper über einen vollen Erfolg, der so nötig wie - durch die Wahl der Künstler - programmiert war. Die erste Aufführungsserie ist abgelaufen, weitere stehen - zum Glück unter Barenboims Leitung - in Aussicht.

Sybill Mahlke


    

     Neue Zürcher Zeitung, ? Dezember 1978        

Mozartscher Wohlklang

"Le Nozze di Figaro" an der Deutschen Oper Berlin

    

Als Inszenator der für sein analytisches Gestalten berühmte Götz Friedrich, als musikalischer Leiter Daniel Barenboim, ein Neuling unter den Operndirigenten und Debütant an diesem Haus: die Verbindung konnte mehr Regie- als Musiktheater erwarten lassen. Doch der Jubel des Premierenpublikums galt am Ende vor allem der musikalischen Deutung der subtilen Opera buffa: dem wunderbar weichen, homogenen und doch transparenten Klang des Orchesters, einem Musizieren, das die einzigartige Melodik des Werkes und die in ihr gespiegelten Emotionen in ruhigen Zeitmaßen ausschöpfte, mehr in die Tiefe als auf oberflächlichen Effekt ausgerichtet, dabei aber von großer dynamischer Flexibilität in der Begleitung der Sänger. Nur die Zerdehnung einiger Tempi und kurze Unstimmigkeiten zwischen Orchester und Solisten zeugten noch von Barenboims geringer Theatererfahrung.

Von Götz Friedrich hätte man ein einheitliches, klares Konzept erwartet, doch die musikalische Geschlossenheit der Aufführung fand szenisch keine Entsprechung. Schon die Bühnenausstattung von Herbert Wernicke wechselt den Stil von Bild zu Bild, und das riesige, grellbunte Blumengeflecht, welches das Bühnenportal einrahmt, will zu keinem ganz passen. Figaro und Susanna hat Wernicke einen Abstellraum zugedacht. Noch am Hochzeitsmorgen ist er mit Gerümpel verstellt, der die Akteure zu mühsamen kleinen Klettertouren zwingt. Ein riesiges Bett modernen Stils dominiert das Zimmer der Gräfin. Der Saal im Schlosse trumpft dann barock auf, während der Pinienhain zum zauberhaft malerischen Idyll gerät.

Die Divergenz der Bilder wird noch verstärkt durch szenische Einlagen von aufdringlich demonstrativer Absicht. Wenn Figaro den Pagen in das Kriegshandwerk einführt, entrollt sich hinter den beiden ein riesiges Schlachtenbild, die Gräfin singt ihre Liebesklage liegend und kniend auf einem zerwühlten Bett, und der Graf reißt beim Entschluß, sich an seinem Diener zu rächen, einen bühnenfüllenden Gazevorhang von der Decke, um seine Ahnengalerie zu enthüllen. Die Umsetzung des wohl als unverständlich gewerteten italienischen Textes in Bilder wird durch solche unproportionierten Effekte zu teuer erkauft.

Friedrichs eigentliche Kunst offenbart sich in der Führung und Charakterisierung der Personen, wobei er in der drastischen Komik Marcellinas (Patricia Johnson) und dem fein ziselierten Intrigantentum Don Basilios (Donald Grobe) auch die buffonesken Elemente des Werkes auskostet. Doch am meisten gelingt ihm in der Zeichnung der mehrschichtigen Charaktere, und die Sänger, die in dieser Einstudierung mitwirken, verfügen über die hohe künstlerische Gestaltungsgabe, seinen Intentionen sowohl darstellerisch wie musikalisch nachzukommen. Auffallend ist das durch die Vorgeschichte gerechtfertigte Zusammenrücken der Gräfin und des Dienerpaares. Durch den innigen, ausdrucksvollen Sopran Julia Varadys wahrt die Gräfin allerdings ihren eigenen Gefühlsbereich, während anderseits die agile, perlende Stimme von Barbara Hendricks und der satte, kultivierte, wenn auch nicht sehr markante Bariton von José van Dam eine Annäherung Susannas und Figaros an die Herrin durchaus legitimieren. Dazwischen der ungestüme, stimmlich mehr ins Leidenschaftliche als ins Graziöse tendierende Cherubino von Hanna Schwarz. Und über allen Dietrich Fischer-Dieskaus Graf: heftig und empfindsam, stolz und witzig in einem, mit je eigener gestischer und vokaler Nuance für jeden Affekt und in der Verschmelzung der vielen Facetten die natürlichste, lebendigste Figur des Abends. - Die prominente Besetzung hat allerdings eine Kehrseite: "Figaro" wird vorderhand an der Deutschen Oper nur fünfmal gespielt.

m. v.


    

     Süddeutsche Zeitung, 18. Dezember 1978         

Das Glück liegt in der Marginalie

Götz Friedrich inszenierte und Daniel Barenboim dirigierte "Figaros Hochzeit" an der Deutschen Oper Berlin

    

Ein großer, ein unbestreitbarer Erfolg, den die Deutsche Oper nach den Anfangskatastrophen der Saison dringend brauchte: der Bundespräsident im ersten Rang, die Prominenz zahlreich vertreten, dazwischen die geduldigen Besitzer der wenigen Kaufkarten - alles war auf ein Ereignis eingestellt, alles war vom Augenblick, als Daniel Barenboim ans Dirigentenpult trat, bis zu dem von Götz Friedrich gleich mitinszenierten Schlußbeifall, zum Jubel bereit. Und die Aufführung rechtfertigte die Vorschußlorbeeren voll und ganz. Ein glänzend aufeinander abgestimmtes Ensemble, bei dem jeder der Sänger sich auch als Schauspieler in seiner Rolle bewährte, ließ den altvertrauten Trubel von Beaumarchais’ "Tollem Tag" beinahe neu Wirklichkeit werden. Friedrich gewann diesem vielinszenierten Stück klug beobachtete und überraschende, noch unverbrauchte Nuancen ab; Barenboim schließlich trat vor dem Berliner Publikum mit Verve den Nachweis an, auch als Dirigent ein herausragender Interpret Mozarts zu sein. Es war eine schöne, aufregende, festlich gestimmte Aufführung.

Dennoch: Götz Friedrichs Inszenierung, aus langem Umgang mit Mozarts Oper hervorgegangen, in hundert überraschenden Details von souveräner Überlegenheit des Metiers, ergab irritierenderweise kein Ganzes. Die ersten beiden Akte entwerfen mit knappen Strichen, ganz ohne Karikatur, das Bild einer Gesellschaft in Auflösung. Das Zimmer der beiden Lieblings-Domestiken zwischen den Suiten der Herrschaft wird da so etwas wie das Sinnzeichen für die Selbstpreisgabe des Adels, der halb aus Liberalität, halb über blinden Augenblicks-Machinationen seine eigene Stellung gefährdet, der sich nicht nur bildlich aus der Mitte an den Rand drängen läßt. Beaumarchais’ höhnische Gleichung, daß die Sittenverderbnis die Herren, trotz all ihrer Machtwillkür, mit den Dienern gemein macht, steht hinter dem amourösen Treiben auf dem Grafenschloß.

Wie dort die Standespersonen ganz selbstverständlich ins Leben ihrer Dienerschaft einbrechen, taucht umgekehrt Figaro ungeniert im Schlafzimmer der Gräfin auf, die in seiner Gegenwart erst ihr Negligé überwirft, und setzt sich vertraulich zu ihr auf die Bettkante. Wie er geht Susanne unangemeldet beim Grafen ein und aus, und sogar Randfiguren wie Basilio und Marcelline stehen unversehens mitten im Salon. Im dritten und vierten Akt verliert sich, vielleicht von der Fabel mitbedingt, die genaue Beschreibung der Situation mehr und mehr an das Allgemein-Menschliche, an das Verwechselspiel der Personen und Empfindungen aus dem Geist von Mozarts Musik.

Da tritt ein zweiter Ansatz der Inszenierung hervor: Götz Friedrich sieht "Figaros Hochzeit" betont nicht als bürgerliche Satire auf den Adel, die Handelnden sind für ihn nur zum Teil Exponenten ihres Standes, sondern in aller Abhängigkeit ihrer Situationen für sich einstehende Individuen. So ist Graf Almaviva hier als ein Lebemann von liberalen Grundsätzen angelegt, der sich durch seine Leidenschaft für Susanne in Ungelegenheit und ins Unrecht bringt und der das Peinliche und Komische seiner Lage selber am bittersten empfindet. Daß er am Ende tatsächlich die Gräfin und nicht Susanne im Arm hält, scheint ihm sichtbar Erleichterung zu bringen. Auch die Gräfin soll nicht eine vernachlässigte Frau von dreißig Jahren sein, sondern ein fast unerfahrenes, sich langweilendes Mädchen, das sich an ihre Kammerzofe anschließt und erst durch den Umgang mit ihr handfestere Lebensklugheit erwirbt. So auf psychologische Differenzierung bedacht, spielt Götz Friedrich vor allem die Augenblicke breiter aus, in denen sich Leidenschaft und Empfindungen gegen die Konvention durchsetzen. Und in diesem Augenblick soll Läuterung sich begeben, bis am Ende alle verändert zu sich selber kommen.

Beide Ansätze wurden nicht zwingend Gestalt: das Zeitgemälde, vor dem sich das Menschliche der Figuren zu bewähren hat, wirkt löcherig, schon weil die großräumigen Vorhang-Prospekte aus Türen und kahlen Wänden, auf die sich der Bühnenbildner Herbert Wernicke (der auch für die zum Teil sehr geschmackvollen Kostüme zeichnet) kapriziert hat, für sich keinen Aussagewert hatten. Das Ganze könnte ebensogut in einer Suite des Waldorf-Astoria-Hotels spielen. Erst recht kommt auch der von Götz Friedrich im Programmheft skizzierte Läuterungsprozeß der Figuren gegen den burlesken Tumult nicht an. Der bestechende, aber zu kompliziert geratene Gedanke, Almaviva entdecke schließlich in der vermeintlichen Kammerzofe eine neue, zur Sinnlichkeit emanzipierte Gräfin, läßt sich nur schwer vorbereiten und in dem arg ungeordneten Durcheinander der nächtlichen Parkszene überhaupt nicht begreiflich machen: die eher verlegenen Griffe der Mannsbilder nach der Weiblichkeit sind da nur matte und undifferenzierte Körpersprache-Metaphern für Friedrichs Idee.

Die Schwierigkeiten mit einem vielgespielten Werk

Die Opernbühne duldet eben nur eine spontane Sinnfälligkeit. Dazu kommt noch eine weitere Schwierigkeit bei diesem Stück: niemand kann mehr "Die Hochzeit des Figaro" ganz aus sich heraus inszenieren, sozusagen aus dem Stand der Unschuld. Tausend Inszenierungen haben hier alle möglichen Deutungen ausgeschöpft. Da wird jeder weitere Versuch zu einem Kommentar der früheren. Der Regisseur inszeniert vom Gegeneinfall her, und das Glück liegt in der Marginalie. Und nach vielen Abwandlungen von Cherubins Sprung aus dem Fenster freut sich der Zuschauer, daß diesmal in den Orchestergraben gesprungen wird.

So hat Götz Friedrich eine offene Vorliebe für die Nebenrollen: aus Bartolos Auftrittsarie macht er - virtuose Choreographie von Mozarts Musik - eine glänzende Charakterstudie von Figaros Widersacher und von der ihm zuhörenden Marcelline. Basilio wird aus einer belanglosen Charge zu einer genau ins Stück eingepaßten Hauptfigur der Intrige, eitel und putzsüchtig - ein Malvolio der Schlüssellochgucker. Marcellines große Arie im vierten Akt, meist als bloße Füllnummer weggelassen, macht Götz Friedrich zu einem bejubelten Kabinettstück des komischen Theaters: die ausladende Kantilene und die dramatischen Koloraturen singt sich die beschwipste Marcelline selber vor und hört sich mit wachsender Freude, während sie mit ihren Händen den Tonfolgen ein gestisches Geländer baut, bei ihrer Kunstfertigkeit zu.

Das ist amüsant und gescheit in einem. Aber eine solche Nummern-Inszenierung steht andererseits quer zur geschlossenen Ausdeutung. Vollends scheint mir die Einheit der Wahrnehmung gefährdet an den beiden Stellen, wo Illusionsbrüche als ungezielte Ausrufezeichen gesetzt werden: wenn Almaviva bei dem Verdacht, von Susanne und Figaro betrogen zu sein, die jähe Wiedereinsicht in seinen Stand dadurch anschaulich macht, daß er den Gazeschleier von seiner Ahnengalerie abreißt, so läßt sich das vielleicht aus dem symbolischen Zugleich des äußeren Vorgangs und des inneren Umbruchs rechtfertigen, obwohl der platte Überraschungseffekt alle ästhetischen Hintergedanken totschlägt. Daß aber Figaros "Non più andrai" die Schilderungen des Soldatenstands für den erschreckten Cherubin und für den Zuschauer durch das Herablassen eines Schlachtenpanoramas (nach einem altertümlichen Gemälde von Charles Lebrun) verdeutlicht werden müssen, war so überflüssig wie stilwidrig, eine konsequenzlose Brutalität in einer sonst behutsamen Aufführung.

Julia Varady und Dietrich Fischer-Dieskau waren, das ließ sich leicht voraussehen, als Sänger wie als Schauspieler ein ideales Grafenpaar. Fischer-Dieskau: kein jugendlicher, leicht entflammbarer Almaviva, sondern ein gereifter, seiner Würde schmerzlich bewußter Herr von Stand, der an seiner Liebe zu Susanne leidet, der seinen Abstand zugleich wahren und aufgeben möchte. Er gestaltete diese Rolle ganz verhalten in den Komödienszenen, hielt das Parlando bis in die heftigsten Auftritte bei. Um so zwingender, ja erschreckender dann die jähen Leidenschaftsausbrüche, gipfelnd in seiner einen großen Arie, deren Wirkung leider durch den Einfall mit der Ahnengalerie zur Hälfte wieder aufgehoben wurde.

Julia Varady faszinierte, obwohl sie mit leichter, virtuos überspielter Indisposition singen mußte, durch den fremden Zauber ihrer Stimme und durch ihre atemberaubende, stets ganz dem Ausdruck zugeordnete Technik. Als sie am Ende ihrer Auftrittsarie, nach den letzten, beinahe manieriert verhauchten Tönen wie ein Häufchen Elend zusammengesunken auf ihrem zerwühlten Bett saß, war ihr und dem Regisseur die perfekte Exposition einer Rolle gelungen: Ihre Rosine ist eine nervöse, launische und unausgeglichene junge Frau, die sich nur zögernd und unschlüssig mit ihrem Stand und ihrer Umwelt arrangieren kann und der man auch die Geste der Verzeihung am Ende nicht ganz abnehmen mag.

Unverbrauchter Titelheld

Bezaubernd die junge, zu grazile Barbara Hendricks als Susanne, die sich mit Verve und Übermut im Trubel der Vewirrungen behauptete, ohne ins Klischee der Zofe zu fallen. Sie spielt die Partnerin, sogar die überlegene Partnerin ihrer Herrin. Dafür ist auch die schwärmerische Empfindsamkeit ein wichtiges Moment für die Überhöhung ihrer Rolle. Und einzig darin fehlt es Barbara Hendricks noch an einem Hauch Innigkeit. José van Dam bleibt selbst in diesem Ensemble der Titelheld. Seine herrliche Stimme und die Wandlungsfähigkeit des Ausdrucks ziehen die Zuhörer vom ersten Auftritt an in ihren Bann. Auch daß die Partie des Figaro für ihn eigentlich sehr tief liegt, verführt ihn an keiner Stelle zum Forcieren. Er bleibt in jedem Augenblick natürlich und fast selbstvergessen in seiner Rolle. Dazu vermag er den Figaro als Schauspieler ebenso vielschichtig auszudeuten wie Fischer-Dieskau den Grafen. Zur Zeit dürfte es einen besseren und überdies noch unverbrauchteren Darsteller der Rolle kaum geben. Das gleiche läßt sich auch vom Cherubin sagen, den die schlanke, knabenhaft aussehende Hanna Schwarz mit überwältigendem Schwung und wirklicher Zärtlichkeit spielte und sang. Die Nebenrollen waren mit Patricia Johnson (Marcelline), Donald Grobe (Basilio) und Harald Stamm (Dr. Bartolo) vortrefflich und komödiantisch richtig besetzt.

Die Seele des Abends und des Erfolgs aber war Daniel Barenboim, der schon mit demonstrativem Beifall empfangen wurde. Kritikaster mögen gegen die eine oder andere Unsicherheit in Einsatz oder Übergang meckern: Barenboim ist selbstverständlich kein Opernroutinier, auch ist das Orchester der Berliner Oper kein Präzisions-Instrument, und dem Dirigenten liegt ganz gewiß nicht die herrische Energie, ein Orchester mit dem ersten Ton sich zu unterwerfen. Aber was für ein Feuer, was für ein inneres Gleichmaß im Musizieren. Jede Ausdruckshaltung und jede Nuance des musikalischen Vorgangs trat mit zwangloser Deutlichkeit hervor. Die Balance der Stimmen und des Orchesters wurde einen langen Abend lang makellos durchgehalten.

Barenboim gelang, was einem Regisseur heute kaum noch gelingen kann: den "Figaro" nicht vom Rand, von der Arabeske her neu zu interpretieren, sondern die Oper so Gestalt werden zu lassen, als habe man die Musik noch nie vorher gehört. Bei aller Laune am Spielerischen, bei aller Kraft der analytischen Durchleuchtung der Fabel - am großartigsten waren immer die Augenblicke, in denen bei Mozart das Empfinden rein aus der Situation ausbricht. Die beiden Versöhnungsmomente im zweiten und vierten Akt wurden so bewegend, so glaubwürdig gestaltet, als habe Mozart hier selber am Pult gestanden.

Norbert Miller

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